Kapitelvorträge für die Oblaten 1873-1899

      

Kapitel vom 28.02.1894: Dass man das Ende nicht sucht, ohne die Mittel zu suchen

Nach unseren Satzungen soll alle zehn Jahre ein Generalkapitel stattfinden. Wir nehmen es vorweg und halten es bereits in diesem Jahr. Es ist in der Tat wichtig, es zu befragen über die Männer, die den Generalrat verständigen sollen, über die Funktionen des Generalassistenten und des Novizenmeisters, über die Kollegien zu gebende Ordnung sowie über alle Fragen des Ordenslebens. Diese verschiedenen Punkte, die das Generalkapitel entscheiden soll, sind von grundlegender Bedeutung. Noch wichtiger aber als all das ist, dass wir das klösterliche Leben gut erfassen. Das Ordensleben muss ein Leben beständiger Abhängigkeit und ununterbrochenen Gehorsams sein.

Darum sollten wir nie das Haus verlassen ohne Erlaubnis des Oberen, und in seiner Abwesenheit, ohne Zustimmung des zu diesem Zweck aufgestellten Paters. Desgleichen darf man keine Einladung zum Mittag- oder Abendessen annehmen ohne spezielle Genehmigung, die dem Oberen vorbehalten ist. Er allein befindet über die Zweckmäßigkeit und die Schicklichkeit, die dabei zu beachten ist. In unseren Kollegien sollen sich alle nach derselben Methode und den aufgestellten Studienprogrammen richten. Gerade aus dieser Treue schöpfen wir eine unvergleichliche Kraft. Halten wir dagegen an unseren eigenen Ansichten fest, so schwächen wir unsere Aktionsmittel und hemmen den geregelten Ablauf der Gemeinschaftsaktion. Ich lege auf diese verschiedenen Punkte großes Gewicht und empfehle euch besonders dringlich, in euch den Typ des wahren Oblaten herauszubilden, weil wirklich zu fürchten ist, dass wir sonst unserer Berufung nicht entsprächen. Vergessen wir nie, dass wir die unmittelbaren Erben des hl. Franz v. Sales sind.

Denn der Heilige hat wirklich Oblaten gewollt. Nur ein allzu schneller Tod hat ihn daran gehindert, sie zu gründen. Darum hat einige Jahre später ein heiligmäßiger Priester, Raymond Bonal von Rodaz versucht, diesen Gedanken zu verwirklichen. Zu diesem Zeitpunkt waren die Schriften unseres hl. Stifters noch nicht hinreichend bekannt, und man glaubte, er habe nichts anderes gewollt als die Schwestern der Heimsuchung. Die Stunde Gottes musste abgewartet werden. Erst die Gute Mutter verstand, dass die Stunde gekommen war, den Wunsch des hl. Franz v. Sales zu erfüllen und eine Kongregation von Ordensmännern und Priestern ins Leben zu rufen, die sich vom des Direktorium und von seinen Ideen der Seelenführung leiten ließen.

Mehrere Institute empfehlen sich durch den Titel von Salesianern, und der Generalobere eines dieser Institute stützt sich sogar auf die Lehren der Guten Mutter, die er als Inspiratorin seiner Tätigkeit bei den Seelen für sich zu beanspruchen scheint. Man findet ihren Weg lichtvoll und kräftigend, erhaben und ganz himmlisch. Man empfiehlt ihn den Priestern als einen sicheren und für alle passenden Weg. Man rühmt insbesondere die Gottvereinigung, auf die er abzielt und die er verwirklicht. Wer aber bloß das sieht, kennt die Gute Mutter nur halb. Er fasst das Ziel ins Auge, ohne sich um die Mittel zu diesem Ziel zu kümmern. Er jagt der Belohnung nach, ohne sich darum zu sorgen, sie auch zu verdienen. Er will zur Ekstase gelangen, ohne durch die mühselige Übung aller Tugenden zu gehen. Um die Gute Mutter unter ihrem richtigen und vollständigen Gesichtswinkel zu sehen, darf man von ihren Lehren nicht das wegnehmen, was ihren Schatz und ihren Reichtum ausmacht und was gerade die Schritte dessen absichert, der ihren Weg geht. Man muss sie vor allem mit dem Direktorium sämtlicher Tugenden bis hin zum Heroismus, bis zur Überwindung auch der kleinsten Unvollkommenheiten. Das ist ihr Lebensinhalt, ist das solide Fundament, auf dem man gründen muss, will man zu den Freuden und Wonnen der Gottvereinigung gelangen.

