Kapitelvorträge für die Oblaten 1873-1899

      

Kapitel vom 12.06.1895: Dass ein jeder pflege, was er besonders hat

In mehreren Kapiteln sprach ich zu euch über unsere Arbeit und wie wir unser Herz in unser persönliches Tun hineinlegen sollen.

Jeder von uns hat seine eigene Art zu urteilen, hat seine eigenen Ideen und Meinungen. Euch allen muss ich sagen, dass dies Gaben Gottes sind. Diesem Antrieb zu folgen bedeutet eine treffliche Führung für unsere Seele: Löscht den Geist nicht aus, sagt der hl. Paulus. Damit will ich ausdrücken, dass jeder von uns von Gott eine eigene Seinsart, eine besondere Art des Empfindens und Urteilens empfangen hat. Diese persönliche Art und Empfindung heißt es sorgsam bewahren. Damit erreicht man etwas. Eine gute Zahl von Geistern wendet sich bestimmten Problemen zu, der Mathematik oder der wissenschaftlichen Gelehrsamkeit. So sollte jeder von uns genau erkennen, was Gott in ihn an Besonderem hineingelegt hat. Dies ist zu pflegen, nicht um Sonderstudien zu machen, die ihn von den vorgeschriebenen allgemeinen Studien fernhalten, sondern um seine eigene Seins- und Denkart zu bewahren, zu vermehren und mit Sorgfalt zu vertiefen.

Es ist ein Irrtum in den Kommunitäten zu glauben, nur wenige seien zu etwas befähigt. Ein jeder ohne Ausnahme ist zu diesem oder zu etwas anderem fähig. Die Vorgesetzten mögen diese einzelnen Begabungen wohl erkennen. Gewiss sollte jeder sich selbst misstrauen und überzeugt sein, was er da sage, sei nichts Besonderes. Und doch werdet ihr später einsehen, dass eure eigenen Worte, weil sie von euch kommen, von den anderen geschätzt werden. Man braucht also keine Angst vor sich selber zu haben. So passierte es neuerlich, dass P. B., der angeblich nichts kann und nach eigener Meinung unfähig ist, auch nur den Mund aufzumachen, … von mir den Auftrag erhielt, im Apostolatswerk St. Jean eine Ansprache über den hl. Josef zu halten. Nun, ich erkläre hier, nicht etwas gehört zu haben, was besser geschrieben, besser aufgebaut und besser vorgetragen wurde als die Predigt des P. B. über den hl. Josef. Ganz bestimmt, man kann nichts Besseres finden, nicht nur was die Sache selbst angeht, sondern auch was die äußere Form und die Anpassung an das Publikum betrifft.

Wir werden ja nicht allezeit in engen Grenzen eingezwängt sein, werden vielmehr später sehr viele Aufgaben zu erledigen haben. So möge jeder in sich zu erkennen suchen, wozu er am meisten begabt ist, damit wir jeden später auf die Laufbahn setzen, für die er besonders geschaffen scheint.

Für das Predigtwort und die Seelenführung braucht man eine Grundlage, eine allgemeine Lehre, ein Kapital an Theologie, so groß und weit, dass es für jeden Stand und Intellekt passt. Im Leben der Guten Mutter, das ich geschrieben habe, findet sich alles, was für jeden passt, für die Leitung der Priester, der Weltleute, für Ordensleute und die Lebensverhältnisse eines jeden. Darin findet ihr alles, so wie ihr im Evangelium alles vorfindet, in diesem kleinen Buch, das Männer zu Verfassern hat, die sich oft und oft wiederholen. Und doch enthält das Evangelium die ganze Theologie und alle Bibliotheken zusammen. Studiert darum das Leben der Guten Mutter Maria Salesia und lasst euch davon durchdringen. Es werde Basis und Grundstock eures Unterrichts und eurer Studien. Nicht alles ist darin ausführlich behandelt, aber es liefert euch dennoch ein Fundament, einen Kern. Predigt diese Lehre den Priestern, sie werden davon begeistert sein.

Neulich besuchte mich Frau X. und erzählte mir, die Gute Mutter habe ein großes Wunder gewirkt. Ihr Kind habe von zartestem Alter an an epileptischen Anfällen gelitten und habe sich in Lebensgefahr befunden. Alles habe man versucht, auch zum Gebet seine Zuflucht genommen wie zu den Mitteln der medizinischen Kunst, ohne Erfolg. Da habe sie dem Kind in diesen Tagen ein Bild der Guten Mutter aufgelegt, und von diesem Augenblick an hörten die Anfälle auf.

