Kapitelvorträge für die Oblaten 1873-1899

      

Kapitel vom 01.05.1895: Wir müssen uns mit dem hl. Franz v. Sales identifizieren

Wir haben eine hohe Aufgabe zu erfüllen. Mit unserem Eintritt in den Oblatenorden übernehmen wir schwere Verpflichtungen, schwerere als in irgendeinem andern Orden, bei den Kartäusern z.B. Die Kartäuser stehen zu dieser Stunde auf und legen sich zu jener Stunde nieder, sie singen ihr Offizium, geben sich die Disziplin: alle ihre Übungen sind genau geregelt. Bei den Jesuiten herrscht große Aktivität. Man begeistert sich, indem man an den großen Unternehmungen der Gesellschaft Jesu teilnimmt. Das stachelt an und entflammt. Vor kurzem noch sprach ich mit einer hochgestellten Persönlichkeit, die zu mir sagte: „Ah, diese Jesuiten!“ Die Gesellschaft Jesu ist für sie alles. Beobachten Sie sich unter sich. Sie genieren sich nicht, übereinander zu reden. Sobald man aber ihre Gesellschaft angreift, verbünden sie sich alle auf ihre Losungswort, um sie zu verteidigen.

So hat also jeder Orden etwas, um sich über Wasser zu halten. Und wir sollten da nichts haben? Kein Losungswort, keine hohe Idee von unserem Tun und unseren Pflichten und Aufgaben? Das darf nicht sein. Die Oblaten haben eine hohe Mission zu erfüllen, die sie nicht aus den Augen verlieren dürfen. Jedes Mal, wenn man als Oblate handelt, vollbringt man etwas Großes. Unsere Arbeit bringt ihre Wirkung hervor und trägt Frucht. Seht nur, was Fenelon Gutes in Frankreich hervorgebracht hat! Seht den hl. Franz v. Sales: Missionarsgeist ergreift ihn, bemächtigt sich seines Lebens, das sich hinopfert. Seine Losung: den Wille Gottes tun. Das muss auch unsere Devise werden: der Wille Gottes in unserer Ordensregel, im Direktorium, im Gehorsam!

So lasst uns also echte Oblaten werden, und zu diesem Zwecke schreiben wir die exakte Beobachtung der hl. Regel bis in die kleinsten Einzelheiten auf unser Panier. Wie gelangen wir aber zu dieser genauen Rechenschaft. Indem wir unser Gewissen dem eröffnen, der damit beauftragt ist.

Indem wir ihm im Einzelnen die Art und Weise offenbaren, wie wir diese Regel halten: z.B. wir machen des Morgens unser Bett schlecht, denken nicht an den lieben Gott während des Rasierens, machen eine schlechte Betrachtung, nehmen es nicht genau mit der guten Meinung… Gesteht das alles demütig! Das ist Heiligkeit. Glaubt nicht, es sei erniedrigend. Wenn ihr so handelt, tut ihr alles, was Gott getan hat, und zwar deshalb, weil ihr ein fügsames Werkzeug seines hl. Willens seid.

Der hl. Franz v. Sales sagte: „Ihr wollt Priester heranbilden. Das ist leicht gesagt. Ich selbst habe nur mit anderthalb Glück gehabt. Sobald man ihnen sagt, sie sollen auf ihren Eigenwillen verzichten, weigern sie sich. Sobald man aber so intelligente Männer findet, dass sie ihren Willen und ihre Ansichten dem Wohlgefallen Gottes opfern, an diesem Tage wird man echte Priester entdecken.“

Und diese Priester sind wir. Sehr viele Priester stehen unter der Leitung des hl. Franz v. Sales, aber es fehlt ihnen das Direktorium. Sie sind also nicht seine wahren Söhne, wie es die Oblaten sein sollen. Verstehen wir das wohl: das ist der springende Punkt. Ist das schwierig? Nein.

Meine Freunde, legt also dem Pater Rolland genaue Rechenschaft ab. Tut es gewissenhaft und legt darauf mehr Gewicht als auf alles andere. Tut es und ich verspreche euch, dass ihr gut predigen werdet, im Beichtstuhl großen Einfluss auf die Seelen ausübt und überall Gute tut. Die Gute Mutter sagte zu mir: Die Oblaten sollen unseren Herrn auf Erden wieder erstehen lassen. In ihnen wird man Gott auf Erden wandeln sehen.

