Kapitel vom 21.03.1894: Machen wir uns das Gelübde der Liebe zu Eigen!
Der hl. Franz v. Sales beabsichtigte, eine Kongregation ohne ein anderes Gelübde als das der Liebe zu gründen. Er betrachtete dieses Band der Liebe als das machtvollste Mittel, den Listen des Satans zu widerstehen und menschliche Schwächen zu heilen. In der Tat ist die Liebe stark wie der Tod und unbeugsam wie die Hölle. Sie allein lässt uns zur Vollkommenheit gelangen. Doch musste unser hl. Stifter auf Traditionen der Vergangenheit und die überlieferten Ideen seiner Zeit Rücksicht nehmen. Dennoch unterließ er es nicht, einen Versuch zu machen: seine ersten Schwestern wurden auf diesem Fundament aufgebaut. Er wollte sie zu Oblatinnen machen, die allein vom Band der Liebe zusammengehalten würden. Doch der Erzbischof von Lyon, Msgr. de Marquemont, der die Heimsuchung in seine Diözese gerufen hatte, hielt Franz v. Sales vor, diese Neuerung verstoße gegen die gewöhnlichen Regeln der Kirche, und er setzte es durch, dass die Heimsuchungsschwestern Nonnen wurden, die die drei Gelübde ablegten und hinter Klausurgittern lebten. Das war ein schweres Opfer für unseren hl. Stifter, aber seine Friedensliebe trug den Sieg davon über seinen Widerwillen. Seine Idee sollte jedoch nicht ohne glückliche Folgen bleiben. Sie wurde vielmehr zum Grundstein, auf dem der Orden der Heimsuchung ruhen sollte. Die Liebe allein hält die verschiedenen Klöster dieses Ordens zusammen, und dieses Band ist stark genug, um sie im Geist des hl. Franz v. Sales zu erhalten. Auch wir Oblaten haben kein anderes Prinzip als die Liebe. Die Existenz unseres Institutes wird jetzt und in der Zukunft allein garantiert durch die Liebe. Die Liebe ist die entscheidende Tugend für jeden geistlichen Fortschritt und jede Vollkommenheit.
Ohne Zweifel ist sie allen ans Herz gelegt zur Beobachtung, den Gläubigen wie den Ordensleuten. Doch für die anderen stellt sie nicht das Lebenselement dar, nicht einmal für die vollkommensten Orden, während wir ohne Liebe überhaupt nicht existieren können. Was uns Oblaten aber am meisten abgeht, ist ausgerechnet die Übung der brüderlichen Liebe. Darum möchte ich sie wieder einmal nicht bloß empfehlen, sondern formell befehlen. Ich mache mir dazu gern das Wort unseres Herrn zu Eigen: Ein neues Gebot gebe ich euch! Es ist mein Gebot. Ich habe euch kein anderes zu geben. Doch dieses ist wirklich neu. Nicht als ob nicht jedermann es zu jeder Zeit hätte beobachten müssen: dieses Gebot ist vielmehr neu auf Grund einer besonderen Verpflichtung, die er den Oblaten auferlegt.