Gestern kam die Mutter des Chefingenieurs des Straßenbaus zu mir und sagte mir, wie glücklich sie sei, zusammen mit ihrer Familie die Gute Mutter zu kennen. „Wir kennen sie noch nicht lange. Aber damit kann man sein ganzes Leben mit Trost und religiösem Wissen ausfüllen.“ Wir sollten uns also tief davon durchdringen und sozusagen gegossen sein in die Form ihrer Anschauungen und Urteile. Nehmen wir ihren Geist zur Grundlage. Wir sind ja die Erben dieser Lehre, dieser Gnade, und müssen sie zur Geltung bringen. Dazu müssen wir aber auf der Höhe aller Verpflichtungen unseres Berufes stehen in der Seelenführung, im Lehrberuf, wie in den Werken des Apostolates. Darum möge jeder die Gabe erkennen, die Gott in ihn gelegt hat. Wir dürfen sicher annehmen, dass unsere Aufgaben wachsen werden. Ich stelle fest, dass alles, was die Gute Mutter angeregt hat, wächst und gedeiht.

Betrachtet die „Brüder des hl. Vinzenz v. Paul“, zu deren Gründung die Gute Mutter ihren Beitrag leistete und die nun nach anfänglichen Gründungsschwierigkeiten langsam wachsen und sich ausbreiten. Soeben übernahmen sie das apostolische Werk von H. Roussel… Alles, was sich treu an die Lehre der Guten Mutter hält, blüht und gedeiht also. Da wir nun ihre unmittelbaren Erben sind, dürfen wir nicht andere Erben aus einer Seitenlinie das ganze Erbgut verbrauchen lassen.

Ich empfehle den Novizen dringend das Studium des Lebens der Guten Mutter. Alle Anschauungen und Handlungsweisen, die darin verzeichnet sind, sollten wir zu den unsrigen machen. Wir dürfen das mit großem Vertrauen tun, denn die Gute Mutter versicherte mir, dass sie immer mit uns sei, und dasselbe hat mir der Hl. Vater bezeugt. Erfüllt also Geist und Herz mit diesen Gedanken, damit wir alle das gleiche Ziel vor Augen haben. Jeder von uns sollte vom gleichen Willen, unserer gleichen Aktivität und unserer Arbeitsweise erfüllt sein. Später kann dann jeder seine Spezialität dazutun. P. Boney hat viel Erfolg als Schriftsteller und Publizist. P.P. seinerseits hat in der Predigt seine Sporen verdient, alle haben seine Art gern und hören ihm fast mit einer Art von Neugierde zu, weil sie nie so reden hörten wie er es tut.

Unsere Lehre ist gut, Rom hat es bestätigt. Auch unsere Art zu predigen ist gut, weil sie sich von jener Schablone unterscheidet, der keiner mehr zuhört. Es gibt da eine Art und Weise, eine Predigt zu beurteilen, indem man darauf sieht, ob sie gut aufgebaut, praktisch und theologisch ist. Das ist zwar gut, aber es genügt nicht. All diese guten Dinge müssen auf einer Schüssel serviert werden, an die die Zuhörer herankommen können. Wenn ihr sie ihnen am Ende einer Stange hinreicht, wird man davon nichts nehmen. Man kann also nicht sagen, die Predigt sei gut gewesen, weil man eine geschickt zusammengestellte Imitation dargeboten hat, die niemand begriffen hat.

Seht nur, wie der hl. Thomas in seiner Summe alles gut durchdacht hat. Sämtliche Quaestiones sind in einem bündigen und dichten Stil behandelt. Nehmt nun eine Predigt von ihm zur Hand. Da weiß man nicht einmal, ob sie Theologie enthält. Da hängt er also seine Theologie an den Nagel und schreibt doch wunderbare Predigten. So finden wir tatsächlich eine Predigt über den Regenbogen zum Fest der hl. Magdalena, über die man heute lachen würde… Aber er hat andere und bessere gemacht. Bildet darum ein gutes Urteil aus. Was man schreibt, muss theologisch einwandfrei sein, vor allem was den Lehrgehalt und die Folgerichtigkeit betrifft. Es muss ein klarer Aufbau sein, aber den Bedürfnissen derer angepasst, die darin wohnen sollen…

Ihr habt eine besondere Vorliebe für dies oder jenes Gebiet. Nun, wenn eure Zuhörer merken, dass ihr etwas Liebe zu einer bestimmten Sache habt, wäre das sicher nicht schlecht. Ich hörte zwei bis drei Mal Konferenzen des P. Gratry in Paris an. Alle hatten 300 bis 400 auf einmal. Dieser P. Gratry brachte sogar wissenschaftliche Werke mit in seine Konferenzen aus der Astronomie, zitierte Plato und Homer…

Ich fasse zusammen: Jeder möge das pflegen und entfalten, wozu er sich besonders hingezogen fühlt. Mit etwas Urteilsvermögen und gründlicher Ausbildung findet man dann die Möglichkeit, ein bisschen seine eigene Persönlichkeit zu entdecken. Dazu heißt es aber, seinen eigenen Geschmack klar zu erkennen, ihn zu bewahren und zum größeren Nutzen der Genossenschaft zu lenken. Vor allem möge jeder seine Pflichtstudien gründlich betreiben und ihnen als Grundlage die Lehre der Guten Mutter unterlegen.

D.s.b.