Kapitel vom 21.02.1894: Über eine lebendige und aktive Arbeit
Ein Gesichtspunkt, den wir nicht übersehen dürfen, ist, dass die Kongregation der Oblaten wie jede etablierte Gesellschaft mit allen notwendigen Elementen ausgestattet sein muss, um zu leben und ihr Ziel zu erreichen. Eine Gesellschaft setzt sich aus Individuen zusammen. Jedes Einzelwesen muss sich angelegenheitlich darauf verlegen, die allgemeine Berufung zu begreifen, nicht nur die Berufung zu einer bestimmten Form des Ordensstandes, sondern auch die des geistigen Lebens im Allgemeinen. Wer zum Unterrichten fähig ist, sollte diese Fähigkeit pflegen. Fürs Unterrichten ist es nämlich gut, dass man sich fragt, was einem auf diesem Gebiet am besten nützt, und sich das aneignet. Gott hat uns mit Fähigkeiten und besonderen Neigungen ausgestattet, damit wir auf sie eingehen, natürlich unter der Leitung des Gehorsams. Die Oberen haben immer die Gnade, die Begabung eines jeden Untergebenen sicher zu erkennen, und indem sie diese Fähigkeiten klug fördern, sie auch zu entfalten, und zu erweitern. Fassen wir das Oblatenleben in dieser Weise auf, so bietet es neben all seinen übernatürlichen Vorzügen auch eine gewaltige natürliche Chance.
In der gewöhnlichen Pfarrseelsorge mag der Geistliche gleichgültig welche besonderen Neigungen haben, seine Berufung beschränkt sich darauf, Pfarrer oder Kaplan zu sein, und seine Pfarrei zu führen. Er ist verpflichtet, seine Neigungen und Fähigkeiten und seine persönliche Begabung zu vernachlässigen, weil das der Posten eines Pfarrers, mitunter sogar sehr gebieterisch, fordert. Mehr als einmal ist es ein ausgesprochenes Unglück, wenn sich ein Seelsorger mit etwas anderem als seiner Pfarrseelsorge abgibt. In Arcis kannte ich einen solch guten Pfarrer, der seine Zeit damit verlor, jeden freien Augenblick an episches Gedicht über die Jungfrau von Orleans zu verschwenden, das mit den Worten begann: „Glühend von einem inneren Feuer, gegen das ich mich vergeblich zur Wehr setze…“ Dieser erste Vers gibt zugleich die Note und den Ton für alles Folgende an, das ebenso langatmig wie langweilig war. Wäre Abbé Jaquier Ordensmann gewesen, so hätte man ihm einen Lehrstuhl für Literatur gegeben. Da hätte er dann seine literarischen Fähigkeiten entfalten können und er hätte etwas geleistet. So bietet der Ordensstand reiche Möglichkeiten für jeden, der arbeiten will und der in sich ein Talent verspürt.
Bei den Oblaten beschäftigt man sich mit allem. Das kann man jeden Tag erleben. Unsere Patres im Oranje-Freistaat haben eine herrliche Kirche gebaut, einen wahren Dom. Wer waren sie denn, um das zu vollbringen? Drei oder vier Patres und zwei oder drei Laienbrüder haben das geschafft. Ein englischer Unternehmer wurde nicht müde, dieses Werk zu bewundern. Jeder möge es sich darum, das ist mein formeller Wunsch, angelegen sein lassen zu sehen, was er leisten kann. Als wir letztes Jahr die Studienprogramme änderten, geschah es vor allem in der Absicht, dass jeder Pater sein Talent entfalte, seinen besonderen Stil entwickle und so zu vollem Erfolg gelange. Das muss zur Grundlage unseres Institutes werden. Wir sollen nicht weder warm noch kalt sein, sondern wir wollen etwas Persönliches sein und darstellen. Pflegen wir darum achtsam die Gabe Gottes und was er uns sonst geschenkt hat. All das wollen wir zum Wohl der Seelen und zum Besten der Genossenschaft verwenden. Das ist durchaus in Ordnung. Gott hat uns ein Talent anvertraut und will, dass wir es fruchtbar werden lassen. Wenden wir aber für etwas anderes viel Mühe auf, dann wird uns das weniger Erfolg einbringen.
Tun wir es nicht aus einem menschlichen Motiv, als Philosophen, sondern in ganz übernatürlicher Absicht. Ehren wir in uns die Gabe Gottes, suchen wir sie zu erhalten und zu vermehren. Tun wir es zum Dank für das Geschenk, das uns da übergeben wurde, damit wir auf diese Weise in noch innigeren Kontakt mit dem Willen Gottes kommen. Das ist also eine Frage der übernatürlichen Vollkommenheit. Es ist nicht gut, dass der Mensch allein bleibe, vom Nichts umgeben. Sorgen wir doch dafür, dass wir etwas haben zum Leben. Genügt denn das Direktorium und unser regeltreues Leben nicht? Nein! Der liebe Gott hat uns noch etwas anderes geschenkt. Gebrauchen wir gut dieses „andere“ in Vereinigung mit dem Willen Gottes, in großer Ehrfurcht vor dem Wirken und dem Einfluss des göttlichen Wollens in uns! Darum soll jeder wohl erkennen, wozu er befähigt ist. Er sage es ganz einfach dem Oberen. Dieser wird dann sehen, was getan werden kann, er wird die Anstrengungen seines Untergebenen nach dieser oder jener Richtung steuern. Und all das geschieht, damit wir in noch stärkerer Gleichförmigkeit mit dem göttlichen Willen leben und unsere ganze Existenz noch inniger mit diesem Willen verbinden.
