Kapitelvorträge für die Oblaten 1873-1899

      

Kapitel vom 04.03.1896: Die beiden Methoden: die der Autorität und der Überzeugungskraft

Das letzte Mal habe ich euch angekündigt, dass ich auf das Thema der Unterscheidung der Geister noch einmal zurückkommen werde. Wir haben zwei Methoden festgestellt, um die Seelen zu gewinnen, um Verstand, Herz und Willen derer zu erreichen, die Gott uns schickt.

Die erste habe ich die Methode der Autorität genannt. Da geht man von sich aus, von seiner eigenen Autorität, seinem Verdienst und seinem persönlichen Einfluss: man drängt sich auf. Die andere Methode, die der Überzeugung, besteht im Gegensatz dazu in dem Bestreben, im anderen die günstige Stelle zu suchen, an der wir ihn fassen, auf seinen Verstand und Willen Einfluss nehmen können: da liegt der Ausgangspunkt nicht in uns, sondern im anderen.

Ich sagte euch, das sei die Methode unseres Herrn gewesen: er drängt sich, wenigstens für gewöhnlich, nicht auf. An den einen wandte er sich auf diesem Weg, an den zweiten auf jenem, häufig in Gleichnissen. Zu seinen Aposteln sprach er im Allgemeinen nicht in Gleichnissen. Anfangs begriffen sie nicht viel davon, während ihnen später allmählich das Verständnis unter dem Einfluss der göttlichen Gnade aufging, bis sie schließlich die ganze Wahrheit aufnehmen konnten.

Das war auch die Methode des hl. Franz v. Sales, und das muss auch die unsere werden. Sie beruht auf der Achtung der Personen und Geister, der verschiedenen Charaktere und Gemütstaten, der Umstände der Lebensweise und des Ortes, was weiß ich… Auf diesem Wege bemächtigt man sich zweifellos der Seele und des Willens, die nicht mehr ausweichen können. Seht nur die Menschen, die zum ersten Mal den hl. Franz v. Sales oder die Gute Mutter Maria M. Salesia zu begreifen beginnen: sie sind einfach entzückt. „Das ist genau das, was ich seit langem mache“, rufen sie dann aus. „Gerade das tut mir not, wie gut entspricht es doch meinen Bedürfnissen…“ Dabei ging man als genau von dem aus, was in den anderen vorhanden war, von ihren Gedanken, ihren Wünschen, ihrer Veranlagung, ihrem Urteil und ihrer Erziehung. Da konnte man sie fassen. Das ist etwas Solides und hält stand.

Um diese Unterscheidung der Geister zu erlangen, meine Freunde, brauchen wir viel gesundes Urteil. Diese Methode erfordert sicher mehr Fähigkeiten, Talente und Tugenden als die andere. Das merken wir gut bei unseren apostolischen Werken. P. Pernin nahm unlängst am Katholikenkongress des Nordens teil, in Lille. Er gab dort einen Bericht über die Organisation unserer Jungarbeiterinnenwerke in Troyes zum Besten. Viele Herren, die mit dieser Art Werken befasst sind, und zahlreiche Jesuiten waren zugegen.

Man fragte P. Pernin aus: „Wer überwacht Ihre Jungarbeiterinnen in den Werkstätten auf der Straße, beim Kommen und Gehen?“ – „Niemand“, gab P. Pernin zur Antwort, „oder vielmehr ihr eigenes Gewissen.“ – Aber ihr habt ja gar keine Chefs für je zehn Mädchen, keine Aufseherinnen, Jungbetreuerinnen und Zuträgerinnen? Das muss ja eine schreckliche Unordnung sein bei euch. Das lässt sich ja gar nicht durchführen, ohne dass man sie in Gruppen zusammenfasst. – „Und dennoch klappt es“, gab P. Pernin zurück. „Es klappt sogar ausgezeichnet. Ich gab euch oben ja die Zahlen und Resultate bekannt, die leicht nachzuprüfen sind. Unser Prinzip ist es, nicht auf dem Weg der Autorität eine Art streng gedrillte Armee aufzustellen. Wir wollen den jungen Arbeiterinnen ein Heim, eine christliche Familie schenken, wo ihr Gewissen sich entwickelt, das Verantwortungsgefühl allmählich heranwächst und ihre sichere Schutzwehr bildet.“

Nein, meine Freunde, unsere Methode ist nicht die jener Herren, die, wie es scheint, bis heute mit dem Mittel der Autorität in ihren Werken für junge Arbeiterinnen keinen Erfolg aufweisen können.

