Kapitel vom 24.01.1894: Über die Würde und die Sendung der Oblaten
Im letzten Kapitel sprach ich über das Wort des hl. Stifters: Habt guten Mut! Heute will ich euch zurufen: Habt einen starken Mut! Denn wir Oblaten sind zwar als Kongregation erst im Entstehen, haben aber doch schon Beweise unseres Könnens abgelegt. Gottes Gnade scheint bereits in überreichem Maße auf das herabgestiegen zu sein, was wir in Angriff nahmen. Wir haben also schon ein gewisses Alter erreicht. Infolgedessen kommt es darauf an, mit hohen Mut sich einzusetzen, und unsere Ehre da reinlegen, Oblaten des hl. Franz v. Sales zu sein. Werdet euch also klar über eure Würde und eure Sendung, und diese Einsicht wird nicht ohne Folgen bleiben.
Ein erster Beweggrund, gut zu erfassen, was wir darstellen sollen, ist der, dass es eine ganze Reihe von Kongregationen gibt, die unter dem Namen und dem Banner des hl. Franz v. Sales arbeiten. Einige von ihnen scheinen sich sogar das Erbe und die Verheißungen der Guten Mutter aneignen zu wollen. Ich suche mit niemandem Streit, nein, bestimmt nicht. Aber ich weiß mehr als irgendjemand, was die Gute Mutter gesagt hat. Natürlich kann jeder ihre schönen und treffenden Lehren sich zu Eigen machen. Was aber den Umstand betrifft, dass wir allein ihre wirklichen Erben und Söhne sind, dass wir die direkte und umfassende Überlieferung ihrer Lehre und ihres Geistes besitzen, dieses Erbgut kann uns im Ernst niemand streitig machen. Ich weiß zu gut, was sie mir anvertraut und tausendmal wiederholt hat: Unsere Patres sind ihre echten Erben und besitzen ihre wahre Lehre, diese entscheidende Gnade hat Gott ihnen anvertraut. Davon wollen wir ausgehen, meine Freunde, das ist unser Seinsprinzip. Wir bringen sicher große Hochachtung allen Vereinigungen entgegen, die sich auf den hl. Franz v. Sales oder gar die Gute Mutter berufen. Wir müssen uns wohl davor in Acht nehmen, sie zu verachten. Deshalb dürfen wir aber unsere Vorrechte nicht aufgeben, sondern wir wollen sie zu verstehen trachten. Wir können doch ohne Weiteres behaupten, den Geist der Guten Mutter zu besitzen, ohne dass wir deshalb die anderen herabsetzen.
Abbé Chaumont ist ein sehr ehrenwerter Priester, der alles Vertrauen verdient. Ich bringe ihm eine besondere Hochachtung entgegen. In einem Buch las ich, seine Vereinigung sei die Erbin der Verheißungen der Guten Mutter. Verstehen wir uns wohl: Herr Chaumont war gekommen, der Guten Mutter einen Besuch abzustatten. Er hatte bereits zahlreiche apostolische Werke des hl. Franz v. Sales ins Leben gerufen und wollte nun die Gute Mutter Maria Salesia fragen, ob er Oblate werden sollte. Diese aber antwortete ihm: Tun Sie Ihre Arbeit! Was Abbé Chaumont tut, ist also eine gute und ausgezeichnete Sache. Eine große von Priestern und eine Menge Laien führte er auf den Wegen einer ziemlich rigorosen Vollkommenheit. Das ist gut, und wir können uns darüber nur freuen. Ganz bestimmt tut sich da etwas sehr Gutes, ein bedeutend größeres Werk, als wir bisher vollbracht haben, wie es scheint. Ich muss aber hinzufügen, dass die Lehre, die Herr Chaumont verbreitet, nicht ganz mit der unsrigen übereinstimmt. Sie spiegelt nicht denselben Geist wider. Der liebe Gott hat die Menschen nicht nach einer Schablone gemacht. Die Geister unterscheiden sich voneinander. Das hat Gott so gefallen, und wir haben es zu respektieren. Begreifen wir gut, dass wir Oblaten den Auftrag haben, die Lehre der Guten Mutter auszubreiten und sie folglich auch zu praktizieren. Wir sind dazu berufen, die gewaltigen Gnaden, die Gott mit diesem speziellen Weg verknüpft hat, zur Entfaltung zu bringen und Frucht tragen zu lassen.
