Kapitelvorträge für die Oblaten 1873-1899

      

Kapitel vom 15.05.1895: Wir müssen uns alle immer und ständig informieren

Das letzte Mal sprach ich von der Art und Weise, wie wir unseren Willen dirigieren und stärken sollen für unsere persönliche Heiligung, um so in uns selbst erst zu bereiten, was wir anderen geben wollen. Ich sprach zu euch also von eurer Seele, von der Seele des Oblaten. Heute möchte ich zu euch sprechen über seine Intelligenz.

Wir sind Priester und vor allem zum Dienst am Wort bestimmt, ob als Professoren, als Missionare, als Prediger oder als apostolische Männer. Um nun in diesem Dienst des Wortes Erfolg zu haben, gibt es eine Verhaltensweise, die ich euch empfehlen möchte. Zu diesem Zweck müsst ihr nämlich alles zusammentragen, was ihr hört, lest, lernt oder denkt. Nährt euren Geist ohne Unterlass und mit allem. Beschränkt euch nicht darauf, von Zeit zu Zeit eine Ansprache vorzubereiten, einige Bücher aus bestimmtem Anlass wieder durchzuarbeiten, wenn ihr die Zeit dazu habt oder die Notwendigkeit euch dazu zwingt. Dies oder jenes in Eile wie verstohlen zurechtzulegen. Ihr müsst euch vielmehr euer ganzes Leben lang vorbereiten, in jedem Augenblick eures Lebens. Das ist keine Utopie, die ich euch da vortrage. Man muss es nur tun und kommt dann zu ernsten Ergebnissen. Benutzt zu eurer Bereicherung auch eure Gebete: Gebt nur Acht, dann werdet ihr an bestimmten Tagen in euren gewöhnlichsten Gebeten, wie im „Vater unser“ oder „Gegrüßet seist du, Maria“, lichtvolle und fruchtbare Gedanken entdecken. Dein Wille geschehe… Unser tägliches Brot… Das weckt in euch einen neuartigen und guten Einfall, woran ihr vielleicht noch nie gedacht habt. Notiert euch das und bewahrt diesen Gedanken sorgfältig auf. Benutzt die Gebete eures Breviers: sucht in den Psalmen, den Lesungen und Orationen, was sich da eurem Geist und Herzen offenbart. Betet all das nicht mechanisch, wie einer, der sich nur einer lästigen Verpflichtung entledigen will. Zieht für euch selbst wie für die anderen Nutzen daraus. Das Gebet ist aber doch kein Studium, werdet ihr mir sagen… Gewiss, es bietet aber dennoch eine wertvolle Stütze. Ich habe diesbezüglich eine absolute Gewissheit. Man wird nur auf diesem Weg ein guter Prediger und Religionslehrer. Während des Brevierbetens oder des Offiziums kommt euch ein neuer, frommer Gedanke. Das ist keine Zerstreuung, sondern lediglich die Anwendung dieses oder jenes Wortes der Hl. Schrift oder der Kirche auf eure Seele oder die der anderen. Es vermittelt euch eine tiefere Einsicht in diesen oder jenen Punkt der Theologie oder der Philosophie. Es kam über euch wie wahrt es auf und lasst es Frucht tragen. Später wird euch das enorme Dienste leisten. Tragt ihr das in der Predigt vor, wird man euch gern zuhören und euch Glauben schenken, weil man solches nicht überall findet und nicht schon tausendmal gehört hat. Es ist ja keine abgedroschene Redensart, die jedermann auswendig kennt, keine ständig wiederholte und nichtssagende Redewendung, sondern etwas Neues, Fesselndes und Nützliches.

Im Brevier, im Kleinen Offizium, in den Gebeten der Kirche, in der Liturgie, könnt ihr Schätze entdecken. Erleuchtungen werdet ihr erleben. Am Palmsonntag, am Lichtmesstag, am Aschermittwoch spricht euch etwas an, beim Austeilen des Aschenkreuzes fällt euch etwas ein: schreibt es nieder, und sobald ihr über die Demut, den Tod oder die Kürze des Lebens zu predigen habt, findet ihr eure eigenen, praktischen und spannenden Gedanken vor.

