Kapitelvorträge für die Oblaten 1873-1899

      

Kapitel vom 19.06.1895: Unsere theologische „Schule“

Ich wies darauf hin, wie jeder sich selbst studieren möge, um zu erkennen, wozu er besonders veranlagt ist. Jeder solle sich für das erwärmen, wozu er in sich eine Fähigkeit verspürt. Diese Empfehlung wiederhole ich hiermit erneut, denn nur so erreicht man etwas.

Heute glaube ich, darauf bestehen zu müssen, dass sich jeder von dem Lehrgut der Mutter Maria Salesia durchdringen lässt, das ja nur Auslegung der Lehre des hl. Franz v. Sales ist. Viele Genossenschaften bemächtigen sich der Guten Mutter: die Priester des hl. Franz v. Sales des Abbé Chaumont, die Missionare des hl. Franz v. Sales des P. Tissot in Annecy. In den großen Laieninstituten wie jenem des hl. H. Chaumont sagt man immer etwas von der Guten Mutter und legt sie aus entsprechend der Geistesart des Vortragenden. Nun, all das bewirkt Gutes und verbreitet die Hingabe und Verehrung zur Guten Mutter. Pater von Mayerhoffen erzählte mir noch dieser Tage viel von dem Vertrauen, das man der Guten Mutter entgegenbringt, wunderbare Dinge, Bekehrungen und Heilungen, die auf ihre Fürsprache geschehen. Unsere eigene Lehre, unser eigenes Unterrichten sollten wir also mit der Lehre der Guten Mutter durchtränken. Ihr seht ja, was sie an die Adresse der Weltmenschen, der Priester und Ordensleute sagt, sowie das, was sie von Gott und dem Nächsten lehrt. Ein ganz ausgefülltes Leben steht da vor uns, das sich nie verleugnet. Dieses Leben stellt aber für uns eine vortreffliche Unterrichtsquelle dar, ein ausgezeichnetes Lehrgut. Es ist wie ein Abriss der ganzen Aszetik des evangelischen Geistes, die Praxis des Evangeliums zur höchsten Vollkommenheit geführt. Diesen Lehrgehalt sollten wir uns zu Eigen machen, denn nur wenn unser Wort und unser Verhalten von diesem Geist geprägt ist, nehmen wir in der Kirche einen Sonderplatz ein. Wir werden dann von allen anerkannt, und man wird in uns auch die Gnade erkennen, dass wir diesen Geist verbreiten dürfen. Studieren wir also die Gute Mutter. Mit ihr studieren wir gleichzeitig den hl. Johannes, den hl. Franz v. Sales, den hl. Paulus, die Evangelien. In den „Gedanken der Guten Mutter“, die P.P. bald herausgeben wird, hat man eine große Arbeit geleistet, hat einen Vergleich zwischen den Aussprüchen der Guten Mutter und den Schriften des hl. Paulus, der Kirchenväter, vor allem des hl. Franz v. Sales gezogen. Darin wird aufgezeigt, wie diese Lehre durchaus nicht neu und sehr zuverlässig ist… Wenn man selbst davon durchdrungen ist, gewinnt man die Geister und Willen. Lassen wir uns darum ganz erfüllen von ihrem Leben, von ihren Grundsätzen, von ihren Aussprüchen. Versuchen wir es wenigstens, damit wir so ein vollständiger Widerhall ihrer Lehrweisheit werden. Wir stellen bei ihr ein Leben aus dem Glauben fest, was viele in Erstaunen versetzt. „Aber“, werdet ihr sagen, „dieses Leben ist ja so außergewöhnlich, sie lebt ja ganz in Gott und mit ihm zusammen!“ Ist das denn überhaupt möglich? Jawohl, es ist möglich, und das nennt man die Heiligkeit: die Heiligkeit des hl. Alfons, des hl. Ignatius, des hl. Vinzenz v. Paul. All die Abtötungen der strengen Orden hatten kein anderes Ziel als dorthin zu gelangen, die Seelen zu einem Leben mit Gott zu führen, alles von ihm anzunehmen, alles in Vereinigung mit ihm zu tun. Sobald die Menschen spüren, dass der Prediger die Gabe hat, ihnen genau zu erläutern, was die Heiligen getan haben, ihnen die Mittel an die Hand zu geben um zu tun, was diese getan, sind sie begeistert. Die Weltpriester verstehen das gut. Ungeheuer viel gäbe es da zu tun. Wir sind erst von gestern und so gering an Zahl, und doch wäre unendlich viel Gutes zu tun bei allen. Hier geht es um etwas ganz Besonderes: ein sicherer, einfacher, ebener und erleuchteter Weg, der unmittelbar die Heiligung der Seelen bewirkt.

Wir können also nicht darauf verzichten, das Leben der Guten Mutter durchzulesen, uns von dem Rechenschaft abzulegen, was sie zu diesem oder jenem Punkt sagen, was sie über unser persönliches Verhalten wie über die Leitung des Mitmenschen äußert, und dann dies alles in eine Gewohnheit zu überführen.

