Kapitel vom 11.03.1896: Die Armut ist eine Rechtspflicht
Häufig sagt der hl. Franz v. Sales, man müsse guten Mut haben. Seien wir also während dieser Fastenzeit „guten Mutes“. Zeigen wir starken Mut im Gebrauch der Heiligungsmittel, und das nicht nur im Bereich unseres Geistes und Herzens, sondern auch in dem des Körpers und der äußeren Handlungen. Könnten wir doch alle die gute Gewohnheit erwerben: treu unser Direktorium zu befolgen. Würden wir nur die Gute Meinung bei all unserem Tun üben, so dass wir jederzeit dem lieben Gott etwas anzubieten hätten, vor allem die Mühe und Abtötung, die jeder Oblatenhandlung innewohnt. Damit wären wir Heilige. Dies ist das wirksamste Mittel, dahin zu gelangen. Alles würde uns darin fördern. Folgen wir dagegen unserer eigenen Natur, gehen wir vor allem der Mühe und Abtötung aus dem Weg, möchten wir uns die Befriedigung gewähren, nach denen unser Geist und Herz verlangen, so kommen wir zu nichts.
Fassen wir also den Vorsatz, während dieser Fastenzeit alle Mühe und Abtötung, die unseren Weg säumen, jedes Mal anzunehmen. So werden wir in Wahrheit Ordensleute und Oblaten. Versuchen wir es, dann werden wir schon sehen. Ich erinnere mich noch, wie ich im Kleinen Seminar war, las man uns jeden Monat die Hausordnung vor. Darin fand sich der Satz, der mich jedes Mal stark beeindruckte, dass „Friede, Freude und Glück an die gewissenhafte Befolgung dieser Hausordnung geknüpft“ sei. Gilt nicht dasselbe vom Direktorium, von der Guten Meinung, die man gewissenhaft übt? Das Beten kostet uns Opfer und ermüdet uns. Die geistige und materielle Arbeit entspricht vielleicht nicht unserem Geschmack. Der Umgang mit dem Mitmenschen ist nicht immer angenehm, sanft und leicht… Nun, das sind dann eben die Mühe und Abtötung, zu der wir „Ja“ sagen sollen.
Findet sich unter unseren Mitbrüdern einer, dessen Neigungen und Urteile uns lästig sind und missfallen, dessen Handlungsweisen uns unangebracht oder gar ungeziemend erscheinen, so wollen wir Geduld üben und es mit Duldsamkeit und Sanftmut des Geistes ertragen.
Auch unser eigenes Wesen macht uns viel zu schaffen. Wenn ich mir da vorstelle, ich wohnte mit jemand zusammen, der genau so vorginge wie ich – ob der mir wohl sympathisch wäre? Ich glaube es nicht. Das dient uns als beachtliches Kriterium, ist ein untrügliches und zuverlässiges Mittel, uns selbst richtig kennenzulernen und zu beurteilen: Was würden wir von jemand halten, der uns in allem gliche? Wir haben nun aber viel Geduld mit uns selbst. So üben wir sie doch auch gegenüber den anderen und ertragen wir sie mit Friede und Sanftmut des Geistes. Unsere Abtötung darf sich nicht auf das rein geistige Gebiet beschränken. Wir müssen das Oblatenleben recht verstehen. Wir dürfen nicht wie die Weltmenschen, nicht einmal wie die Pfarrer und Seminaristen dahin leben. Unser Leben als Ordensleute sollte vielmehr ein Leben der Mühe und Abtötung sein, in Kleidung, Nahrung und allem Übrigen. Ich möchte da nicht in die Wolken hinein predigen, meine Freunde, und keine puren Spekulationen sagen. Wir müssen in Wahrheit und in strengem Sinne die Armut üben, müssen die Armut in unserer Kleidung wie in unserem bescheidenem Mobiliar spüren. Alles, was uns zum Gehorsam dient, verdient unsere Pfleg, damit es lange Bestand hat. Nichts oder so wenig wie möglich sollten wir ausgeben, und unsere Lebensweise sollte die von Armen sein. Begnügen wir uns also mit ärmlichen Kleidern, schonen und pflegen wir sie, gehen wir sparsam mit ihnen um und tragen wir sie lange Zeit. Vielleich sagt ihr jetzt: „Sie sprechen ja doch bloß zugunsten des Generalökonomen.“ Ihr habt recht, und das ist notwendig.