Im Grunde ist unsere Methode nichts anderes als die wissenschaftliche Methode. Es ist die Methode der Geometrie, der Wissenschaft also „mit Auszeichnung“: Die Gerade ist der kürzeste Weg von einem Punkt zum anderen. Davon geht man aus. Daraus zieht man alle Art von Folgerungen, bis hin zu den schwierigsten und kompliziertesten Problemen. Will man in der Geometrie von Konklusion zu Konklusion zum Ursprung zurückkehren, stößt man am Ausgangspunkt von allem auf den Satz, dass die Gerade die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten ist. Unsere Methode ist ebenso vernünftig wie die Geometrie. Versteht also wohl, welches euer Ausgangspunkt sein kann und soll: die Unterscheidung der Geister wird euch diesen Punkt in jeder Seele aufzuzeigen, die euch begegnet. Von diesem Punkt allgemeiner Übereinstimmung müsst ihr ausgehen, wie man in der Geometrie von einem Grundaxiom ausgeht. Dann schreitet von Folgerung zu Folgerung weiter, ohne je den Faden zu verlieren und ohne euch je, soweit das möglich ist, auf ein Gebiet vorzuwagen, wo ihr nicht mehr „Ja“ sagen könnt, ohne die verbindende Kette zu zerreißen.

Die Geister unterscheiden sich stark voneinander infolge der Erziehung, der Studien, des Milieus, in dem sie lebten oder noch leben, des Temperaments… Ja, gerade das Temperament ist ein wichtiger Faktor. Ein heißblütiges Temperament darf nicht so angefasst werden wie ein ruhiges, sanftes und langsames. Auch die Erziehung ist zu berücksichtigen. Ein Kind sah einen Vater dies oder jenes tun, hörte seine Mutter dies und das sagen. Das macht einen nachhaltigen Eindruck auf sein Gemüt, der bleibt. Wenn aber die erste Erziehung verfehlt ist, was tun, um diesen Menschen auf den rechten Weg zu bringen? Das ist eine heikle und schwierige Frage. Natürlich soll man dem Kind nicht sagen, sein Vater sei ein böser Mann und seine Mutter eine schlechte Frau. Das mag zwar der Wahrheit entsprechen, es ziemt sich aber ganz und gar nicht, dies dem Kind zu sagen… Vielmehr muss versucht werden, das Böse auf behutsame Art gutzumachen, die schlechten Eindrücke vorsichtig zu verwischen, indem man im Herzen des Kindes die Ehrfurcht vor Vater und Mutter bewahrt.

Die erste Erziehung in der Familie lässt einen tiefen Eindruck zurück. Dasselbe lässt sich aber auch von der zweiten Erziehung, der der Schule, sagen. Und darin besteht zurzeit das große Übel in Frankreich. Es gibt Lehrer, die das Kind von Jesus Christus wegziehen, um es zum Teufel zuzuführen. Diese Beute heißt es um jeden Preis der Hölle zu entreißen. Man bringt den Kindern nicht mehr bei, alles im Namen des Vaters und des Sohnes und des Hl. Geistes zu tun, man lehrt sie nicht mehr beten und flößt ihnen keine christlichen Gedanken ein, ganz im Gegenteil. Man unterweist sie nicht mehr in der Kirchengeschichte, sondern lehrt sie die Geschichten von Hunden und Katzen und von großen Verbrechern lesen. Wendet also großen Scharfsinn auf, um die Stelle ausfindig zu machen, wo ihr die Kinderseele heutzutage fassen könnt. Ja, es gilt erfinderisch zu sein, um den Punkt herausbekommen, wo ihr mit ihnen einig geht. Dann könnt ihr davon ausgehen als eurem Grundaxiom, um zu jener Folgerung aufzusteigen, wie ihr die Seele des Kindes am besten zu Gott führt.