Ihr braucht nicht zu meinen, zu diesem Zweck müsstet ihr aus dem Breviergebet ein Studium machen, aus dem Beten eine geistige Forschungsarbeit. Nein, betet vielmehr aus ganzem Herzen und ganz in Gott gesammelt. Ihr werdet sehen, wie euch hin und wieder so ein guter und fruchtbarer Gedanke aufsteigt. Vielleicht nur einmal am Tag, in der Woche oder gar im Monat. So unbedeutend das scheinen mag, nehmt es ernst. Denn dieser Gedanke ist etwas von eurem Persönlichsten, man hört euch gern zu und versteht euch. Was ihr da vortragt, stammt ja nicht vom ersten Besten, sondern von euch. Ist kein Echo eines anderen, sondern Widerhall einer Seele, einer Persönlichkeit. Und dies, meine Freunde, ist schon etwas, ja, es ist etwas Enormes.

Tut das also, wenn ihr die Hl. Schrift lest und ihr werdet immer Licht schöpfen. Nie hat man aufmerksam und gläubig eine Stelle der Hl. Schrift, der Briefe des hl. Paulus oder des hl. Johannes gelesen, ohne ein besonderes Licht über einen bestimmten Punkt der Moral, der Dogmatik, des geistlichen Lebens empfangen zu haben, oder über eine unserer Ordenspflichten, über eine Obliegenheit für unseren Priesterstand oder für jene, die wir zu betreuen haben. Väter, Mütter, junge Leute. Über deren Seelenzustand, über eine Gefahr, eine Sünde, eine Heimsuchung, Traurigkeit oder geistliche Freuden, Tröstungen, die Gott in schmerzlichen Stunden schickt oder sonst etwas.

Immer werdet ihr etwas finden, was Bezug auf das praktische Leben hat, was uns für morgen oder übermorgen dienen kann. Wenn ihr die Hl. Schrift lest, unterlasst es also nie, die Gedanken, die euch dabei einfallen, aufzuschreiben. Gewiss wird das so Aufgeschriebene, eure Art und Weise zu sehen und zu urteilen, nicht den Wert eines Artikels des hl. Thomas von Aquin haben. Es wird bei Philosophen nicht als Sensation empfunden werden. Wahrscheinlich kann euch sogar einmal ein Irrtum unterlaufen. Das lässt sich aber leicht wieder einrenken, wenn ihr nur auf dem Weg des Studiums und der Wissenschaft voranschreitet. Seid ihr nicht ganz sicher über die Rechtgläubigkeit eures Urteils, so befragt einfach euren Oberen oder einen Mitbruder, zu dem ihr Vertrauen habt. Sie werden eure Meinung richtigstellen, falls sie Irrtümer enthält. Auf jeden Fall habt ihr eine persönliche Arbeit von höchster Nützlichkeit geleistet.

„Aber“, werdet ihr vielleicht einwenden, „mir fällt gar nichts auf, wenn ich bete, lese, studiere…“ Nun, das ist erstaunlich und traurig… Sicher habt ihr nie ernstlich daran gedacht, etwas zu sammeln. Wenn ihr euch eines Tages entschließt, dies zu tun, kommen auch Gedanken, und im Allgemeinen ist das, was euch so einfällt, interessant und richtig. Macht nur einmal die Erfahrung. In den Gebeten, die ihr auf diese Weise verrichtet, wird euch der Geist Gottes gegenwärtig sein und ihr werdet euch nicht täuschen in euren Urteilen und Wertungen, oder aber, wenn euch wirklich ein Irrtum unterläuft, wird er nicht tragisch sein und sich mühelos beheben lassen. Und all das wird euch zu großem Vorteil gereichen.

Tag für Tag und in jedem Augenblick werdet ihr in allem, was ihr tut, unerschöpfliche Fundgrube finden: betrachtendes Gebet, Offizium, Liturgie, Hl. Schrift, Studium, Lektüre, Unterricht und alles andere wird euch zu Diensten sein, wenn ihr nicht den Hauptzweck eures Lebens, das Apostolat, aus den Augen verliert. „Geht hin und lehrt alles, was ich euch gesagt habe“, sagte der Herr zu seinen Aposteln. Er wird auch uns alles sagen, wenn wir ihm zuhören. Nicht bloß die eine oder andere Wahrheit im Besonderen, sondern alles, was wir anderen weitergeben sollen.