Wir müssen die augenblickliche Situation wohl begreifen. Unsere Kollegien können sich kaum noch über Wasser halten, der Staat leistet für seine eigenen Gymnasien enorme Subventionen. Die Zahl unserer Internatsschüler nimmt hingegen ab, weil das öffentliche Vermögen in einer Krise steckt und immer geringer wird. Als ich in St. Quen begann, sagte man mir: „Verlangen Sie mehr! Erhöhen Sie das Pensionsgeld, oder Sie werden überhaupt niemand bekommen.“ Heute bitten mich alle um Herabsetzung des Preises. Die öffentlichen Gelder stürzen wie in einen Abgrund oder verzetteln sich überall hin. In den Kollegien aber nehmen wie überall die Ausgaben zu und die Hilfsquellen ab. Es heißt also, den Gürtel in allem enger schnallen. Dieser Gedanke mag uns helfen, die Armut zu üben.
„Selig die Armen im Geiste.“ Liebt alles, was arm ist, was Ausgaben vermeidet, was nichts kostet, was Sparsamkeit atmet und den wahrhaft Armen beweist. Ich verstehe darunter den anständigen und geziemenden Armen, nicht den Berufsarmen, der unsauber und verlottert aussieht und Verachtung verdient. Nein, das entspricht nicht unserem Geist. Alle, die über unseren Herrn geschrieben haben, berichten über die Sorgfalt, mit der offenbar das hl. Haus von Nazareth in Stand gehalten worden sein muss. Sie vergleichen die Schönheit der treuen Seele mit dieser Wohnstätte unseres Herrn. So sollen auch wir, meine Freunde, mit Leidenschaft und einmütiger Liebe die Armut und Reinlichkeit lieben. Nachlässigkeit auf diesem Gebiet ist Zeichen der Gefühlsrohheit und schlechter Erziehung. Oblaten sollten geziemend gekleidet sein, Ordnung und Sauberkeit wahren, sorgsam umgehen und lange behalten, was ihnen zum Gebrauche dient. Wir sind Arme, bedürftige Arme und von allem Losgeschälte, die außerordentlich darauf bedacht sind, das zu schonen, was Gott und die hl. Kirche ihnen anvertraut hat.
Wir sind zwar Arme, meine Freunde, aber verpflichtet, der Kommunität Hilfsquellen zu erschließen. Wir müssen uns sowohl selber für all unsere Werke interessieren, sollten aber auch andere dafür erwärmen. Ein bestimmtes Werk möchte ich eurer besonderen Sorge empfehlen: die Verbreitung der „Annales Salesiennes“, die die Kongregation bekannt machen und die uns Berufe und Hilfsquellen zuführen können. Die Zahl der Bezieher nimmt bereits zu, man liest sie mit großem Interesse, wie ich höre. Täglich erhalte ich anerkennende Äußerungen, und zwar von Leuten, die sich auf diesem Gebiet auskennen. Man rühmt sie als eine der besten Zeitschriften. Sie lassen das übliche Niveau sämtlicher Zeitschriften dieser Art hinter sich zurück. Gewiss möchte ich sie nicht vergleichen mit den wissenschaftlichen Zeitschriften wie den „Etudes“ der Patres Jesuiten. Unser Ziel ist ja nicht das gleiche. Aber die Art, die wir gewählt haben, ist genau das Richtige. Die Annales sind spannend geschrieben und literarisch wertvoll. Sie verbreiten den Geist unseres hl. Gründers sowie den der Guten Mutter. Sie halten auf dem Laufenden über die Arbeiten unserer Patres in den Missionen und in unseren Apostolatswerken. Sie gewinnen uns Sympathien. Wir sollten sie darum als unser Herzensanliegen betrachten und uns mit ihnen beschäftigen, indem wir bei jeder Gelegenheit Abonnenten zu gewinnen suchen und hin und wieder auch eine Erzählung oder eine sonstige interessante Arbeit dem Herausgeber zusenden.
Seht nur die Jesuiten an, wie keiner von ihnen je vergisst, für die „Etudes“ zu werben. Beobachtet, wie sie sich gegenseitig unterstützen, wie sie zusammenhalten. Sie gehorchen ihrem Losungswort und haben damit Recht. So erhält und vergrößert sich eine Kongregation und gewinnt Einfluss, breitet ihre guten Werke aus und erzielt bedeutsame Erfolge. Tun wir desgleichen, meine Freunde. Unter unser gesagt, dürfen wir uns durchaus manche Kleinigkeiten und liebenswürdige Neckereien untereinander erlauben, vorausgesetzt, wir gehen nicht zu weit darin. Vor den anderen aber, den Außenstehenden, werden wir uns davon wohl hüten. Empfehlen wir im Gegenteil unsere Annales Salesiennes, loben wir sie und bemühen wir uns um neue Bezieher.
