Kapitelvorträge für die Oblaten 1873-1899

      

Kapitel vom 08.04.1894 (18.04.1894): Dem Herrn, langsam, auf dem Weg der kleinen Schritte folgen

Man kann nicht zu oft auf dieselben Dinge zurückkommen, um klar zu machen, was den Geist des hl. Franz v. Sales charakterisiert. Ich würde die Art der Oblaten vorzugehen gern mit einem Wagen vergleichen, der ohne Rast und Ruh auf sein Ziel losfährt, indem er sich aller Holprigkeiten des Bodens bedient, um seinen Lauf zu beschleunigen und die Chance nutzt, um sicher und ohne Furcht vor Irrtum an sein Ziel zu gelangen. Der Lauf auch des Oblaten ist in der Tat sehr bewegt, aber sicher. Das ist so wahr, dass viele behaupten, sie hätten den Ordensstand nie so gut verstanden wie nach ihrer Bekanntschaft mit den Oblaten. Wir beteuern vor allem, dass wir den Heiland auf Erden nachahmen wollen. Unser Herr war auf Erden mit seinem Vater innigst verbunden, und die Taten des Sohnes waren auch die des Vaters. Den Heiland nachahmen und damit allzeit den Willen des Vaters im Himmel zu erfüllen, das muss Lebensinhalt des Oblaten des hl. Franz v. Sales sein. Bei den anderen Ordensleuten brauchen nicht alle Handlungen in dieser Atmosphäre verrichtet zu werden. Bei uns muss alles ohne Ausnahme in der Nachfolge des Herrn geschehen und geschieht es auch, und das nannte die Gute Mutter den „Weg“. Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben. Christus ist mir Leben.

Der „Weg“ ist für den Oblaten die totale Anwendung dieses Schrifttextes. Unser unterscheidendes Merkmal ist die bedingungslose und vollständige Nachfolge unseres Herrn Jesus Christus. Bei uns ist die Freizeit ein Werk, das der Seele ebenso viel Segen bringt wie die hl. Messe. Der Grund dafür: die Rekreation ist in der Stunde, wo wir sie verbringen, genauestens die Erfüllung des Willens Gottes. Und in diesem Willen Gottes gibt es keine kleinen und großen Dinge. Alles ist groß, alles heilig, wenn es darum geht, Gott zu gehorchen. Nach diesem Grundsatz sollten wir all unsere Arbeiten verrichten und das Tun unseres ganzen Lebens ausrichten. Nicht immer wurde diese Wahrheit so klar und so einfach herausgestellt. Beweis dafür: nirgendwo anders als bei Franz v. Sales begegnet man einer ähnlichen Lehre. Alfons v. Ligouri und Vinzenz v. Paul haben zwar auch das Ziel erreicht, nachdem wir uns ausstrecken, doch nur mit Hilfe vieler Abtötungen, Opfer und mitunter heroischer Kämpfe. Ihr Weg war rau. Der hl. Franz v. Sales dagegen ist ein milder und sicherer Weg und besteht darin, Schritt für Schritt voranzugehen und in die Fußstapfen des Herrn zu treten. Darum gleicht unsere Lebensweise nicht der des Weltgeistlichen in seinem Pfarrhaus oder des Seminaristen im Seminar.
Ziel der Erlösung ist es, die Seelen zur Heiligkeit zu führen. Nur die Wege dahin unterscheiden sich. Die Karmelitinnen z.B. heiligen sich mit Hilfe von Entsagungen und Opfern. Bei ihnen geht es nur darum, zu leiden, und man schätzt geringer das Verdienst, das es einbringt, wenn man auf fromme Weise seine Erholungszeit verbringt oder im bestimmten Augenblick alles verlässt, um sich zu einer langen und frommen Betrachtung zu begeben. Uns dagegen ist es klar, dass sämtliche Handlungen des Heilandes gleichermaßen göttlich sind. Darum meinen wir, dass alle Handlungen unseres Lebens, wenn sie nur gut vollzogen werden, gleichgültig welcher Art sie sind, die ganze Verdienstlichkeit derselben Handlungen unseres Erlösers in sich tragen, als er noch auf Erden weilte. Sie alle dienen gleichermaßen dazu, unsere Einheit mit Gott zu besiegeln. Die anderen schreiten ruckweise dahin in der Nachfolge unseres Herrn, uns dagegen ist es genug, ihm langsam und schrittweise nachzufolgen.

Darum geht alle Welt darin einig, in der Behauptung, die Lehre des hl. Franz v. Sales sei dazu berufen, größten Widerhall zu finden. Und wirklich, wenn wir davon überzeugt sind, dass all unseren Handlungen, selbst den unbedeutendsten, dank ihrer Vereinigung mit dem Willen Gottes, ein ungeheurer Wert innewohnt, so befinden wir uns in der Wahrheit. Die Gute Mutter hat dies gesagt, sie hat es niedergeschrieben, und Rom hat dies voll und ganz gebilligt. Somit haben wir alle Sicherheit, dass wir uns auf dem rechten Weg befinden. Ist das schwer zu verwirklichen? Natürlich erreicht man es nicht auf den ersten Anhieb. Doch das Direktorium ist mit seinen zahlreichen Einzelübungen dazu bestimmt, uns unmerklich aber sicher dahin zu führen, dass wir zu dieser innigen Gottvereinigung gelangen. Das größte Hindernis für unseren Fortschritt ist die Versuchung und die Sünde: Unreinigkeit, Trägheit, Ungelehrigkeit. Versuchung aber bedeutet Kampf, und im Kampf schwindet meist die Ruhe und mit ihr die Gottvereinigung. Sobald der Kampf tobt, gilt es, fest und tapfer zu bleiben. Ist das Gewitter verrauscht, stehen wir wieder auf, wenn wir gefallen sein sollten und nehmen unseren Marsch von neuem auf. Diesen Rat gab der hl. Stifter der hl. Franziska v. Chantal, die sich darüber wunderte, wie sehr er allzeit Herr seiner selbst und mit Gott verbunden blieb. „Meine Tochter, gerade darum beginne ich immer von neuem.“ So müssen auch wir jederzeit von vorne anfangen. Wenn uns eine Versuchung befällt, eine Heimsuchung oder gar ein Fehler, vielleicht sogar ein schwerer, über uns kommt, lassen wir uns nur nicht niederdrücken, stehen wir auf und beginnen von neuem das Leben mit dem Direktorium. Jawohl, fangen wir ohne Unterlass von neuem an…

O, was ist das doch eine feste und sichere Führung für unser inneres Leben! Um das aber gut zu tun und dieser Anleitung recht zu folgen, brauchen wir Intelligenz. Es gibt eine zweifache: eine, die uns Einsicht vermittelt, und eine andere, die uns Liebe einflößt. Letztere, die affektive Intelligenz, tut uns vor allem Not, und nur Gott kann sie uns schenken, wie übrigens auch die erste der beiden. Wenden wir uns, um die eine wie die andere zu erwerben, bittend an den hl. Franz v. Sales und die Gute Mutter!

D.s.b.