Kapitelvorträge für die Oblaten 1873-1899

      

Kapitel vom 07.03.1894: Über die exakte Idee, wie der Titel „Oblate“ zustande kam

Ich komme noch einmal auf das Thema des letzten Kapitels zurück, damit auch unsere Novizen, die nicht daran teilnahmen, begreifen und von Tag zu Tag besser verstehen, wie wichtig es ist, eine klare Vorstellung von unserem Namen „Oblaten des hl. Franz v. Sales“ zu haben. Dieser Name bedeutet nicht nur, dass wir den hl. Franz v. Sales als Schutzherrn, in gewissem Sinn als unseren Gründer erkennen. Mehrere Institute rühmen sich des gleichen Vorrechtes und sind trotzdem keine Oblaten. Die Oblaten haben einen ganz eigenen Geist, der schwer zu erfassen und noch schwerer im gewöhnlichen Ablauf des Lebens zu verwirklichen ist. Der Heilige trug sich mit der Absicht, Oblaten zu gründen, so wie er die Heimsuchung gegründet hat. Die hl. Franziska v. Chantal drängte ihn, seinen Plan auszuführen. „Ich möchte gern“, gab er zur Antwort, „konnte bisher aber nur anderthalb Priester heranbilden.“

Heißt das nicht anerkennen und verkünden, dass besondere Bedingungen zu erfüllen sind, um ein Oblate zu werden und um sich durch eine intensive Ausbildung vorbereiten. Die Priester, über die unser hl. Stifter verfügte, ließen sich nicht leicht in eine neue Form gießen, weil ihre erste Formung, die sich auf ihr eigenes Urteil gründete, bereits abgeschlossen war. Um Oblate zu werden, bedarf es eines völligen Entsagens seiner selbst, und das ist keine Kleinigkeit, auf sein eigenes Urteil zu verzichten.

Den Frauen gelingt das umfassender und ohne allzu viel Widerstand. Der Mann dagegen hat studiert, hat sich eine eigene Art zu urteilen angewöhnt und sich eine Lebensregel aufgestellt. Es fällt ihm schwer, sich dem Gehorsam und der Unterwerfung seines Willens zu beugen. Das rührt von einem Urlaster, von der Sünde Adams her, die, nach der Guten Mutter, den Verstand mehr in Mitleidenschaft zog als den Willen. Um ein wirklicher Oblate zu werden, muss man Verstand und Urteil besitzen. Anderenfalls bleibt einem der Sinn des Oblatenlebens verschlossen. Stehen diese beiden Kräften aber am Anfang der Berufung, dann dringt der Geist des hl. Franz v. Sales unglaublich tief in die Seele ein. Der Oblate bleibt zwar einfach, jedoch auf eine Weise, dass seine Einfachheit ein Stempel wahrer Intelligenz ist.

Nicht selten kommt es vor, dass alle Vorbedingungen geschaffen sind, um einen Oblaten zu formen. Dem betreffenden fehlt es aber an Mut. Er könnte alles Nötige verstehen, aber er hat Angst, zu viel zu verstehen, und darin lässt er es wieder an Urteilsvermögen fehlen. Wie wichtig ist es doch gerade für Novizen, sich nach den Lehren des hl. Franz v. Sales heranzubilden. Sie brauchen nur das Direktorium zu studieren und zu praktizieren, ihren Geist mit der Lehre des hl. Franz v. Sales zu nähren und sich in seine Theologie zu vertiefen. Darin finden sie das Mark und das Wesen des Ordenslebens. Bis in die letzte Zeit blieb Franz v. Sales ein wenig von der Theologie ausgeschlossen, außerhalb jeder religiösen Bewegung. In den Theologischen Hochschulen sprach man nicht viel von ihm, und man dachte kaum daran, ihn den Priestern zu empfehlen als Vorbild einer sicheren und für alle passende Führung. Gewiss lag vor aller Augen eine seiner bewundernswerten Schöpfungen, die dem Bischof Coeur den Ausruf entlockte: die Heimsuchung ist die Aristokratie des Himmels. Man fand es aber nicht der Mühe wert zu untersuchen, ob diese hochstehenden Frauen voller Frömmigkeit, Liebe und aller Tugenden – nein, es kam niemand in den Sinn nachzuforschen, ob diese Art von Frömmigkeit und Heiligkeit sich nicht auch auf Männer anwenden ließe. Da kam endlich das Erwachen, und das hat genügt, die Aufmerksamkeit auf die Werke des hl. Franz v. Sales zu lenken. Man studiert ihn in unserer Zeit, und der Priester findet darin alles, was er für seine eigene Führung wie für die der anderen braucht. Was uns betrifft, so zielt unser „Anspruch“ höher: Wir betrachten uns als die Bürgen und Dolmetscher seiner Lehren und als Gesandte ihrer Verbreitung. Unter welchen Bedingungen vollziehen wir aber diese zweifache Aufgabe? Wir erreichen dies dann mit Erfolg, wenn wir treu sind und Gott lieben.

Die Treue war auch das Geheimnis der Guten Mutter. Oft sagte sie: Gott ist getreu. Heißt das nicht, dass auch die Seele ihrerseits verpflichtet ist, sich treu zu erweisen in den Pflichten des Augenblicks, treu gegenüber den Mitteilingen der Gnade, treu in der Einheit des Herzens mit Gott, treu aber kraft einer liebebeseelten Treue, die sich also auf die Liebe Gottes gründet. Ob Prediger, Professoren, Direktoren oder Präfekten, unsere Treu und Liebe muss das Grundelement, das einzige Lebenselement unserer Tätigkeit sein. Alle Menschen können diese zwei Tugenden zum Fundament ihrer Mission machen. Der Oblate aber begnügt sich nicht damit, treu und liebeerfüllt zu sein. Er hält sich darüber hinaus eng an jede Willensäußerung Gottes, was zur Folge hat, dass sein Leben zu einem randvollen und ganz ausgefüllten Leben wird. Alles ohne Ausnahme nimmt er an: Demütigungen, Prüfungen, Leiden, und durch diese Annahme unterwirft und ergibt er sich dem göttlichen Willen.

Wir stehen in der Fastenzeit. Halten wir uns bereit, alles anzunehmen und zu erdulden, was dem lieben Gott und zu schicken beliebt. Erweisen wir uns treu, alles wie aus der Hand Gottes kommend willig zu umfangen. Segnen und lieben wir diese Hand, auch wenn sie uns schlägt. Daran erkennt man den Oblaten. Man sage nicht, das drücke ganz einfach einen Gedanken aus, eine philosophische Idee, eine bewundernswerte Wahrheit. Nein, das ist eine Realität. So kreise denn unsere Seelenachse um Gott und weiche nie von diesem Mittelpunkt ab, oder wenn sie je diesen Angelpunkt verfehlen sollte, dann wollen wir sie zu dieser Mitte zurückführen und uns daran festklammern. Wir könnten keinen sichereren und festeren Halt finden. Hat nicht der hl. Augustinus gestanden, dass sein Herz in Unruhe verharrt, solange es nicht ruht in Gott? Binden wir uns an diesem soliden Anker fest!

Beobachtet die Gute Mutter, wie sie diese Wahrheit anwandte: So gelangte sie zu dieser Ganzheit eines einfachen und vernünftigen Lebens, frei von aller Sonderlichkeit wie aller Unvollkommenheit. Und darum konnte der Bischof von Albi sagen: Bei der Guten Mutter setzt mich überhaupt nichts in Erstaunen, weder ihre Tugenden noch die Wundertaten, die man von ihr erzählt, denn sie handelte allezeit mit Treue.

D.s.b.