Kapitelvorträge für die Oblaten 1873-1899

      

Kapitel vom 05.02.1896: Wir müssen das Feld beackern, das der Herr uns gegeben hat

Häufig komme ich auf denselben Gedanken zurück. Verstehen wir gut, dass wir Oblaten des hl. Franz v. Sales sind. Als wir in unsere Ordensgemeinschaft eintraten, ahnten wir wohl nicht die Lebensweise, die uns erwartete. Vielleicht hatten wir keinen anderen Gedanken als: ein Ordensmann in irgendeiner Kongregation zu werden. Höchstens verspürten wir etwas Freude an der Lehre des hl. Franz v. Sales. Das mag genügen für den Anfang, für den Fortschritt ist es aber zu wenig. Nun habt ihr unser klösterliches Leben ausprobiert und erkannt, dass es etwas ganz anderes ist. Ihr wart Zeuge der allgemeinen Überzeugung derer, die uns kennen. Ihr konntet die Wirkungen feststellen, die unsere Doktrin durch die Predigt und die Seelenführung unserer Patres in den Seelen hervorbringt. Und bestimmt erkennt ihr darin eine Bestätigung der Verheißungen, die die Gute Mutter über uns gemacht hat.

Gewiss sind ja noch andere Gemeinschaften da, die auf den Namen des hl. Franz v. Sales errichtet sind und von seinem Lehrgut leben. Es gibt sogar eine große Priestergesellschaft, die des M. Chaumont, die Hunderte von Priestern und Tausende von assoziierten Damen aufweist, Töchter oder Schwestern des hl. Franz v. Sales. Unser Heiliger ist eben der Heilige unserer Epoche, er muss also an der Spitze der Bewegung marschieren, und uns den Glauben erhalten und ihn in den Seelen neu entfachen. Der Geist dieses hl. Kirchenlehrers muss diese Umwälzung hervorbringen. Aber wir müssen selbst vom Geist dieses Kirchenlehrers entzündet sein, sein Mark und sein innerstes Sein in uns tragen. Eine äußere Etikette genügt nicht. Zwar ist das auch schon etwas, führt aber nicht sehr weit.

Andere mögen mehr oder weniger von der Lehre des hl. Franz v. Sales besitzen. Es unterliegt aber keinem Zweifel, dass die Oblaten diese Lehre in ihrer Totalität ihr Eigen nennen. Die Heimsuchung hatte sie geerbt. In dieser Heimsuchung war die Gute Mutter die lebendigste und treueste Interpretin unseres Heiligen. Das hat mir Schwester Maria-Genofeva, selber eine große Heilige, oft bestätigt. Die Gute Mutter nun hat uns das Verständnis dieser Lehre und dieses Schatzes vermittelt, der der Heimsuchung anvertraut war.

Mutter Chantal bat den hl. Franz v. Sales, ein Priesterwerk ins Leben zu rufen: „Bilden Sie doch Priester aus, die so sind wie Sie und die Ihren Geist bewahren.“ 300 Jahre später sind wir gekommen, um diese Erbschaft anzutreten. Und wir sind genau zur richtigen Stunde gekommen.

In jedem Jahrhundert hat Gott für die jeweiligen Bedürfnisse verschiedene religiöse Orden gegründet, die die erkaltete Welt erwärmen und das Leben wieder dorthin bringen sollten, wo der Tod herrschte. Diese Hilfen unterscheiden sich je nach den wechselnden Bedürfnissen und Epochen. Nehmt den hl. Benedikt: seine Mönche sind Bauern oder Gelehrte. Sie bearbeiteten das Land oder studierten. Sie besiedelten die Welt der Barbaren, deren Historiker und Erzieher sie wurden. Später, als die Völker unwissend und roh wurden, und nur noch die materiellen Güter dieser Welt kennen wollten, erweckte Gott den hl. Franz v. Assisi und den hl. Dominikus, um die Herzen wieder zu erwärmen und zu beleben. Den ersten, dass er dies durch die Liebe Gottes in Armut vollbringe, den zweiten, dass er es durch Wortverkündigung und Gelehrsamkeit in göttlichen Dingen schaffe. Dem Protestantismus des 16. Jahrhunderts setzte Gott den hl. Ignatius von Loyola entgegen. Er berief jetzt also Kämpfer und Soldaten, die als Vorhut an der Spitze der Armee marschieren sollten.

Wen sendet er nun in der gegenwärtigen Stunde? Genau uns, und nichts weniger. Das müssen wir begreifen. Vollbringen wir dieses Werk nicht, werden es andere besorgen. Gott wird es an der Erfüllung seiner Absichten und seiner Pläne zur Erlösung der Welt nicht gebrechen lassen. Sehr oft hat mir die Gute Mutter versichert, dass dies seit langem im Ratschluss Gottes liege. Gott habe es seit langem vorbereitet. Es ist somit sicher.

Das also ist unsere Aufgabe. Das ist unser Schatz und unser Leben. Alles Vorgehen auf gut Glück, alles Schwanken und jede Eigenbrötlerei gilt es um jeden Preis auszumerzen. Wir müssen das Terrain bebauen, das uns übertragen wurde. Müssen das Talent, das uns anvertraut wurde, zur Geltung bringen. Bedenkt nur, was sämtliche Ordensgründer zusammen mit ihren ersten Mitarbeitern geschaffen haben! Betrachtet die Benediktiner, die Franziskaner, die Jesuiten. Alle anderen Kongregationen, die den Namen des hl. Franz v. Sales tragen, tun Gutes. Sie studieren den Heiligen, und lieben ihn. Versuchen, seine Lehre zu verstehen und zu verwirklichen. Das ist gut so. Was haben wir aber ihnen allen voraus? Sie haben kein Direktorium. Es fehlt ihnen somit das Herz seines Gedankens, seines Lebens und seines Geistes.