Nun haben aber wir allein das Geheimnis des Direktoriums überliefert bekommen. Wir allein steigen mit Hilfe des Direktoriums und seiner Beobachtung die Stufen jenes Aufstiegs der Seele zu Gott hinauf, die man so bewundert und die man den Seelen unablässig vor Augen führen. Darin täuscht man sich selbst und die anderen. In einer noch nicht weit zurückliegenden Zeit hisste eine politische Partei das Banner Christi: War es denn nicht Christus, der den Menschen als erster frei gemacht hat? Somit war er einer der ihren, und die ganze Partei war mit Herz und Verstand eins mit ihm. Man vergaß dabei bloß die vorhergehende und nachfolgende Seite des Evangeliums zu lesen. Da hätte man nämlich jene anderen Lehren entdeckt, die ebenfalls von diesem Christus stammen: Tut Buße… Nehmt euer Kreuz auf euch und folgt mir nach… Wer mein Fleisch nicht isst und mein Blut nicht trinkt, der hat das Leben nicht in sich und ist mir nicht verbunden… Die Gute Mutter allein inmitten von Verzückungen sehen wollen, indem man gar nichts auf die Treue Gottes gegenüber gibt, ist zwar schön und hinreißend. Nehmt ihr aber die verschiedenen Artikel des Direktoriums her, dann findet ihr Seiten, die euren Gang erhellen werden. Dieser Gang zum Licht und zur Ruhe in Gott ist jedoch mit groben Unebenheiten gespickt, die es erst zu überwinden gilt. So verstehen wir es, wir Oblaten des hl. Franz v. Sales, die wir die ganze Lehre empfangen haben, die wir nicht zerstückeln wollen, um vergeblich hinter einer Schimäre herzulaufen. Die Aufzählung all der schönen Dinge, die man all dem entnehmen könnte, mag vielleicht die Heimsuchungsschwestern erfreuen und die Herzen nach oben ziehen. Doch die Schwestern der Heimsuchung brauchen nicht zu fürchten, bei einer sterilen Bewunderung stehen zu bleiben, da sie zur Abwehr dieser Art von Gefahren das Direktorium besitzen, dazu noch die Ratschläge der Oberen und die rastlose Arbeit an ihrer Vervollkommnung mit Hilfe der Regeln und Satzungen. Den Weltmenschen lediglich die spekulative Seite der Lehre des hl. Franz v. Sales präsentieren, heißt die Seelen der unumgänglichen Gefahr aussetzen, das Ziel ohne die Mittel und Wege zum Ziel zu wollen und zu suchen. Misstrauen wir also den uneingeschränkten Lobeshymnen über den Weg der Guten Mutter, jenen Weg, der der unsrige ist. Denn dieser Weg erschöpft sich nicht, wie man anzunehmen scheint, in den Erleuchtungen der Seele und den Verzückungen des Herzens. Vergessen wir nie, dass man diesen Zustand der Gottvereinigung nur durch die großmütige und beständige Übung sämtlicher Tugenden erreicht, angefangen vom Vergessen und Geringschätzen seiner selbst bis zur Teilnahme am bitteren Leidenskelch.

Wir stehen in der Fastenzeit. Nehmen wir unseren Anteil am Kelch, den uns die Kirche hinhält. Die Abtötungen und Opfer werden doppelt verdienstlich während dieser Gnadenzeit infolge unserer Teilnahme an den geistlichen Gütern und Vorteilen der ganzen Kommunität. Zeigen wir vor allem größere Treue in der Pflichterfüllung und größeren Eifer in der buchstabentreuen Beobachtung des Direktoriums. Werden wir gute Ordensleute und bitten wir die Gute Mutter inständig um diese Gnade.

D.s.b.