Kapitel vom 31.01.1894: Über die richtige Lebensweise im Sinne des Direktoriums
In Rom herrschte ein Kardinal, der nach dem Hörensagen 25 Sprachen beherrschte und alle übrigen verstand. Ein Professor des Großen Seminars von Troyes wünschte ihn zu sehen und zu hören und bat deshalb um eine Audienz. Der Kardinal fragte ihn nach dem Zweck seines Besuches. „Ich komme, um Ihnen meine Huldigung darzubringen, und Sie um Rat zu fragen.“ –„Ich verstehe, Herr Abbé, Sie sind begierig, ein lebendes Wörterbuch kennen zu lernen. Nun, dann schauen Sie mich nur gründlich an…“ Meine Freunde, mir scheint, jeder Oblate sollte denen, die ihn über den Geist des Institutes befragen, ebenso sagen können: Schaut mich nur an, ich bin ein lebendes Nachschlagewerk, ein lebendiges Direktorium. Gewiss mögen die einzuschlagenden Wege entsprechend den Dispositionen der Seelen wechseln. Sie dürfen sich aber nie von dem Weg entfernen, den uns das Direktorium weist. Das Direktorium muss das unterscheidende Merkmal bleiben, das den Oblaten ausweist. Die Übung des Direktoriums befähigt uns nicht nur, das Bild eines wahren Ordensmannes in uns auszuprägen. Wir gewinnen dadurch auch reichste Erleuchtungen, die unseren Verstand erhellen und ihm eine sichere und vertiefte Kenntnis der höchsten dogmatischen und moralischen Wahrheiten vermitteln. Darin schöpft man das geheimnisvolle Wissen, seine eigene Seele wie auch jene der anderen zu führen. Durch das Direktorium werden wir vollkommen, vollkommener als durch irgendeine andere Führung, so geschickt, so fromm und sicher sie auch sei. Jede andere Leitung fasst nämlich den Menschen in seinem äußeren Tun ins Auge und will dies regeln. Unsere Führung hingegen steigt ins Innere der Seele hinab und bemächtigt sich ihrer, um sämtliche Regungen der Seele und des Herzens zu regulieren in der Absicht, sie mit Gott zu verbinden. Aus diesem Grund müsste das Studium des Direktoriums unsere beständige Sorge sein.
Vom Erwachen bis zum Schlafengehen dürfen wir es nicht aus dem Auge verlieren. Es muss unsere Substanz werden, die solide Substanz werden, die unser Ordensleben unterhält. Betrachten wir die einzelnen Artikel nacheinander durch. Diese Betrachtung wird in unser ganzes Leben Ordnung bringen. Und Gott, der die Ordnung mit Auszeichnung ist, er, der allen Dingen Ordnung gegeben hat, zieht seine Ehre aus der schönen Anordnung, die er für das Universum gewollt hat, besonders für die vernünftige Kreatur. Mit Wohlgefallen blickt er auf die Ordnung im Nacheinander unserer Handlungen und wird uns das Wort der Schöpfungstage wiederholen: „Und er sah, dass es gut war.“
Früher stellte man eine Liste von 32 Vorschriften des Direktoriums zusammen, die täglich zu beobachten seien. Davon ist man abgegangen. Vielleicht müsste man aber darauf zurückkommen, damit alle, Professoren wie Novizen, sich an die exakte Praxis dieser Verpflichtungen gewöhnen. Denn ich sage es noch einmal: wir müssen wandelnde Direktorien sein bei den verschiedenen Beschäftigungen unseres Tagewerks. Das Direktorium ist die Gussform, die uns Gestalt geben soll, ist gleichzeitig ein sehr wirksames Mittel, uns gebildet, einsichtig und fähig zu machen, die geistlichen und materiellen Dinge zu verstehen, die Geheimnisse aller Wissenschaft zu durchdringen. Jedes Wort der Wahrheit geht von Gott aus, jedes Licht nimmt von ihm seine Strahlkraft: „Er war das wahre Licht, das jeden Menschen erleuchtet, der in diese Welt kommt.“ Ich sage also: Wir müssen echte Direktorien sein, dann sind wir auch echte Ordensleute, vollkommenere als es mit Hilfe einer äußeren Lebensregel gelänge. Eine solche würde uns wohl gute Gewohnheiten vermitteln, dies und jenes zu tun, könnte uns aber nicht so gut die Liebe zu diesem Tun einflößen.