Bald werden wir auch unser Priesterwerk haben. Und jeder von uns sollte ein Apostel dieses Werkes werden. In Kürze wird alles soweit geregelt sein. Dann möge jeder Mitglieder dafür ausfindig machen und anwerben. Ferner sollten wir auch für neue Einkommensquellen sorgen. Ich möchte hier auf das Beispiel der Diözese Troyes hinweisen, einer der ärmsten Diözesen Frankreichs. Das Seminar von Troyes verfügt über eine 7.000-Pfund-Rente, die ihm ein guter und vortrefflicher Priester der Gesellschaft von St. Sulpice vermacht hat. Unter uns gesagt, ein vollendetes Original, darin dürfen wir ihn nicht nachahmen. Denn er, der Sulpizianer, hat eine Stiftung zugunsten der Lazaristen gemacht. Ich besuchte ihn eines Tages, als er Oberer des Großen Seminars von Nantes war und sagte ihm: „Ich möchte gern Ihre Seminaristen sehen.“ – „Wozu denn?“ herrschte er mich an. „Sie machen es wie alle Bischöfe, die hierher kommen. Sie alle bitten mich, ihnen meine Seminaristen zu zeigen… Gar nichts werden Sie sehen. Sie können hier zu Mittag essen und das Haus besichtigen, mehr nicht.“
Und nach dem Mahl und der Hausbesichtigung wies er mir die Tür. Das also war mein Original von Drouin. Dank seiner Hilfe und der einiger anderer verfügt das Priesterseminar von Troyes über eine Stiftung für etwa 40 Studenten. Damit kann es auch für seine Professoren aufkommen. Und dabei ist Troyes, wie gesagt, eine der ärmsten Diözesen Frankreichs. Wir hingegen haben ein sehr zahlreiches Personal und können uns auf keinen Pfennig einer Stiftung stützen. Darum sind wir im Gewissen verpflichtet, uns stets darum zu kümmern. Nehmen wir darum ein reges Interesse an unserem Priesterwerk, meine Freunde. Denn gerade dafür ist es bestimmt, dass es uns Einkommensquellen verschaffe. Denkt also daran, sobald sich eine Gelegenheit in der Seelsorge, auf unseren Ausgängen, in unseren Beziehungen zu dem oder jenem bietet. Jeder gute Pfarrer, sagt man, kollektiert und heimst für das Priesterseminar ein…Ihr seht ja, wie eins der ärmsten Seminarien das Glück hatte, eine bedeutend größere Finanzhilfe ausfindig zu machen. Wir dagegen haben bedeutend größere Lasten zu tragen und überhaupt keine Geldmittel zur Verfügung. Die Oblatinnen finden ihr Auskommen, wenn man sie aus den Schulen vertreibt. Sie können nähen, in der Konfektion arbeiten, notfalls auch Hausgehilfinnen werden. Wir Oblaten dagegen verdienen nichts und sollen dennoch leben. Um Oblate zu werden, muss man lange studieren. Während dieses Studiums muss aber für Unterhalt und Kleidung gesorgt werden…
Ich sage noch einmal, meine Freunde: es ist für jeden eine Pflicht der Gerechtigkeit, daran zu denken, es dem lieben Gott im Gebet zu empfehlen und uns den Kopf zu zerbrechen, wie wir zu Einkünften kommen können. Eine umso dringendere Pflicht, als wir keinen Reservefonds haben, sondern auf Gnade und Barmherzigkeit den Ereignissen ausgeliefert sind. Nichts außerhalb unseres Hauses gehört uns. Von nichts kann man aber nicht leben.
Ich verlange ja nicht, dass die Genossenschaft reich werde. Es ist aber von zwingender Notwendigkeit, dass die Oblaten und all ihre Werke von ihrer Arbeit leben können und jedes Haus seine Leute ernähren kann. Unsere Gemeinschaft wird gedeihen, in dem Maß, als wir arbeiten und Ersparnisse zurücklegen, als wir Sorgfalt anwenden, die Gegenstände in gutem Zustande zu erhalten, die sich in unserem Gebrauch befinden. Lassen wir uns daher vom Geist der Armut und der Sparsamkeit leiten, haben wir ein bisschen das Gefühl der Selbsterhaltung und der persönlichen Würde. Dann werden wir uns auch dafür einsetzen, dass wir uns selber alles Notwendige verschaffen. Dieser Gedanke, meine Freunde, und diese Absicht, wir unserer Seele gut tun und sie im Religiösen vertiefen.
