Kapitelvorträge für die Oblaten 1873-1899

      

Kapitel vom 14.11.1894: Das Gebet: Mittelpunkt des religiösen Lebens

Als wir Pius IX. unsere Satzungen vorlegten, nahm uns der Hl. Vater mit Wohlwollen auf: „Meine Kinder“, sagte er, „ihr wollt Ordensleute sein? Macht ihre Betrachtung?“ – „Oh ja, Hl. Vater, das steht ja in unserer Ordensregel.“

Die Empfehlung des Hl. Vaters ist sehr wichtig. Ohne Betrachtung kein Ordensmann! Sie ist die Basis des Ordensgeistes. Das Leben der Welt kreist um weltliche Gelüste, das Leben und die Betrachtung.
Möge darum jeder gewissenhaft seine Betrachtung halten. Eine halbe Stunde ist wahrlich nicht lange. Kommt man zur Morgenbetrachtung zehn Minuten zu spät, und geht fünf Minuten zu früh wieder fort, was ist die Folge? Nun, man hat seine Betrachtung nicht gemacht, sondern hat von der dem lieben Gott geweihten Zeit etwas weggestohlen. Eine halbe Stunde am Morgen und eine Viertelstunde am Abend sind sicher nicht zu viel. Ihr habt viel mehr Zeit zu eurer Erholung. Den ganzen Tag über seid ihr mit Unterricht und Aufsicht beschäftigt. Ist es da nicht richtig, sich am Morgen ein wenig mit dem Herrn zu unterhalten?

Ihr braucht eine spezielle Erlaubnis, der Betrachtung fernzubleiben. Kann man sie am Morgen nicht machen, müssen wir trachten, tagsüber einen freien Augenblick zu finden, um sie nachzuholen. Das ist vielleicht schwer. Darum sollte man sein Möglichstes tun, sie am Morgen zu machen. Wenn unser Amt uns hindert, ihr beizuwohnen, müssten wir uns angewöhnen, sie während der Aufsicht zu machen. Nehmen wir an, ihr fahrt im Omnibus. Wer kann euch da hindern, im Wagen eure Betrachtung zu machen? Dasselbe gilt von allen Aufsichten, im Schlafsaal, im Studiersaal. Entscheidend ist, dass ihr eure Betrachtung macht. Alle Kanzelredner und Meister des geistlichen Lebens dringen darauf. Darum möge das erste, worüber ihr euch in der Beichte anklagt, eure Verstöße gegen die Betrachtung sein, und gebt auch den Beweggrund dafür an. Das sei euch eine heilige Verpflichtung, ist es doch die Grundlage eures Tagewerkes. Hat sich nämlich der liebe Gott nicht am Morgen eures Tagewerkes eurer Seele bemächtigt, dann werden dies andere besorgen.

Betrachtung heißt Erhebung unseres Seele zu Gott. Die Gute Mutter definierte sie als „eine Unterhaltung mit Gott über unsere Angelegenheiten.“ D.h. am Morgen muss man seine Vorbereitung machen wie es unser hl. Stifter wünscht: man legt sein Tagewerk zurecht zusammen mit dem lieben Gott. Ihr seht voraus, was ihr während des Tages zu tun habt: Freizeiten, Studien, Unterricht, Aufsichten, etc.

Wärt ihr im Handel oder Gewerbe tätig, würdet ihr am Morgen prüfen, was euch im Verlauf des Tages bevorsteht an Arbeiten und Beschäftigungen… Ihr würdet also sozusagen die Übung der Vorbereitung machen. Nun gleicht das Himmelreich aber einem Kaufmann. Handelt also wie ein Kaufmann. Unsere Verdienste setzen sich aus einer Unzahl von kleinen, aufeinanderfolgenden Handlungen zusammen. Genau diese Handlungen heißt es zurechtlegen. Gut ist es, diese Vorbereitung mithilfe des Direktoriums zu machen. Nehmt euren Zettel zur Hand, das kleine Memento, das jeder von euch haben soll (Anm.: „die Liste der täglichen Verpflichtungen.“) und seht nach, ob ihr zur bestimmten Stunde aufgestanden, eure Zelle in Ordnung gebracht hat… Das ist ein Akt großer Heiligkeit. Denn auch die Heiligen taten nichts anderes. Die hl. Theresia bückte sich, um ein Linsenkorn aus den Fugen des Fußbodens aufzulesen. „Das Geheimnis des inneren Lebens“, sagt ein Geisteslehrer, „besteht darin, aus Nichtigkeiten etwas zu machen.“ Darin besteht die klösterliche Vollkommenheit. Das ist der Stein der Weisen. Ihr setzt einen Akt, tut ein unbedeutendes Nichts aus Liebe zu eurer Ordensregel, aus Liebe zu Gott. So werdet ihr Heilige.

Gebt also wohl acht auf diese Kleinigkeiten. Ist das etwa kleinlich? Nein. Ehrt die kleinen Dinge, die unscheinbarsten Handlungen des Ordensstandes. Denkt gern an unseren Herrn, der ganz wie ihr gehandelt hat. Auch er gab sich mit ganz nichtigen Dingen ab, kümmerte sich um seine Kleider und Schuhe. Auf diese Weise wird das Ordensleben zu einem Stein der Weisen, der Nichtigkeiten und Erdenstaub in Gold verwandelt.

Macht in diesem Geist eure Betrachtung, aus Liebe zu eurer Regel, aus Liebe zu Gott. Ihr ahnt gar nicht, wie viel Kraft in einer Seele wohnt, wenn sie sich so an die hl. Regel gewöhnt und geklammert hat. Wenn ihr nur ein bisschen Würde des Herzens besitzt, werdet ihr diese kleinen Dinge gerne und mit Liebe tun. Natürlich gesehen ist das vielleicht nicht menschenwürdig, doch unter unserem Gesichtspunkt ist es sogar der Engel würdig. Wir wollen so den Vorsatz fassen, es mit der Betrachtung sehr genau zu nehmen und sie im Laufe des Tages zu ersetzen, so wir sie am Morgen nicht machen konnten, oder aber sie während unserer Beschäftigungen nachzuholen. Reden wir während der Betrachtung mit dem lieben Gott, bitten wir ihn um seinen Segen. Er wird ihn uns gewähren und zugleich mit ihm große innere Kraft mitteilen.

D.s.b.