Macht am Morgen eure Betrachtung mit dem Direktorium! Untersucht, ob ihr nicht gegen diese oder jenen Punkt der Ordensregel verstoßen, ob ihr der hl. Messe nach der Anleitung des Direktorium beigewohnt habt, und überlegt, welche Heilmittel sich dagegen anwenden lassen. Fasst dann feste und hochherzige Vorsätze, während des Tages das Direktorium treu zu befolgen. Es ist ja so gut, sich ihm zu unterwerfen, sodass jene unserer Patres, die dies tun, nicht müde werden zu beteuern, dass sie darin alles finden, was Herz und Seele brauchen. In gleicher Weise schöpfen sie darin unermessliche Schätze zugunsten der anderen, für die Beichte und die Predigt.
P. Boney schreibt und erzählt mir von all dem Guten, das das Direktorium in der Seelenführung wirkt. P. Pernin und alle Patres, die predigen, werden jedes Mal, wenn sie im Geist des Direktoriums sprechen, mit Frucht angehört und finden Anklang. Gewiss verkündigt man dieselben Wahrheiten an allen Orten. Man trägt sie aber nicht überall auf dieselbe Weise vor. Man liefert nicht die gleichen Beweggründe. Jene, die uns das Direktorium anbietet, entsprechen genau den Bedürfnissen aller Seelen. Dieser Einfluss unseres Direktoriums scheint sich in der Stunde, in der wir leben, allen Seelen aufzudrängen, die auf Fortschritt im geistlichen Leben bedacht sind. In zunehmendem Maße verspürt man heutzutage ein Verlangen, sich auf die Lehre des hl. Franz v. Sales zu stützen, sich seinen Geist zu Eigen zu machen, sich an der Glut seiner Liebe zu entzünden. Die ganze religiöse Bewegung unserer Epoche verläuft in dieser Richtung. An uns ist es, sie zu lenken, zu stützen, sie verständlich und praktikabel zu machen.
Erweisen wir uns darum als echte Oblaten. Unsere Seelenleitung möge allen zugänglich sein und, indem wir das Direktorium zur Regel unseres Denkens, Wünschens und Handelns machen, sollten wir alle in uns das Bild unseres seligen Vaters herausarbeiten, der seinerseits nichts anderes als ein getreues Abbild unseres Herrn war. Bedenkt nur, wie man von allen Seiten zu unserem hl. Stifter geht. Er steht an der Spitze der Bewegung unserer hl. Kirche. Schwester Marie Genofeva sagte mir einige Zeit vor seiner Erhebung zur Würde eines Kirchenlehrers, er werde bald zu einem der größten Gelehrten des Himmels erklärt und sei zurzeit mehr denn je beschäftigt und mit Aufträgen überhäuft. Ich glaube an die Worte der Schwester, die eine große Heilige war. Mir scheint, zwischen ihr und der Jungfrau von Orleans, die soeben den Titel einer Ehrwürdigen Dienerin Gottes bekam, bestehen überraschende Ähnlichkeiten. Schwester Marie Genofeva vernahm Jeanne d’Arc himmlische Stimmen, und alle Voraussagen, die sie mir machte, gingen bis heute in Erfüllung. Vor ihrem Eintritt in der Heimsuchung war sie Bauernmädchen, und als sie im Stall den Kühen das Fressen hinwarf, hörte sie zum ersten Mal Stimmen. Unser Herr erschien ihr. Um diese Zeit begann das Mädchen eitel zu werden und fand Freude an weltlichen Vergnügungen. Sie trug sich sogar mit dem Gedanken, nach Troyes zu gehen, um mit ihren kleinen Ersparnissen einige Schmuckstücke zu kaufen. Da sagte ihr aber der Herr: „Du suchst dich schön zu machen, während ich gelitten habe und für dich mit Schlägen gepeinigt wurde.