Sie müssen es beobachten mit aller Zartheit, die der Liebe eigen ist. Das ist eine schwierige Verpflichtung. Aber bedenkt, dass die Ordensregel uns keine körperlichen Abtötungen auferlegt, keine besonderen Fastenübungen, mit einem Wort: nichts, das nach körperlichem Leid aussieht. Aus diesem Grund müssen wir unsere ganze Aufmerksamkeit und all unsere Bemühungen auf die exakte und treue Beobachtung der brüderlichen Liebe konzentrieren. Wie entledigt sich nun ein Oblate dieser Pflicht? Gewöhnlich erleidet die brüderliche Liebe in den Seminarien einige Einbußen. Man hegt für den oder jenen eine gewisse Vorliebe. Später dann, wenn man Priester ist, kommt man bei dem oder jenem zusammen und scheut sich nicht, über diesen oder jenen zu reden. Das ist gewiss eine Unvollkommenheit, die aber oft keine weiteren Folgen nach sich zieht. Bei uns ist das anders. Die Liebe muss uns zehnmal teurer sein als unsere anderen Gelübde, weil sie ja unser Ziel, unser Daseinszweck ist. Im Noviziat hat man oft die Gewohnheit, diesen oder jenen zu kritisieren, über Tagesordnung, Obere, Sitten und Gebräuche im Haus klagen. So wird man natürlich kein echter Oblate. Ein Haus, in dem die Liebe nicht herrscht, gedeiht nicht, weil der Hl. Geist die Gnade nicht schenkt, die es braucht. Jeder Ordensmann sollte sich darum Stillschweigen über alles auferlegen, was er feststellen und was ihm tadelnswert erscheint. Er möge sich vertrauensvoll auf die Oberen verlassen, die er für wachsam und gescheit genug halten soll, dass sie nichts durchgehen lassen, was der Kongregation schaden könnte. Er wird es vermeiden, von seinen Lippen den geringsten Tadel, die leiseste Kritik gegen den oder jenen, gegen diese oder jene Handlungsweise, gegen das Benehmen des einen und die Vorrechte des anderen fallen zu lassen.
Vor allem sollten die Oberen Gegenstand besonderer Liebe sein, da auf ihnen eine besondere Verantwortung lastet. Und diese Last sollte man ihnen erleichtern, indem man sie mit Achtung, Ehrfurcht und Liebe umgibt. Niemals also ein strenges Urteil oder nachteilige Einschätzung! Wahren wir die gleiche Haltung auch gegenüber den verschiedenen Häusern. Sie alle zusammen bilden ja nur eine Familie. In ihr müssen sich dieselben Züge wiederfinden, an denen man Vater und Kinder erkennt. Keine Sonderinteressen!
Im Kleinen Kolleg verhalte man sich wie im Großen, in Macon wie in St. Quen oder in Troyes, in Paris wie am Kap der Guten Hoffnung und in Ecuador. Sonst erleben wir in kurzer Zeit den Zusammenbruch eines Hauses. Was in Troyes geschieht, das geschehe überall, und nirgendwo soll etwas anderes noch Besonderes getan werden als in Troyes getan wird. Immer, wenn man ein Sonderrecht zu erreichen sucht, muss man wissen, dass man einer Katastrophe entgegengeht. Bleiben wir untereinander untrennbar vereint. Schätzen, achten und lieben wir uns!
Es kann zwischen uns Unterschiede der Erziehung, der Begabung und des Charakters geben. Das ist sogar ein Vorteil, denn alle sind nicht zu ein und derselben Aufgabe berufen. Der Geist aber muss der gleiche sein, und er ist es, wenn wir im Herzen die Liebe tragen, die unser hl. Stifter von uns wünscht. Und darum verlange auch ich an diesen Tagen blutiger Opfer (der Karwoche) nur das eine: euer ganzes Wesen der Liebe zu opfern. Ich verlange es mit allen Kräften meiner Seele als euer Vater und euer Generaloberer. Ja, treten wir ein in die Dienste der Liebe, da finden wir die Ruhe unserer Seele, die Freude des Herzens, die Tröstungen der Ordensfamilie, die Kraft der Einheit, die Gewissheit und der Dauerhaftigkeit unser Genossenschaft. Die Oblaten haben, um es noch einmal zu sagen, keine Bußübungen. Darum sind sie umso mehr zur Liebe verpflichtet. Sonst sind wir Seminaristen, Pfarrer, aber keine Oblaten. Wir haben nicht all die Sorgen der Pfarrer, brauchen uns nicht um Stolgebühren zu sorgen, um Bezahlung von Hausangestellten, etc. Was haben wir dann? Die Übung der Liebe.