Der hl. Stifter sagte, es sei allzu schwierig, einen Priester heranzubilden. Damit meinte er natürlich die Schwierigkeit, die darin liegt, dass jeder alle Gaben Gottes, die sich in ihm finden, auswerte und er immer treuer den Willen Gottes entspreche. Nichts verrät uns deutlicher den Willen Gottes für uns als die Tendenzen, die er in uns gelegt, die Fähigkeiten, mit denen er uns ausgestattet hat. Dank dieser Mittel wird jeder Oblate dahin gelangen, etwas in voller Übereinstimmung mit den göttlichen Absichten zu unternehmen, und jeder wird den ihm eigenen Weg gehen. Das ist das wirksamste Mittel, der hl. Kirche zu dienen, aktive Mitarbeiter des Klerus, der Bischöfe und der ganzen Kirche zu werden. Wir sind ihre Gehilfen und haben alles in der Hand, ihnen noch größere Dienste zu leisten, nachdem wir uns doch gründlicher vervollkommnen konnten auf unserem persönlichen Weg und auf dem Wissensgebiet, das uns am besten liegt. Welch wirksames Mittel, Gott zu ehren und ihm ein volles und vollkommenes Lob zu singen! Jeder möge sich also mit ganzem Herzen dem Amt hingeben, das ihm übertragen wurde. Er soll sich darin üben und weiterbilden, bis er es vollkommen beherrscht. Seien wir keine Männer, die ihre Arbeit nur so recht und schlecht verrichten. Behalten wir vielmehr unser Ziel fest im Auge und stellen wir einen persönlichen Wert dar.
Der hl. Ephräm hat gesagt: Denkt ohne Unterlass über Gutes nach, damit ihr nicht schlecht werdet! In der Tat, der menschliche Geist kommt nie zur Ruhe. Beschäftigt er sich nicht mit nützlichen Dingen, dann gibt er sich mit eitlen und nichtigen oder gar schlechten ab. Pflegt aber jeder seine persönlichen Anlagen, dann ist der Geist beschäftigt und sucht keine anderweitige Zerstreuung. Die Seele klammert sich dann an den Willen Gottes. Unser Leben bewegt sich so im guten Sinn, in der rechten Richtung. Wir gehen schnurgerade aufs Ziel los. Unter uns sollte es keine langsamen, schläfrigen, lauen und absterbenden Typen geben ohne Energie. Seien wir vielmehr lebhaft und aktiv bei der Arbeit. Beschäftigen wir unseren Geist stets mit nützlichen Dingen, wofür wir eine Begabung haben. Daran möge jeder, um es noch einmal zu betonen, denken und mit Eifer das entwickeln, was Gott in ihn gelegt hat. Wo immer wir ein gutes Resultat feststellen, wurde es erreicht, weil man in dieser Weise vorging.
Das hier Gesagte gilt in allem und unter allen Umständen, in der materiellen wie in der intellektuellen Ordnung. Betrachtet die Künstler: Um Künstler zu werden, braucht man nach einem geflügelten Wort drei Dinge: Geduld, Leidenschaft und etwas zwischen die Rippen (d.h. Nahrung, Essen & Trinken). Der Ordensmann hat wenigstens immer das nötige Essen, er braucht aber Leidenschaft. Wenn seine Fähigkeiten ihn zur Seelenführung oder zur Predigttätigkeit drängen, möge er das mit Leidenschaft und unter den Augen Gottes tun. Wo immer diese Wahrheit wohl verstanden wird, leistet man etwas. In solchen Häusern findet man großartige erzieherische Erfolge? Wo sich die Lehrer mit Lust und Liebe der Sache hingeben und sie zu ihrem Herzensanliegen machen. „Seid vollkommen, wie euer Vater vollkommen ist“, sagt der Herr. Und er fügt hinzu: „Mein Vater wirkt bis zur Stunde und ich wirke ebenfalls.“ Die Vollkommenheit, die unser Herr von uns verlangt, darf nicht nur in unserem Willen ihren Sitz haben, im guten Verlangen. Sie muss auch in den Tatsachen, in der Aktion, im Werk Ausdruck finden. Arbeiten wir Hand in Hand mit unserem Herrn, mit der Neigung, der Freude und dem Eifer, wie Gott sie uns eingepflanzt hat, dann wird er gemeinsam mit uns Hand ans Werk legen. Denkt an das, was ich diesen Morgen gesagt habe. Jeder öffne die Augen und gebe sich Mühe. Jeder verspreche, auf dem ihm eigenen Weg tüchtig zu schaffen.
Seht doch, liebe Freunde, wie die Lehre des hl. Franz v. Sales einfach und allumfassend ist, wie sie ins Schwarze trifft, wie sie wie eine Gussform wirkt, die alle Teile erreicht und was immer zu realisieren ist, auch erfasst, ohne da und dort eine Lücke zu lassen. Sie ergreift den einzelnen in seiner Ganzheit, um ihn vollständig zu informieren, um ihm selbst leichte Schattierungen zu vermitteln, die Gott für ihn gewollt hat, der ihn in seiner Begleitung vorankommen lassen will, ihn bei der Hand nimmt und ihn geraden Wegs zum Ziele führt.