“ Das junge Mädchen verstand die Warnung und sagte zu ihrer Mutter und Schwester: „Hier würde ich verderben. Es ist besser, ich gehe fort von hier.“ Sie zog nach Troyes und trat in den Dienst eines alten Fräuleins, bei der sie ein erbaulicheres Leben führen konnte. Sie wohnte im Dom immer der Frühmesse bei. Eines Nachts hielt sie das Mondlicht für helllichten Tag, stand eilig auf und war um 1 Uhr nachts am Domportal. Eine gerade vorbeiziehende Polizeistreife griff sie als Vagabundin auf und sperrte sie trotz ihrer Proteste für den Rest der Nacht in die Wachzelle. Ihre Herrin musste sie am kommenden Morgen dort abholen. Eines Tages kam sie am Portal der Bischofswohnung vorbei, wo soeben eine Hochzeitsgesellschaft aus dem Wagen stieg. Trotz eines heftigen Verlangens, die Braut anzuschauen, wandte sie die Augen ab. Beim Betreten des Domes hörte sie im Grund ihres Herzens deutlich unseren Herrn die Worte sagen: „Weil du nicht hinschauen wolltest, wirst du mich beständig sehen.“ Von diesem Augenblick an verlor sie nie mehr das Gefühl der Gegenwart Gottes.
Doch um auf Franz v. Sales und das Direktorium zurückzukommen, jeder von uns möge sich mit ganzem Herzen darauf konzentrieren. Machen wir bereits am Morgen unsere Betrachtung mit dem Direktorium, und fahren wir darin den ganzen Tag über fort. Natürlich werden Schwierigkeiten und Versuchungen auftreten, denn der große Fehler der Oblaten ist es, ihre Regel oft ohne Geschmack, ohne Lust, nur mühsam und gezwungen zu praktizieren. Vor allem die Anfänge dieses Lebens der Hingabe und Gottvereinigung sind mitunter schwer und erheischen große Anstrengungen. Doch abgesehen vom Verdienst dieser Mühen und dieser Ausdauer vermittelt uns die Gewohnheit, zu der wir schließlich gelangen, eine Leichtigkeit, Sanftheit und Einfachheit der Aktion, die unser Leben schon zu einem Begin des himmlischen Lebens im Himmel machen. Vergessen wir nie, dass das Direktorium es war, das einen Franz v. Sales, eine Gute Mutter und eine Schwester Marie Genofeva geformt hat. Das gleiche Direktorium hat jene berühmten Heimsuchungsschwestern geprägt, die unter den ersten in Frankreich literarisch so wertvolle Seiten geschrieben haben. Dagegen kann man nichts einwenden. Alle, die sich großmütig dem Direktorium unterworfen haben, wurden von großer Heiligkeit, Intelligenz und beachtlichem Adel geprägt. Das legte Bischof Coeur die Worte in den Mund: „Die Heimsuchung ist die Aristokratie des Himmels.“
Meistern wir also unsere Leidenschaften, beherrschen wir unsere Eigenliebe, verachten wir unser eigenes Wollen, um nur noch den Willen Gottes in uns walten zu lassen, zu dem wir mit Hilfe unsers Direktoriums jeden Augenblick in Treue „Ja“ sagen. So werden wir gewohnheitsmäßig in der Gegenwart des lieben Gottes leben, und unsere Seele wird alles aus der Hand Gottes entgegennehmen, Freude und Leid, Befehle und Zulassungen Gottes, und das nicht nur resigniert und kalt, weil es nun einmal sein muss, sondern energisch und liebend. Der Wille tut das, was er zu tun hat, einzig aus dem Grund, weil er Gott gefallen und von ihm geliebt werden will. Wir aber finden die beste Art und Weise, Gott zu gefallen, in der treuen Übung des Direktoriums.
D.s.b.
