Kapitel vom 18.03.1896: Eine böse Schwäche
Das Ordensleben ist ein Joch, das getragen werden, ein Gewicht, das ständig auf die Schultern der Oblaten des hl. Franz v. Sales drücken sollte. Nicht nur unser äußeres Tun, selbst unsere Gedanken werden vom Räderwerk des Ordenslebens erfasst, in Bande gelegt und lenksam gemacht. Wenn wir dieses Joch tapfer tragen, wird es uns glücklich machen. Die Hl. Schrift sagt: „Gut ist es dem Menschen, sein Joch von Jugend an zu tragen.“
Trägt man es mit Mut, ohne seiner überdrüssig zu werden und es abzuwerfen, so wird es leicht und süß. „Mein Joch ist süß und meine Bürde leicht.“ Trägt man es hingegen widerwillig, dann wird das Ordensleben, unser Zustand der Abhängigkeit, schwierig, das Joch hart und unerträglich. Die Gute Mutter sagte zu mir: „Geben Sie Gott alles ohne Vorbehalt. Haben Sie ihm alles übergeben, werden sie erfahren, dass Sie alles besitzen.“ Das ist sicher schwer in die Praxis umzusetzen. Es verlangt eine beständige Überwachung seiner selbst, bis unser ganzes Sein Gott gehört.
Machen wir uns, meine Freunde, diesen Geist zu Eigen. Nur das macht den Ordensmann aus, das macht aber auch sein Glück und seine Stärke aus. Zu diesem Zweck muss man sich an die treue Observanz klammern. Wir dürfen nicht Sklaven unserer Zügellosigkeiten und Launen werden, dürfen auch nicht unserem Eigenwillen, unseren bösen Neigungen oder einer falsch verstandenen Freiheit die Zügel übergeben, noch unseren Leidenschaften freien Lauf lassen, müssen vielmehr unter das Joch der religiösen Observanz all unser Tun und Wollen, unser ganzes Äußere wie Innere beugen.
Beginnen wir mit dem Äußeren. Ich erinnere daran, und da wende ich mich an unsere jungen Leute, die noch nicht an diese Dinge gewohnt sind, dass wir, um gute Ordensleute des hl. Franz v. Sales zu werden, die Observanz, d.h. die Regel und die Empfehlungen der Oberen in allem beobachten müssen. Auch das Stillschweigen will beachtet, Pünktlichkeit und Genauigkeit in allen religiösen Übungen gewährleitet sein, statt dass man sich in seinen Gedanken und Neigungen um sich selber dreht.
Es ist mir zu Ohren gekommen, dass einige unserer jungen Patres nicht vorsichtig in ihren Bezeichnungen zu den Schülern sind. Es kommen kleine Liebkosungen und Klapse auf die Wangen vor. Ich weiß nicht, ob es nicht sogar zu Umarmungen gekommen ist. All das, meine Freunde, ist strikte verboten. Ich sage das nicht, um euch zu beleidigen, oder zu demütigen, sondern weil es die Wahrheit gebietet. Es gibt nichts Gefährlicheres als diese Art und Weise, mit Kindern umzugehen. Der menschlichen Natur haftet dabei eine kleine Befriedigung: das ist aber eine Schwäche und zwar eine hässliche. Diese Schwäche zieht euch in eine andere hinein, und das ist äußerst unangenehm und kann leicht und schnell recht schwerwiegende Folgen haben. Glaubt mir, liebe Freunde, wenn man alt ist, hat man Erfahrungen gesammelt und ein sicheres Urteil erworben. Angenommen, ihr habt eine Zuneigung für einen Jungen. Das ist zunächst unbedeutend. Aber dieses kleine ich weiß nicht was, diese kleine Flamme riecht schlecht, riecht nach Schwefel und Hölle… Seid auf der Hut. Ich sage, es riecht schlecht. Damit will ich nicht behaupten, dass ihr in euch einen Keim tragt, der sich entwickelt und euch schlecht und verdorben machen und für immer zugrunde richten kann. Gebt also wohl Acht.
Warum hat dann der liebe Gott in mein Herz dieses Verlangen nach Liebe gelegt? Damit ihr euer Herz ihm zuwendet, großmütig, zart, abgetötet und wachsam seid, keiner anderen Liebe als der seinen Einlass zu gewähren. „Ich will euch mit den Banden Adams ziehen.“ Jawohl, lasst uns gute Ordensleute sein. Unsere Schüler müssen wir darum auf eine religiöse Weise lieben, indem wir sie im Gebet Gott anempfehlen und nie eine Befriedigung in unserer Zuneigung zu ihnen suchen. So werden wir sie zum Guten beeinflussen, statt ihnen zu schaden.
Da könnt ihr eine Beobachtung machen, die richtig ist: Denkt an eure eigene Kindheit und Jugend zurück. Da lerntet ihr Kinder und junge Leute kennen, die auf diese Weise, mit einer allzu natürlichen, gefühlsmäßigen und etwas sinnlichen Liebe geliebt wurden. Für gewöhnlich ist nichts Gutes aus ihnen geworden. Gottes Fluch haftete dieser Art Zuneigung an, und dies geschah, wie es scheint, vor allem dann, wenn es sich um Priester und Ordensleute handelte, die sich das herausnahmen. Es geht hier also um etwas Wichtiges, meine Freunde, das ihr nicht vergessen dürft. Eine kleine Vergesslichkeit zwischenhinein braucht in diesem Punkt nicht tragisch zu sein. Setzt sich aber eine feste Tendenz in dieser Richtung fest, heißt es, auf der Hut sein. Besonders bei wiederholtem Rückfall ist Gefahr im Verzug.