Als ich die Gemeinschaft der Oblatinnen gründete, hatte ich zuerst ziemlich ernste Schwierigkeiten. Da kam mir der Gedanke, ein zeitliches Gelübde der Liebe ablegen zu lassen. Sie taten es, beherrschten ihre Zunge, was Frauen sicher schwer fällt. Von dem Augenblick an bekam die Genossenschaft überreichen und wertvollen Nachwuchs, und die Schwestern hören nicht auf, jene, die sie sehen und mit denen sie verkehren, zu erbauen.
Üben wir also die Liebe. Sie ist im Übrigen die große Lehrmeisterin aller Tugenden. Mit der Liebe ist man auch gehorsam, hält treu und großmütig die ganze Regel. Was ich da predige, ist, um es noch einmal zu betonen, Inhalt unserer Regel. Ein Trappist kann mitunter gegen die Liebe fehlen, ohne unvollkommen zu sein. Der Oblate wird aber nichts darstellen, eine absolute Null sein ohne die Liebe. Ich gestehe, dass die Übung dieser Tugend am schwersten fällt. Leicht ist es zu fasten und sich zu geißeln. Da wir in der Karwoche stehen, muss jeder von Buße tun, indem er unserem Herrn verspricht, sich in der Übung der brüderlichen Liebe treu zu erweisen. Macht dieses Gelübde für eine Woche, für eine einen Monat, sogar für ein Jahr, wenn ihr wollt. Ich bitte euch nur, macht es. Das bedeutet einen Verzicht auf sich selbst, der Opfer kostet. Er beweist aber, dass man Stärke und Tatkraft besitzt. Die Liebe ist nach Franz v. Sales ein Parfüm. Alle, die ihr nahekommen, atmen es ein. Die Liebe besteht ganz einfach darin, dass man andere nicht anders behandelt, als man selbst von ihnen behandelt zu werden wünscht. Wenn wir sie im Herzen tragen, klagen wir nicht übereinander, sind nicht dazu aufgelegt, die Handlungsweise der Mitbrüder zu kritisieren, sondern erträgt ihre Fehler, kurzum: man hört und befragt nicht seine Eigenliebe noch seinen Eigenwillen. Sobald man tun will, was uns beliebt, lebt die Liebe nicht mehr in uns.
Die Liebe muss sich auf alle unsere Mitbrüder erstrecken, auf unsere Schüler, und alle Mitmenschen, sowie, um es noch einmal zu betonen, auch auf jene, die mit unserer Leitung betraut sind. Besonders in der Unterhaltung ist man versucht, gegen die Liebe zu fehlen. Da spricht man gern über diesen und jenen. Sobald ihr das merkt, lenkt das Gespräch auf andere Gegenstände. Woran es uns, liebe Freunde, gebricht, ist dieser reiche Vorrat an Liebe, der in allem einzig Gott sieht und seinen hl. Willen. Fassen wir darum gute und feste Vorsätze und legen wir alle das Gelübde der Liebe ab. Ich schärfe es euch ein in meiner Eigenschaft als Oberer und glaube, damit den Willen Gottes zu tun. Gerade wegen ihrer Liebe habe ich stets die Gute Mutter bewundert. Alle, die sie kannten, sagen das gleiche. Als ich eines Tages etwas sagte, was irgendwie gegen die Liebe verstieß, tadelte mich M. Pelgè lächelnd: „Nun, Pater Brisson, was würde die Gute Mutter dazu sagen?“
Was ich mir selbst am meisten vorwerfe, ist dieser Mangel an Liebe. sie ist aber auch sehr schwer zu üben. Darum will ich mit euch das Gelübde der Liebe ablegen. Beten wir in dieser Woche auf eine ganz besonders innige Weise für die Mitglieder des Generalkapitels, damit Gott uns erleuchte und uns die Gnade schenke, alles in Gott zu gründe, zu verankern und zu festigen.
D.s.b.