Das also ist die ganz spezielle Mission, die sich zur gegenwärtigen Stunde den Oblaten des hl. Franz v. Sales anbietet. Das ist euer Anteil, eure Aufgabe, meine Freunde. Und diese Art vorzugehen passt ebenso gut für alle Menschen, denen ihr in euren Pfarreien, Apostolatswerken, Missionen und überall begegnet. Es ist das wahre Mittel, die Seelen zu Gott zu führen. Der hl. Paulus sagte: Allen bin ich alles geworden, um alle zu retten. Ihr müsst wie er verfahren bei euren Schülern, euren Beichtkindern, gegenüber auch den jungen Männern und Mädchen in euren Heimen, wie bei allen, mit denen ihr zu tun habt. Die Unterscheidung der Geister ist eure Basis und euer Sprungbrett, natürlich zusammen mit der Theologie. Man darf das eine nicht vom anderen trennen. Doch vergessen wir nicht, dass man ein sehr guter Theologie sein muss und es an Praxis fehlen lassen kann, vor allem an praktischem Urteil. Das erinnert an jenen guten Herrn Collet, der sich für den größten Theologen seiner Zeit und seines Landes hielt und nach eigenem Geständnis nur eine einzige alte Frau im Leben beichthörte, es aber zu keiner Absolution brachte, obwohl er sie geschlagene drei Stunden im Beichtstuhl festhielt! Beherrscht also die Theorie eurer Theologie, aber versteht auch, sie auf die Praxis anzuwenden! Mit diesem doppelten Fundament, der theologischen Wissenschaft wie auch dem guten praktischen Urteil, um euer Wissen anzuwenden, werdet ihr Erfolg haben.

Nehmen wir an, ihr habt es mit einem schwierigen Schüler zu tun. Man weiß nicht, wo man ihn anpacken kann… Irgendwo müssen wir es aber tun. Macht nur die Augen auf und studiert ihn gründlich: es kommt sicher von seinem Charakter, vielleicht auch von seiner ersten Erziehung… Vielleicht wurde dieser Jung nie, weder in der Familie noch in der Schule, richtig angefasst. Vielleicht gab man sich nicht einmal die Mühe, es auch nur zu versuchen. Macht euch also an die Arbeit. Es gibt immer irgendeine verwundbare Stelle, so schwierig es auch sein mag. Bemüht euch, diesen Angriffspunkt seines Verstandes oder Herzens ausfindig zu machen. Versucht in ihm eine gute Empfindung zu wecken… Es gibt naturnotwendig immer etwas Gutes in ihm: dieses Etwas heißt es entdecken. Und ihr werdet es finden, wenn ihr Gott darum bittet. Schließlich werdet ihr Einlass finden in diese Seele, werdet sie anrühren, ergreifen und bekehren. Ich kannte einen originellen Pfarrer, dem es nicht gelingen wollte, irgendeinen christlichen oder übernatürlichen Gedanken in die Schädel seiner Pfarrkinder zu bringen. Nichts konnte sie rühren. Nun bemerkte er, dass ihnen ein gewisser Respekt vor dem Friedhof, vor den Gräbern ihrer Eltern anhaftete. Das nahm er nun zum Ausgangspunkt, und an einem Allerheiligenfest, an dem sie zahlreich seine Kanzel umstanden, sagte er ihnen ganz ruhig: „Ihr flucht, arbeitet am Sonntag und vergesst die Gottesverehrung. Das habt ihr sicher nicht von euren alten Eltern gelernt, die gute Christen waren. Wenn ihr am Friedhof vorbeigeht, schauen euch eure Väter und Mütter an und machen große Augen… Was werden sie von euch denken?“ – „Das ist wahr, ich habe gar nicht daran gedacht!“ sagte sich jeder im Grunde seines Herzens. Sie waren gerührt, hatten Tränen in den Augen, begriffen, dass sie schlecht handelten und sich ändern mussten.