Wir hingegen bemühen uns, auf uns selbst das Leben des Heiligen, seine Gesinnung, seine Absichten, seine Verhaltensweise und Art zu handeln, seine ganze Seele zu übertragen und in uns Gestalt zu geben. Das ist unsere Aufgabe, unsere Amtspflicht.

Meine Freunde, das ist auch, was jedermann uns sagt. Wir haben eine sehr große Mission zu erfüllen, eine Sendung, die uns beflügeln sollte, alle Standespflichten mit peinlicher und liebender Genauigkeit zu erfüllen. Ihr seid Lehrer, Missionare: welches Amt euch immer übertragen wird, besorgt mit großer Gewissenhaftigkeit alle Amtsverrichtungen, die euch obliegen und tut es als echte Oblaten des hl. Franz v. Sales. Darauf muss alles abzielen. Möchten alle Beichtväter von dem Gedanken beseelt sein: ich muss als Oblate beichthören. Möchten alle Lehrer und Handarbeiter, ja, alle ohne Ausnahme in dieser Weise vorgehen und auf dieses Ziel hinstreben. Wir dürfen nicht meinen, weil wir vielleicht noch nicht in der Seelsorge stehen, sondern etwa Aufsicht führen müssen, ginge uns dieses Werk der Erneuerung durch den hl. Franz v. Sales nichts an. Nein, sondern diese Weise zu leben und zu sein, müssen wir uns unbedingt gewöhnen. Das ist unsere Aufgabe, das ist unsere Gabe und unsere Gnade.
Um dies solltet ihr bei euren Kommunionen, bei der hl. Messe und in euren Gebeten bitten. Von der Guten Mutter sollt ihr das erbitten. Sie sagte mir oft: „Lassen Sie Ihre Bücher beiseite und benutzen Sie das, was ich Ihnen da sage. Dann werden Sie erkennen, was daraus alles entstehen wird, denn dann haben Sie alles hingegeben, alles für den Nächsten und alles für Gott…“ Jawohl, meine Freunde, dann werdet ihr euch innerhalb der Ratschlüsse Gottes bewegen.

Was aber wird die Folge davon sein? Zunächst werden wir uns bewusst werden, dass wir zu etwas nütze sind. Außerhalb dieses authentischen Geistes des hl. Franz v. Sales sind wir nichts, denn wir können aus uns selbst nichts tun. Es ist aber unumgänglich notwendig, dass wir etwas sind und etwas vollbringen. Hier, meine Freunde, liegt das ganze Geheimnis. Wir dürfen die Gabe Gottes nicht wegwerfen, müssen sie vielmehr zur Frucht bringen. Lasst uns darum den lieben Gott inständig um Verständnis für diese Wahrheiten bitten, ein jeder für seine Obliegenheiten und seine täglichen Aufgaben. Tun wir gewissenhaft, was wir zu erledigen haben, weil es so dem göttlichen Wollen entspricht. Ein Oblate des hl. Franz v. Sales, meine Freunde, ist schon etwas, ist ein Mensch, den Gott berufen hat, an seinen Plänen mitzuarbeiten, seinen Willen und sein Wohlgefallen zu realisieren. Wir Oblaten überlassen uns rückhaltlos seinen Händen, um diesen göttlichen Willen und sein Wohlgefallen zu erfüllen. Aus welchem Grund aber? Weil wir spüren, dass wir mit unseren rein natürlichen Kräften nichts nütze sind, weil unsere eigene Person unbedeutend ist und wir aus eigenem Vermögen nichts erreichen. Im Bund mit Gott dagegen ist das etwas ganz anderes.

Bedienen wir uns deshalb jedes Dings, um uns im Geist unserer Berufung zu vertiefen und zu vervollkommnen. Alles heißt es da sich zunutze zu machen, was wir sehen, was wir tun, was wir studieren, und uns in diesem Geist bestärken.

Hüllen wir uns ganz ein in diese Dinge, die unser geistiges Eigentum sind. Ein Jesuit ist ein Jesuit. Ein Oblate muss somit ein ganzer Oblate sein. Ein Oblate darf keinem Jesuiten oder Kapuziner oder Weltmenschen gleichen. Wir dürfen keine Armut und Abtötungen üben nach Art der Kapuziner. Wir dürfen auch nicht, ob gelegen oder ungelegen, den militanten und tollkühnen Eifer eines Jesuiten an den Tag legen. Wir müssen etwas anderes sein, gehören wir doch einer anderen Familie an, entstammen einem anderen Geschlecht, haben andere Verpflichtungen. Wir sind zu besonderen Funktionen bestimmt, für eine spezielle Vorgehensweise. Wir haben eine Sondergnade, und damit auch eine Sondermission in der Welt. Betet doch jeden Tag und aus ganzem Herzen darum, ein echter Oblate zu werden.

Da liegt ein Hort, ja ein ungeheurer Schatz von Gnaden in Reserve. Und diese Gnaden werden entweder durch unsere Mittlerschaft oder durch andere ihre Wirkungen hervorbringen. Wenn der liebe Gott etwas in Angriff nimmt, führt er es auch zur Vollendung. Er verwirklicht das, was er beschlossen hat.

Nähren wir uns von diesen Gedanken, und möge das unsere Liebe zu unserem Beruf wie zu unserer Kongregation mehren.

D.s.b.