Kapitel vom 12.12.1894: Die Verpflichtungen der heiligen Weihen
Ich nehme noch einmal den Gedanken auf, den ich euch in unserer letzten Zusammenkunft erläutert habe. Ich sagte, wir vergessen allzu leicht, sobald wir Priester sind, die hl. Weihen, die wir empfangen haben. Und wenn wir noch nicht Priester sind, vergessen wir allzu sehr, dass wir uns um eine gute Vorbereitung darauf bemühen müssen. Was wir sind oder sein werden, entfällt uns also zu schnell. Das nämlich, was die Priesterweihe aus uns macht, welche Pflichten sie uns auferlegt.
Wie schmerzlich berührt es mitunter, Weihekandidaten zu sehen, die fast gedankenlos dahinleben. Welch ein Jammer! Ich kenne welche, die man – es ist gut daran zu erkennen – nach Paris zur Priesterweihe schickte. Kaum waren die hl. Zeremonien beendet, war es ihre es ihre erste Sorge, um Erlaubnis zu bitten, in der Stadt zum Essen gehen und die Sehenswürdigkeiten der Hauptstadt besichtigen zu dürfen. Das ist mir unbegreiflich und beweist, wie weit die Vergesslichkeit gehen kann. Im Übrigen handelt es sich vielleicht nicht um ein Vergessen, sondern ganz einfach um eine krasse Unwissenheit über das, was man soeben getan und wozu man sich verpflichtet hat.
Um da Abhilfe zu schaffen, soll man künftig jedes Jahr im Refektorium das Pontifikale vorlesen, so wie man Evangelium und Nachfolge Christi vorliest. Ein- bis zweimal im Jahr soll man die Lektüre des Evangeliums und der Nachfolge Christi unterbrechen, um die grundlegenden Lehren des Pontifikale zu Gehör zu bringen. Diese Lektüre tiefer Frömmigkeit wird die andere Lektüre voll aufwiegen. Auf diese Weise werden sich die Empfehlungen der hl. Kirche, die Gebete und Zeremonien der Priesterweihe, die Ehrfurcht vor den erhabenen Übungen des Priesterstandes tiefer unserem Herzen einprägen und uns im Gedächtnis haften bleiben.
Es wurde viel über die jansenistischen Bücher geredet, die unablässig auf die ersten Zeiten der Kirche verweisen, an den Eifer des damaligen Klerus und an die Treue der Martyrer-Zeit. Wie viel ist darüber geschrieben worden! Haben wir nur keine Angst, ein bisschen in dieser Art Jansenisten zu sein. Wir trennen uns von ihnen erst da, wo sie uns weißmachen wollen, die heutige Kirche sei nicht mehr dieselbe wie die Urkirche, habe nicht mehr das gleiche Leben, denselben Schwung. Das ist ein Irrtum und eine schwere Irrlehre. Die Kirche ist heute, was sie am ersten Tage war. Gottes Gnade hat nicht nachgelassen. Im Allgemeinen leben die Gläubigen und Priester in einer echten Glaubensatmosphäre. Freilich müssten alle ohne Ausnahme in solch einer Luft leben, müssten sich darin zu größtmöglicher Höhe erheben.
Deshalb ist es notwendig, die uns auferlegten Verpflichtungen zu studieren und zu durchdenken. Vernachlässigt man dieses Studium, so kommt es zu einer ganz offenkundigen Erschlaffung. Breitet sich diese Lauheit weiter aus, kann man das sicher nicht der Kirche zum Vorwurf machen, sondern den einzelnen Christen. Das liegt ja nicht an der allgemeinen Kirchenleitung und an den Gnaden, die ihr jetzt ebenso wirksam zufließen wie ehedem. Es hat seinen Grund einzig in der Lauheit der Mitglieder der Kirche.
Kämpfen wir darum gegen die Erschlaffung an, dass wir ihr nicht erliegen. Die sich aber auf die höheren Weihen vorbereiten, mögen die Wichtigkeit dessen, was sie da tun, wohl begreifen. Es genügt wahrlich nicht, geweiht zu sein. Alles kommt in Wirklichkeit darauf an, zur Weihe die seelische Disposition mitzubringen, dass alle von Gott für uns reservierten Gnaden uns auch wirklich zugeteilt werden und die uns verliehene Gnade auch in uns verbleibe.
Aus den Lesungen im Refektorium werdet ihr erfahren, welche Mahnungen der Bischof vor jeder Weihe an die Kandidaten richtet. Ihr werdet die Erhabenheit der empfangenen Gnaden erkennen sowie die hohe Bedeutung der eingegangenen Obliegenheit. Diese Mahnworte, so voll der Gnade Gottes und des Geistes der Wahrheit, sollten einen unablässigen Einfluss auf uns ausüben, welche Weihe wir auch empfangen haben mögen. Wenn das schon die Weltpriester bindet, wie viel stärker die Ordensleute, die doch das Gelöbnis größerer Frömmigkeit und Vollkommenheit ablegen!