Oder habt ihr es mit einem jungen Mann, einem Mädchen, einer Familienmutter zu tun… Die Familie ist gut, hat aber gewisse Vorurteile, eine eigene Art, die Dinge zu sehen und zu beurteilen, die euch gegen den Strich geht und ganz und gar nicht in Ordnung ist. Werdet ihr sie nun vor den Kopf stoßen, indem ihr versucht, alles zu ändern, ohne einen Auftrag dafür zu haben und tut dies mehr oder weniger ungeschickt? Wollt ihr diesen Leuten etwa gewaltsam eure Ideen aufzwingen, bloß weil diese gut sind? Davor werdet ihr euch peinlich hüten. Selbst in den größten Irrtümern steckt immer ein Körnchen Wahrheit. Nehmt dieses Körnchen in der Geometrie und bemüht euch, von Problem zu Problem alle Wahrheiten, die in diesem Grundaxiom enthalten sind, abzuleiten: alles ist in allem. Dieses Mittels bediente sich auch der hl. Franz v. Sales. Selbst der liebe Gott gebraucht es, und in seinen Beziehungen zu den Menschen benutzt er kein anderes. Unser lieber Herr heilte die Krankheiten des Leibes, um jene der Seele zu erreichen. Er gab der hungernden Menge Brot, um sie zum Glauben an die hl. Eucharistie zu führen. Er tröstete die Betrübten und verhieß ihnen das Glück des Himmels. Die Menschen sind immer Menschen, begreift das wohl. Sie haben immer eine Seite, an der man sie anfassen kann, eine Stelle, schwächer als ein kleines Mädchen. Macht diese Stelle ausfindig und nehmt da eure Zuflucht.

Es gibt welche, die euch sagen werden: „Über all das lache ich, ich verachte die Menschen.“ Es gibt auch Prediger wie der kleine P. Andreas aus der Zeit Richelieus, die sich aus den Köpfen derer, die sich zu ihren Predigten drängen, nicht mehr machen als aus den Kohlköpfen ihrer Gemüsebeete. So wollen wir nie denken und reden, niemals! Im Gegenteil, wir müssen denken: alle sind wir Kinder Gottes und Brüder unseres Herrn. Alle stammen wir somit aus hochadeligem Geschlecht. Unter unseren Brüdern sind nun welche, denen diese Einsicht abgeht, die ihren göttlichen Ursprung mehr oder weniger verkennen, die dem Teufel hörig sind und infolge ihres unwürdigen Wandels für Zeit und Ewigkeit verloren gehen. Wir dürfen sie nicht gering schätzen, sollten vielmehr unser Gebet und unseren geschickten Eifer verdoppeln, um das Heil ihrer Seelen sicher zu stellen.

Von diesem Gedanken lasst uns ausgehen, liebe Freunde. Er ist sicher nicht auf dem Boden des Stolzes gewachsen. Wissen wir doch nur zu gut, dass wir, um zu dieser Erkenntnis und zu diesem Glauben zu gelangen, im Grunde gar nichts selber beigetragen haben. Es ist ein unverdientes Geschenk Gottes. Ohne die Gnade wären wir vielleicht schlimmer als sie, wären vielleicht sogar Verbrecher… Warum gibt es gegenwärtig so viele Verbrecher? Weil es weniger Priester und Ordensleute gibt, und weil viele von denen, die ihrer Berufung untreu wurden und sie verscherzten, zur Pest der Gesellschaft werden. Sie setzten ihre Intelligenz in den Dienst des Irrtums und ihren Willen in den Dienst des Bösen. Seht nur die Geschichte, die sie schreiben, und was sie unter ihren Händen wird! Schätzt ihren Wert nur richtig ein in Punkto Politik, Ehrenhaftigkeit und Sittlichkeit. Wir taugen zweifellos viel mehr, was die Intelligenz angeht, weil wir in der Wahrheit sind. Auf dem Gebiet der Sittlichkeit, weil wir in der Furcht Gottes leben, die nach dem Psalmisten der Anfang der Weisheit ist.

Wir sollen den anderen von dem Licht abgeben, das der Herr uns schenkte, demütig, weil wir ohne die Gnade schlechter wären als sie, und weil in diesem Licht, das wir in uns tragen, nichts von uns selber steckt, sondern alles von Gott ist. Damit nehmen wir eine würdige und geziemende Haltung ein. Sind ruhig im Urteil, Herr unser selbst, gütig im Reden. Wir gehen zu den Seelen, bekleidet mit einer göttlichen Sendung, als Träger der Wohltaten Gottes für seine Kinder. Zu all jenen gehen wir, die unseren Weg kreuzen und die Gott auf unsere Straße setzt. Wir nehmen sie sanft bei der Hand und führen sie zum lieben Gott. Das ist unsere Methode, meine Freunde. Und noch einmal: So müssen wir vorgehen in der Schule, im Katechismus, auf der Kanzel und im Beichtstuhl, kurzum in all unseren Beziehungen zum Nächsten.

D.s.b.