Bei den Werken der Jungmädchen konnte ich bereits diese Erfahrung machen. Dasselbe wollte ich auch für die männliche Jugend gründen, hatte aber keinen Erfolg. Das ist bedeutend schwieriger. Was ich da unternommen habe, stellt eine wahre Revolution in der Erziehung der Jungarbeiterinnen dar. Wie oft standen die Beispiele jener jungen Mädchen vor meinem Blick, die in den Arbeitshäusern eingeschlossen erzogen wurden. Während ihres ganzen Lebens trugen sie wie ein Bleigewicht das Erbe einer schlechten Erziehung, oft sogar einer Liederlichkeit mit sich herum. Waren sie durch diese Stätten gegangen, stellt man nichts Gutes mehr an ihnen fest, es ist unsichtbar geworden.
Einige Bevorzugte, die in anständigen und christlichen Familien untergebracht sind, können sich etwas unverdorben bewahren, aber es sind ziemlich wenige… Wir dagegen haben Waisenmädchen. Ich lasse sie auf ihr eigenes Konto arbeiten bereits im Alter von 6 – 7 Jahren an. So verdienen sie 1 – 2 Sous am Anfang. Sie rechnen und bekommen Freude an ihrer Arbeit. Alle oder fast alle bleiben gut und christlich. Sie haben durch ihr frühzeitiges Arbeiten erfahren, was das Leben ist. Diese kleinen Mädchen von 6 Jahren, die ihre bescheidenen Börsen haben, und sich mit eigenem Geld Kleider und Schuhe kaufen, beginnen, den Ernst des Lebens zu erfassen. Sie verstehen, dass sie sich durch ihre eigene Arbeit ihr Brot verdienen.
Meine lieben Freunde, wenn nun auch wir uns Rechenschaft ablegen über die Ausgaben, die wir machen, wenn wir versuchen, durch unsere im Geist der Armut vollzogene Arbeit diesem Aufwand zu begegnen, so wird das auch für uns ein gutes Zeichen von hoher Sittlichkeit und Heiligkeit Gott gegenüber sein.
Lasst uns also durch die rechte Führung unseres Lebens sorgsam unser Gelübde der Armut betätigen. Machen wir aus der Not eine Tugend. Zu dieser Tugend sind wir gezwungen, wir haben gar keine Wahl, sie zu vernachlässigen. Diese Notwendigkeit der Arbeitsamkeit ist eins der wichtigsten Kapitel der Moral. Vergessen wir es nicht.
Ich will euch noch eine Beobachtung mitteilen, die ich bei der Erziehung der jungen Mädchen gemacht habe. Wegen des Waisenhauses von St. Anna war ich mit Frau von Boursetty ins Geschäft gekommen. Nach ihrem Tod hoffte ich sehr, das Waisenhaus nach meinen eigenen Ideen leiten zu können. Aus diesem Grund hatte ich es ja übernommen. Frau Boursetty dagegen hatte in der Erziehung ihre eigenen Vorstellungen, die mit den meinigen nicht übereinstimmten. Sie stirbt. Das Waisenhaus geht, wie ihr wisst, in fremde Hände über. Was geschah? Mehr als die Hälfte der Mädchen sind liederliche Frauenzimmer geworden von besonderer Art. Während ihrer Erziehung machten sie höchst merkwürdige Zukunftspläne. Schon zu Lebzeiten der Frau Boursetty hatte eine von ihnen ihr ein Bild von sich geschickt – im Badekostüm! Es herrschte eine unglaubliche Schamlosigkeit und Verwilderung der Sitten. Man erzog sie nämlich wie junge Fräulein. Der Gedanke der Arbeit und einer ernsten Lebensführung existierte bei ihnen nicht.
Meine Freunde, fügen wir dieses Kapitel da unseren christlichen und klösterlichen Gewohnheiten bei, dann wird unsere Genossenschaft wachsen und gedeihen. Ja, es ist von enormer Wichtigkeit, dass ihr das ausführt, was ich da vortrage. Halten wir den Geist der Armut, der Sparsamkeit und der Arbeit hoch, der in dem Gedanken liegt: Unsere Kongregation braucht es einfach, dass man ihr auf diese Weise zu Hilfe kommt. Dann betet man dafür, betrachtet und handelt dementsprechend. Sagt dann zu euch selbst: Ich muss selber mein Brot verdienen, muss man meinem Leben etwas machen. Diese Überzeugung werdet ihr dann auch anderen einflößen. Es wird zum Grundprinzip eurer Jugenderziehung werden. Das liest man nicht in Büchern und vernimmt man schwerlich in Predigten… Wie ist die Erziehung in unserer Zeit doch oberflächlich und seicht. Was geht denn aus unseren christlichen Familien hervor? Junge Leute, die zu essen, zu trinken und vielleicht zu reiten verstehen, die aber keinen Gedanken an das Morgen haben. Sie leben nur von Nichtigkeiten, denken allein an ihre äußere Toilette, an Essen und Vergnügungen. Sie verstehen es nicht, etwas Ganzes zu sein und zu vollbringen.
D.s.b.