Diesem Amt und Wort Gottes könnt ihr überall begegnen, in eurem Amt, in euren täglichen Pflichten, bei euren Schülern. Vielleicht scheint euch das, was ich hier sage, ungewöhnlich. Es ist es aber nicht. Ich kenne einen Professor, er lebt noch, der in der augenblicklichen Stunde ein äußerst geschickter und angesehener Publizist ist. Als Professor machte er sich daran, den Charakter seiner Schüler zu studieren. Er hatte 30oder 35 in der Klasse. Er dachte an das Wort Lamartines oder Chateaubriands, ich weiß nicht, wer es war. Jeder Mensch ist ein Buch, in dem man lesen soll. So gab er sich also daran, allezeit in seinen Schülern zu lesen, achtzugeben auf ihren Charakter, ihre Art zu urteilen und zu handeln, auf ihre Neigungen, die Eigenart ihres Verstandes, ihres Willens und Gemütes. Das erwarb ihm überraschende Einsichten. 35 Schüler, das ist eine Welt im Kleinen. In diesem Studium schöpfte er solide und exakte Ideen über den Menschen, wie man sich nicht in Büchern, sondern im Leben lernt.

Auch ihr, meine Freunde, die ihr zur Leitung von Seelen berufen seid, sollt die Seelen jener studieren, die in eure Nähe kommen oder euch anvertraut sind. Studiert ihr Temperament, ihre Fähigkeiten des Willens und Herzens. Dazu seid verpflichtet. Wer 30 Menschen gut kennt, kennt das ganze Menschengeschlecht… Daran denken wir nur wenige. Es macht auf sie keinen Eindruck, oder in so geringem Maße, dass sie keine Erfahrung und kein Wissen über die Menschenherzen daraus gewinnen.

Macht eure Beobachtungen, ergründet, legt euch Rechenschaft ab über die Fähigkeiten des Verstandes und Herzens jener, die eurer Leitung übergeben sind, über den Typ ihres Temperaments, ihre Gemütsart, die Art und Weise, wie sie sehen und urteilen. Habt ihr einen gut kennengelernt, dann finden sich unter 100, die euch begegnen, vier oder fünf, die diesem einen gleichen. Das Studium also, das ihr mit dem einen angestellt habt, erleichtert euch die Kenntnis derer, die ihm ähnlich sind. Und diese werden dann staunen, dass ihr sie kennt und versteht. Sie sind aufs Angenehmste überrascht und werden gestehen: Ich habe Ihnen fast gar nichts gesagt und doch kennen Sie mich von Grund auf. Diese Seelen habt ihr damit von vornherein gewonnen, sie haben zu euch Zutrauen. Dabei habe ich stets die Erziehung, die Seelenführung und die Missionen im Auge.

Bücher wurden geschrieben über die Seelenkunde, die Unterscheidung der Geister, so wie es Bücher über Chemie gibt. Sie mögen sicher ganz nützliche Dinge enthalten, von denen ihr bei Gelegenheit profitieren könnt. Habt ihr aber lebendiges Material unter den Händen, dann gelangt ihr zweifellos zu besseren Erkenntnissen. Ja soll man denn ständig studieren? Das gewiss nicht. Nutzen ziehen sollt ihr aber von allen Gelegenheiten, die sich euch bieten, von allen Beziehungen zu dieser oder jener Gesellschaftsschicht, mit denen ihr in Kontakt kommt, um die Summe eurer kleinen Beobachtungen und Erfahrungen zu vermehren. Wie viele Menschen verschwenden eine unendliche Zeit mit tiefschürfenden Studien über irgendwelche Dinge: Chemie, Physik, Botanik. Das ist bestimmt keine verlorene Zeit, sondern Vorbedingung für wissenschaftlichen Fortschritt. Verwenden darum auch wir ein wenig unserer Zeit darauf, die verschiedenen Temperamente und die Seelen kennenzulernen und zu verstehen, uns über ihre Talente und die Anstrengungen klar zu werden, die man von ihnen verlangen kann. Sobald wir darüber Bescheid wissen, haben wir ein unfehlbares Mittel in der Hand, diese Seelen zu gewinnen, sie zu rühren, und zwar immer unter dem Gesichtspunkt des Wortes Gottes, das wir ihnen bringen wollen.