Meine Freunde, ihr müsst wohl verstehen, was ihr sein wollt. Ihr wollt Oblaten werden. Ein Oblate ist kein Kapuziner, kein Kartäuser oder Jesuit. Ein Oblate ist ein Mann, der die Lehre des hl. Franz v. Sales von einem Ende bis zum anderen bejaht und praktiziert. Wir haben von Rom approbierte Satzungen, die uns auf das Niveau der großen Orden erheben. Ihnen müssen wir folgen. Ein Oblate ist also ein Mann, der sein Direktorium lebt. Mit solchen Männern kann man machen, was man will: sie werden gute Professoren sein, erleuchtete Seelenführer, klug in der Leitung der Seelen. Aus solch einem Mann kann man einen Prediger machen, und einen tüchtigen dazu. Sollte er denn kein guter Redner sein, wenn er ein guter Oblate ist und in seinem Unterricht sich an das hält, was man ihm überlieferte? Er wird in vollendeter Weise unterrichten. Jeder, ob groß oder klein, wird ihm lauschen und ihn köstlich finden. Denn in der Lehre des hl. Franz v. Sales finden sich so treffende Dinge, solche Delikatessen, wie man sie anderswo vergeblich suchen würde. Darum konnte der Sekretär des Bischofs Mermillod, ein Benediktiner, zu mir sagen: Die Lehre des hl. Franz v. Sales ist die vollendete Strategie der Seelenführung, sie dringt bis in den Grund der Seele vor. Das bestätigt auch die hl. Kirche, wenn sie seinen Weg „einen ebenen und sicheren Weg“ nennt.

Wir müssen also den hl. Franz v. Sales zum Leitstern nehmen, und das Mittel dazu: sein Leben muss in unserem Herzen gegenwärtig sein, sein Wollen im unseren aufleben, wir müssen mit ihm eins werden. Wie kann das geschehen? Indem wir tun, was er getan hat, morgens, abends, in der Nacht, und so ein anderer Franz v. Sales werden. Das ist für uns alles. Überall könnten wir unseren Eifer betätigen. Wollen wir aber tun, was Franz v. Sales getan hat, sein Werk also fortsetzen, dann müssen wir ein zweiter Franz v. Sales werden. Das ist der Mensch, der vom Morgen bis zum Abend eingesetzt und in Beschlag genommen ist bis in die innersten Gedanken hinein. Das ist der vollendete Mensch, der Mensch aus einem Guss.

Auf solch einer Grundlage lässt sich alles schaffen, alles aufbauen und aufrichten. Da gibt es keinen Bruch, alles ist solide untermauert. Davon dürfen wir ganz überzeugt sein. Es genügt nicht, ein heiliger Seminarist, ein heiliger Priester zu sein. Man muss genau das tun, was Franz v. Sales getan hat, sein Leben neu auflegen. Es gilt, treu all sein Tun nachzuahmen, darüber Rechenschaft abzulegen, erforschen wie in einem Spiegel, was man getan hat. So nur stellt ihr etwas vor, sonst seid ihr nichts.

Mögen darum die Novizen sich nach diesem Leben (Anm. „des hl. Franz v. Sales“) mit Hilfe des Direktoriums meißeln. So geht auch der Soldat mit seiner Dienstvorschrift um: in diesem Büchlein erfährt er alles, was er zu tun hat. Es sieht vielleicht unbedeutend aus, und doch, wenn er, statt mit dem linken Fuß losmarschieren, mit dem rechten startet, hört alle Einheit und Gemeinschaft auf. Ebenso heißt es auch für uns, in der Kirche die Haltung einzunehmen, die einem betenden Menschen geziemt und keine Eigenheiten zur Schau tragen. Der hl. Franz v. Sales sagt, man müsse, um in Ordnung zu sein, dem Wasser gleichen: ein wirklich gutes Wasser hat überhaupt keinen besonders gearteten Geschmack. So gilt es auch für uns, ohne Ziererei und Künstelei die passende Haltung einzunehmen. Keiner sollte in unserer Kleidung wie in unserer Frisur etwas Besonderes finden. So hat es unser Herr gehalten: er richtete sich ganz einfach nach den Gebräuchen seiner Heimat.

Auf diese Weise werden wir viel Gutes wirken. Es wird kein hohles Zimbelgeräusch sein, sondern wirklich aus unserer Personen-Mitte kommen. Der Widerhall, den unser Reden und Tun hervorrufen wird, wird nicht einer äußeren Ursache entspringen, sondern einzig und allein aus unserer Gottvereinigung.

D.s.b.