Die Gute Mutter ist ohne jeden Zweifel ein großes Ereignis in der Kirche. Ich bin nicht mehr jung und hatte Beziehungen zu sehr vielen Menschen. Ich gebe gerne zu, dass jeder Gutes tun will. Aber keine Lehre ist so umfassend und so gesichert wie die unsere. Nichts entspricht besser der Vernunft, dem Evangelium, dem Geist der Apostel. Wir haben da etwas ganz Komplettes vor uns, und überall spürt man da die lebendige und wirksame Gnade. Das bedeutet für uns eine große Macht. Wenn wir zu sprechen, zu führen, zu unterrichten haben, wollen wir uns an die Gute Mutter wenden, und sie um ihre Ratschläge bitten.

Jeder Orden hatte einst seine eigene theologische Lehrmeinung: die Dominikaner waren für den hl. Thomas v. Aquin, die Kapuziner für den hl. Bonaventura. Jeder hatte seine eigene Seinsart, seine Art zu urteilen, die auf ernsten und gewichtigen Beweggründen beruhte. Das nannte man die verschiedenen Schulen. Der Unterschied unserer Schule fußt auf anderweitig gewichtigen Motiven: Hier geht es nicht um eine Lehrdiskussion, eine Meinung, sondern um eine konstante Tatsache: nämlich, dass es möglich ist, die Seele auf eine ganz besondere Weise mit Gott zu verbinden. Man kann es mit der Vereinigung des hl. Johannes mit unserem Herrn, des Geschöpfes mit seinem Schöpfer vergleichen: Göttliche Tätigkeit im Bund mit der menschlichen. Das ist hohe Theologie. Die Gute Mutter hat das geschafft. In Rom hat man es zur Kenntnis genommen, und keiner fand in den Schriften der Guten Mutter etwas zu beanstanden… Das verlangt von uns eine Umwandlung unser selbst, eine Änderung unserer Seins- und Denkweise. Wir müssen uns diese Bewegung zunutze machen, uns von diesem Licht erleuchten lassen, uns an diesem Feuerherd erwärmen. Darin findet sich etwas, was man anderswo vergeblich sucht, ein äußerst kostbares Dokument, mit dem wir uns gut wappnen müssen. Pater von Mayerhoffen erzählte mir rührende Züge von der Fürsprache der Guten Mutter. Was sich aber nicht in Worten einfangen lässt, ist das Gute, das im Grunde der Seelen geschieht, der gute Wille, den diese Lehre entfacht. Mit diesem Kapital müssen wir arbeiten. Je reichere Erfahrung wir darin sammeln, umso klarer werden wir erkennen, dass es hier um eine ganz erhabene und umfassende Doktrin geht.

In der Gegenwart werden unsere Wälder von einer großen Geißel heimgesucht, der Krankheit der Tannen der Champagne. Kleine Raupen schlagen sich in großen Scharen auf diese Bäume nieder und fressen sie kahl, sodass nicht nur der Baum abstirbt. Er wird sogar vergiftet, sodass er nicht einmal mehr brennt. (Anm.: „Es muss sich dabei um den Borkenkäfer handeln.“). Man muss ihn abschneiden. Im Boden bleiben die Wurzeln stecken und er kann zu nichts mehr gebraucht werden, weil der Pflug nicht darüber geführt werden kann. Eine wahre Gottesgeißel. Die Bewohner der Champagne wurden aber auch geistig sehr schlecht und religiös unwissend, ohne Glaube und religiöse Unterweisung. Gott züchtigt sie.

In „St. Josef von den Engeln“ war der kleine Forst im Begriff, aufgefressen zu werden. Innerhalb von acht Tagen war ein Baum völlig bedeckt von den Raupen. P. Lambey erklärte, es müsse etwas geschehen. Er fand in der Sakristei Weihwasser, das einst von H. Chardot geweiht worden war. Er schüttete es auf die Tanne und zwei Tage später war keine Raupe mehr zu sehen. Täten doch alle Einwohner der Champagne dasselbe!

Ich bin überzeugt, dass nur die Oblaten die Gabe haben, den vollen Glauben wieder zum Aufblühen zu bringen. Es gibt nicht viele Ordensleute, die den Glauben bis zum Letzten betätigen…

Vom Kap habe ich gute Nachrichten. Sie verlieren dort keine Zeit, und haben guten Erfolg. Sie erringen die Sympathien der Leute, mit denen sie zusammenleben. Ist man ein guter Oblate, dann wird der liebe Gott alles, was wir berühren und tun, seinerseits anrühren und mit uns gemeinsam tun. Dann ist man sicher, dass man Erfolg hat in den von Gott gewollten Grenzen. Dafür müssen wir aber gute Oblaten sein.

D.s.b.