Jene also, die sich auf die Priesterweihe vorbereiten, müssen das Pontifikale gründlich studieren, darüber betrachten, von Gott die Gnaden und Tugenden erbitten, die jeder Weihe nottut. Es ist wahrlich nicht leicht, ein guter Kleriker, Diakon und Priester zu sein. Darüber spreche ich um meine persönliche Meinung handelt, sondern um Eindrücke, die ich einst im Großen Seminar empfangen habe. Es ist die Erinnerung an das, was ich tun sah, selbst getan und gelesen und in meiner Nähe lesen gehört habe. Man bereitete sich mit allem Ernst auf die hl. Weihe vor. Die Weiheexerzitien waren lang. Man erklärte einem das Pontifikale, von der Tonsur bis zur Priesterweihe. Über die Tonsur bekam ich eingehende Instruktionen, die mir noch heute im Gedächtnis haften. Von dieser Vorbereitung auf die Weihe war man tief ergriffen. Bei mehr als einem bewirkte das Herannahen der hl. Weihen eine große Veränderung. Sie gaben sich großmütig Gott hin und wollten nicht mehr der Welt angehören. Das alles gräbt sich einem tief ins Herz ein. An alles, was man uns über Tonsur, die niederen wie die höheren Weihen vortrug, erinnere ich mich noch gut.
Sagen wir heute ein Wort über das Subdiakonat und das Diakonat. Im Pontifikale werdet ihr erfahren, was der Bischof über das Subdiakonat sagt. Dem Subdiakon kommt infolge seiner Weihe bereits eine gewisse Vollmacht über die Seelen zu. Er hat die unteren Stufen durchschritten und steigt bereits die Stufen des Altars hinan. Ihm ist die Sorge um die hl. Gefäße und die Kirchenwäsche anvertraut. Er muss sie überwachen. Macht euch also den Gedanken zu Eigen, dass die Kirche euch kraft eures Beispiels, eurer Worte und Taten eine bestimmte Macht über die Seelen überlässt. Inmitten derer, mit denen ihr zusammenlebt, müsst ihr dahin schreiten wie Menschen, die mit Heiligkeit umkleidet sind. Ihr sollt sie innerlich ansprechen und erbauen.
All das wird einem nur ein einziges Mal gesagt. Liest und betrachtet man es niemals wieder durch, was bleibt dann schon haften? Einmal hat man während der Weiheexerzitien daran gedacht, und damit Schluss. Und man vergisst wieder all die Gnadengaben, die am Weihetag in unsere Seelen strömen… So naht man dann den folgenden Weihen und übernimmt Verantwortlichkeiten, von denen man keine Ahnung hat. Der Bischof macht in seiner Ansprache begreiflich, dass man von nun nicht mehr zum Weltleben zurückkehren kann. Unser einziger Anteil ist fürderhin Gott, seine Ehre, seine Liebe, sein Dienst. Lebte man bis dahin in Oberflächlichkeit dahin, so ist nun die Zeit gekommen, klug zu werden, alle Zerstreutheit und allen Leichtsinn abzustreifen und sich zu sammeln. Wurde man bislang von Leidenschaften und Fehlern beherrscht, so gilt es, sich jetzt von Grund auf zu ändern. Gab man bisher schlechten Neigungen nach, so heißt es nun, sie bedingungslos zähmen und für immer beherrschen.
Über all das, meine Freunde, ist es gut, am Tag der Subdiakonatsweihe gründlich nachzudenken. Man erforscht sich ernstlich und sagt zu sich: Bis jetzt war ich und so. Von jetzt an muss ich, ob ich will oder nicht, anders werden. Das ist die unausweichliche Verpflichtung der Weihe, die ich übernommen habe.
Auf das Subdiakonat folgt das Diakonat. Der Diakon steht dem Altar noch näher als der Subdiakon. Er verkündet das Wort Gottes, berührt die hl. Gefäße, teilt die hl. Kommunion aus. Seine Verpflichtungen sind ebenfalls größer: diese Hände, die den Leib des Herrn Jesus berühren, müssen rein und keusch sein. Sein ganzes Wesen, vor allem sein Herz, müssen Gott geweiht sein. Der Diakon muss Verhaltensweisen und Gewohnheiten an den Tag legen, die seiner Berufung würdig sind.