Tragen wir also auch auf dieser Seite, auf der Seite unserer natürlichen Neigungen, das Joch unseres Herrn. Wir sind Menschen. Unsere Natur ist zu vielen Gebrechen und Erbärmlichkeiten geneigt. Beobachten wir uns gut in dieser Fasten, töten wir uns in unseren Neigungen, in unserem Geschmack ab. Tragen wir das Joch auch in unserem ganzen Äußeren. Tragen wir die Manieren eines Ordensmannes zur Schau, ein gesammeltes Äußere, auf der Straße die Bescheidenheit der Augen. Der Bischof von Belley, Camus, erzählt, sein Freund Franz v. Sales sei ein großer Heiliger gewesen, weil er sich allein im Zimmer genau so sittsam, würdevoll und beherrscht verhielt als wäre er in der Versammlung der Bischöfe. Ihr wisst, was er angestellt hat, dieser gute Bischof Camus: Besuchte ihn Franz v. Sales im bischöflichen Palais von Belley, so beobachtete er ihn durch ein kleines Loch in der Zimmerwand. Nie sah er, dass der Heilige sich gehen ließ. Nie zeigte er sich allein anders als im Angesicht aller. Handeln wir ein bisschen wie er, meine Freunde, während dieser hl. Fastenzeit. Ich ermuntere euch nachdrücklich, euch an die Arbeit zu machen.
Welch einen besonderen Segen, welche ausnehmenden Gnaden wird euch das zuziehen! Und das wird uns auch gute Novizen und Kandidaten gewinnen. „Dem Duft deiner Salben laufen wir nach…“ Gerade dieser Duft unserer klösterlichen Tugenden zieht uns die Seelen zu.
Sagt euch also ständig vor: Ich bin Ordensmann. Alles muss bei mir für Gott geschehen und nichts für mich. Alle meine Handlungen seien für ihn getan, zu seiner Ehre, nach seinem Willen, für sein göttliches Wohlgefallen, aus Liebe zu ihm. Alles muss ich aus seinen Händen annehmen. Gerade auf diesem Weg wird man ein guter Ordensmann.
Wir stehen in der Leidenszeit unseres Herrn, einer für die Heiligung unserer Seele höchst nützliche Zeit. Schätze von Gnaden stehen uns da offen. Diese großen Erinnerungstage dürfen nicht vorübergehen, ohne in uns Spuren zurückzulassen. Die Kirche hat die Aufgabe, den Seelen die Verdienste der Erlösung zuzuwenden, als Fortsetzung der Erlösung unseres Herrn. Dieses Erlösungswerk begann mit dem Kreuzesopfer auf Golgotha und setzt sich in allem fort, was in der Kirche passiert. In der Kirche aber, wer ist denn in besonderem Maße mit diesem Erlösungswerk betraut? Der Apostel, der Priester, der Ordensmann. Begreift das, liebe Freunde! Was könnt ihr schon außerhalb dieses Erlösungswerkes sein und leisten? „Was seid ihr in die Wüste hinausgegangen zu sehen?“ fragt der Herr die Juden. „Einen haltlosen, oberflächlichen Menschen? Ein Schilfrohr, das vom Wind hin- und hergerissen wird? Einen Mann in weichlichen Kleidern, einen Mann der seine Bequemlichkeit sucht? Einen abgetöteten Menschen, der die Selbstverleugnung predigt? Ja, ich sage euch, mehr als einen Propheten.“
Beherzigt diese Wahrheit. Legt die Hand ans Werk. Fasst bei der Morgenbetrachtung den Vorsatz, wahre Ordensleute zu sein, das Joch auf eure Schultern zu nehmen, die Ketten tapfer zu tragen wie der hl. Paulus sie trug. Ja, wir sind wie er mit Ketten beladen, in den Ketten Christi, und diese Banden drücken uns von allen Seiten. Unterwerft euch darum in Gehorsam dem Direktorium. Seht nur, wie die Gute Mutter Maria Salesia sich zu unterordnen verstand: nie sah ich eine gehorsamere und treuere Seele als sie. Und gerade darin besteht die Heiligkeit, meine Freunde. Wir sind ihre Kinder und Erben. Sollte wir da auf unserem Antlitz nicht auch einige Züge unserer Mutter tragen?
Wir alle haben das gleiche Ziel So zeigen wir doch dieselbe Art zu handeln und zu urteilen! Ich sage es noch einmal: bei der Morgenbetrachtung, bei der hl. Messe, im Laufe des ganzen Tages und bei jeder einzelnen Übung solltet ihr prüfen, ob ihr vollkommen unterworfen seid. Darin besteht das ganze übernatürliche Leben. Das ist auch die Lehre des hl. Franz v. Sales wie der Guten Mutter. Das ist die ganze Wahrheit.
D.s.b.