Dieses Studium gewährt uns große Vorteile, und vieles, was auf den ersten Blick keine Beziehung zur Predig hat, kann uns große Dienste leisten. Ihr seid Lehrer. Wie viel Nutzen könntet ihr schöpfen aus dem Unterrichtsstoff, aus dem Lehrbüchern in euren Händen! Schon die literarische Form derselben ist nicht zu verachten. Lernt daraus für euch den schönen Ausdruck. Erkennt und zeigt euren Schülern die geistige und vor allem die moralische Unterlegenheit der Schriftsteller, die keinen Glauben haben. Literarische Studien können also beachtliche Vorteile bieten, wenn man sie im richtigen Gesichtswinkel sieht.

Ich selbst habe einen beträchtlichen Teil meiner Theologie mit eigenen Studien und mit Unterricht in Physik, Chemie und Geometrie verbunden. Ich war Priester und konzentrierte alle meine Studien und Überlegungen auf diesen einen Punkt und nahm alles, was mir begegnete, in meinen Dienst. Ist das nicht der eigentliche Sinn der priesterlichen Studien? Stellt alles in euren Dienst! Dabei ist völlig zweitrangig, mit wem ihr zu tun habt und wo man euch hinschickt: ihr seid allzeit bereit zu sprechen und mit wem auch immer Kontakt aufzunehmen. Seid ihr stark im kanonischen Recht? Seid ihr hochgebildet? Nun, dann könnt ihr ja Generalvikar werden. Doch nein, ihr wärt ja nicht auf der Höhe eures Postens. Werdet vielmehr Professor der Naturwissenschaften, nur lasst die Finger von der Seelsorge. Denn die praktischen Dinge dieser Welt nehmt ihr nicht wahr und begreift sie nicht. Ihr staunt. Was könnt ihr schon besseres tun als brav in eurem Zimmer zu bleiben?

Ihr sollt euch bereit machen, Seelen zu führen, Seelen zu belehren, leise im Beichtstuhl, und in der Seelenführung, ganz laut dagegen im Katechismus, in der Schule und auf der Kanzel. Gewinnt eure Beute aus allem und häuft viel Stoff auf. Nur so werdet ihr ernst zu nehmende und tüchtige Männer, die gut predigen und gut handeln und den Seelen nützen. Ihr lest, studiert, hört die Lektüre an im Refektorium. Ein Vorfall, ein auffallendes Ereignis, das eine Lehre in sich trägt: notiert all das. Macht eure kleine Ausbeute, Stück für Stück, und Tag für Tag. Würdet ihr euch täglich nur eine Kleinigkeit aufschreiben, am Ende eines Jahres hättet ihr 365 Kleinigkeiten gesammelt, in zehn Jahren 3.650, wie viel erst in 50 Jahren? …

Neulich sagte ich zu euch: Seid auf eure Heiligkeit bedacht. Heute rufe ich euch zu: Unterrichtet euch, pflanzt in euren Verstand und euer Urteil all jene Schätze, auf die man nicht verzichten kann, wenn man fit sein will für den Dienst am Wort und die Führung der Seelen. Macht euch keine Sorgen, ob das, was ihr niederschreibt, ungeeignet sei, und selbst wenn dem so wäre, bliebe an der Sache eine gute Seite, deren ihr euch nicht zu schämen bräuchtet. Da fällt mir das Wort ein, das der Bischof von Autun, Msgr. Perraud, zu H. Chevalier sagte: „Die Oblaten predigen nicht, sie sprechen.“ Man kann aber nur sprechen, und zwar gut und fruchtbar, wenn man Vorrat gesammelt hat.

Nehmen wir unser ganzes Leben hindurch diese Formung unseres Geistes ebenso ernst wie die Festigung unseres Willens, wenn anders wir uns selbst und die anderen erbauen wollen. So werden wir Persönlichkeiten und können der Kirche und den Seelen nützen. Wir haben uns nicht getäuscht auf dem Weg zum Ziel, das wir verfolgen und das wir auch erreichen.

D.s.b.