Wir denken nicht genug über die Größe dieses hl. Standes nach. Der hl. Franz v. Assisi, einer der größten Heiligen, kannte und verstand die Verpflichtungen des Diakonates, begriff in seiner tiefen Demut, dass diese genügen, um sein Leben auszufüllen, und wollte deshalb niemals darüber hinausgehen. Er fühlte, dass all seine Anstrengungen nicht ausreichen würden, um den damit übernommenen Obliegenheiten voll zu genügen. Was hat den hl. Franz also zum Heiligen gemacht? Seine Weihe zum Diakon. Mit seiner ganzen Intelligenz, mit all seiner Heiligkeit und seiner unstreitbaren moralischen Überlegenheit kam er zu dem einen Vernunftschluss: hier stehen bleiben und nicht weiter-gehen! Er zog daraus die Folgerung, dass die ganze Zeit, die ihm Gott noch zum Leben schenken würde, nicht zu lang sein werde, um ein guter Diakon zu sein. Sämtliche Anstrengungen, so sagte er sich, die ich auf mich nehmen, alle Arbeiten, die ich vollbringen kann, werden kaum genügen, um mit gutem Gewissen Rechenschaft für das mir übertragene Amt ablegen zu können.
Wir sind nicht gewohnt, gleiche Überlegungen anzustellen. Man betrachtet gern die Weihen als eine Drehtür, in die man durch die Tonsur eintritt und die man durch die Priesterweihe wieder verlässt. Ich verlange ja nicht, dass ihr ungewöhnliche Erwägungen anstellt, die eure Kräfte übersteigen. Ich verlange lediglich das ABC des Priesterlebens.
Wie gern rufe ich meine alten Erinnerungen wach. Zu meiner Zeit hatten die Priester mehr Glauben. Die Familien waren noch besser. Es gab keine gute Familie von Bauern oder ein bisschen wohlhabenden Kaufleuten, der es nicht ein Herzensanliegen gewesen wäre, der Kirche oder dem lieben Gott einen Priester zu schenken. Das sah man als eine Ehre an. Und auch die Diakone verstanden diese Gedanken des Glaubens. Das bewiesen sie durch ihr Benehmen und ihre ganze Wesensart im Seminar. Sie schätzen die hohe Würde, mit der sie umkleidet waren, höher als alle Ehrenämter dieser Welt.
Jawohl, meine Freunde, hier finden wir das Wesen der Kirche. Unter diesem Gesichtspunkt muss man sie beurteilen, muss man alles beurteilen, das ewige Leben und jedes schwierige Problem. So und nicht anders. Wir brauchen wahrlich der Welt, den Einflüsterungen des Leichtsinnes und der Zerstreuung, den Illusionen und Vorurteilen des Diesseits keine Ideen zu entlehnen. Im Angesicht des hl. Standes des Diakonates und aller hl. Weihen haben wir an dem, was uns der Glaube sagt, alles, was wir brauchen. Damit können wir mutig vor die Welt hintreten, so wie sie vor uns steht.
Welches auch immer der furchtbare Ablauf der revolutionären Phase sein mag, die wir durchleben, mit der Gnade Gottes werden wir sämtliche Hindernisse überwinden. Wir werden Einsicht gewinnen in das, was zu tun ist, in den Sinn der praktischen Wahrheit, werden erkennen, wie und auf welchem Weg wir zur Welt gehen und sie zu Gott zurückführen können. Das ist unser Lebensinhalt, unsere Stärke und Energie. Außerhalb dieser Glaubenseinsichten ist alles Illusion. Hier spielt sich das Leben des Priesters wie des Ordensmannes ab. Da geht es nicht um etwas Akzidentielles, etwas künstlich Zugefügtes, etwas, was von dem Milieu, in dem wir leben, abhängt. Nein, es bedeutet vielmehr unser eigentliches Leben, unsere Existenz. Es muss die Stadt sein, in der wir wohnen, das Haus, in dem wir unsere Tage verbringen. Hier allein finden wir unser Zuhause, da werden uns die anderen Menschen aufsuchen und von hier aus werden wir zu den anderen gehen.
Sind wir aber an dieses Leben nicht gewöhnt, halten wir uns außerhalb unserer Wohnung auf, verstehen wir nicht, jenen Bau aufzurichten, von dem der hl. Paulus spricht, der dem Feuer und den Gewitterstürmen trotzt, was soll dann aus uns werden?
Sorgen wir also dafür, ein Zuhause, einen Stütz- und Ruhepunkt zu haben. Führen wir ein echt priesterliches Leben, ein wahres Leben nach dem Glauben. Bemühen wir uns um Verständnis für die Pflichten und die Gnaden, die uns zuteilwerden! All das steht, ich darf es noch einmal sagen, im Pontifikale. Studieren wir dieses Buch! Die sich auf die hl. Weihen vorbereiten, sollen es uns ebenfalls angelegen sein lassen, in uns diese Gnade immer wieder aufzuwecken, sie uns vor Augen zu halten. Seien wir überzeugt, dass wir damit alles besitzen, was den Priester, den Mann Gottes, ausmacht. Trachtet all das wieder zu erwerben, was Gott euch übergeben hat.
Haltet euch treu an diese Art zu handeln, denn nur so werdet ihr all diese göttlichen Gnadengaben wiedergewinnen, werdet bis in euer höchstes Alter, ja immer, Männer Gottes sein. Ja, ihr werdet bis zum Tag des wahren Lichtes und ewigen Lohnes Männer Gottes sein.
D.s.b.