Soll das heißen, dass der Weg der Guten Mutter der einzige ist, der zum Himmel führt? Ganz bestimmt nicht, es gibt noch viele andere und ganz vortreffliche. Dieser aber ist gut, sicher, leicht und für uns wie für die Seelen, die Gott zu uns schickt, der beste. Jeden Tag erhalte ich Briefe, von allen Seiten und aus allen Ländern, und alle bestätigen mir, dass man auf diesem Weg etwas findet, was man anderswo vergeblich sucht und was aufs Genaueste dem entspricht, was die Menschen von heute brauchen. Und das ist unser Anteil, unser Eigentum. Wir haben die Pflicht, es zur Geltung zu bringen. Täten wir es nicht, würden wir uns nicht mit ganzem Herzen dafür einsetzen, dann könnte der liebe Gott es uns wegnehmen, so wie er die Fackel des Glaubens von einem Land in ein anderes verpflanzt: „Ich werde den Leuchter wegrücken.“ Wäre das nicht höchst bedauerlich? Alle aber, die großmütig sich auf diesen Weg einlassen, sehr nur, wie der liebe Gott sie stützt und welche großen Vorteile sie daraus ziehen! Es passt für alle, und der liebe Gott hat daran Wohlgefallen. Es ist ein mächtiges und wirksames Mittel, die Tugend zu betätigen und in den Himmel zu kommen. Fassen wir also hohen Mut im Angesicht solch einer Aufgabe, und diese Begeisterung soll darin bestehen, alles, was uns obliegt, gut zu verrichten. Seid wohl überzeugt, meine Freunde, dass jeder Oblate, der sein Direktorium treu befolgt, den Seelen mit Sicherheit als ausgezeichneter Seelenführer dient. Dass er alle Seelen ohne Ausnahme führen kann, will ich nicht behaupten. Ich möchte niemand Unrecht tun. Es mag durchaus Seelen geben, die ihn nicht verstehen. Die ihn aber verstehen, werden gewaltigen Nutzen daraus ziehen, Seelenfrieden und Zuversicht gewinnen.
Frau B. hat soeben ihre Tochter den Oblatinnen übergeben. Eine wirklich heiligmäßige Person. Es gibt keine Tugend, die sie nicht auf eine großmütige und bewundernswerte Weise übt. Ihre Tochter aber, die unsere Schülerin war, betet inständig dafür, dass ihre Mutter eine Heilige nach dem Geist des hl. Franz v. Sales wird. Die arme Frau verkostet nämlich keine der Freuden des frommen und christlichen Lebens. Ihr Weg kennt nur Härten und Prüfungen aller Art. Kommt sie in den Himmel? Das fragt sie sich unablässig mit Angst. Welch eine geprüfte Seele, keine Wohltat, keine Freude und Gewissheit eines wahrhaft christlichen und friedlichen Lebens zu verkosten! Es ist aber sehr beachtlich, wie viele Seelen auf solch einem Wege dahin schreiten! Das ist bestimmt eine neuerliche, verdienstvolle Heimsuchung für sie. Das disponiert sie für die Heiligkeit. Hätte diese gute Dame aber den Geist des hl. Franz v. Sales, dann könnte sie einen viel stärkeren Einfluss auf ihre Söhne ausüben, die kaum auf ihre Mutter hören, und sie selbst könnte ein glückliches und friedvolles Leben führen. Gewiss verlangt der liebe Gott von ihr nicht, was sie nicht versteht. Von uns aber verlangt er, dass wir die Seelen auf diesem Weg führen. Arbeiten wir also an unserer Heiligung, weniger vielleicht in der Absicht, außergewöhnlicher Gnaden für uns selbst teilhaft zu werden als sie vielmehr den anderen zu erschließen.
Wie aber können wir selbst von den Gnaden Gottes profitieren? Die Gute Mutter sagt oft, es sei nicht schwierig, manche, wenn nicht sogar viele Gnaden des lieben Gottes zu verscherzen. Überzeugt von unserer Untreue müssen wir uns davor wohl hüten, uns höher zu schätzen als die anderen. Setzen wir uns vielmehr allen Menschen nach. Wir haben ein Amt inne. Seien wir überzeugt, dass wir es nur mangelhaft ausfüllen. Das entspricht nur zu sehr der Wahrheit. Müht euch ab, die Gnaden des Lieben Gottes auf die Seelen auszugießen, und zwar, um es noch einmal zu sagen, dadurch, dass ihr danach trachtet, mit großem Mut all eueren Verpflichtungen gut, ja vollkommen nachzukommen. Ihr seid Prediger: bereitet eure Predigten mit vollkommener Gewissenhaftigkeit vor. Ihr seid Lehrer: Erteilt mit ganzer Hingabe einen guten Unterricht. Und so alles und überall, ob es die Aufsicht oder sonst eine Arbeit betrifft. Lasst euch bei all eurem Tun von der Absicht leiten, es so gut wie nur möglich zu verrichten. Das ist genau die Lehre des hl. Franz v. Sales, dass wir versuchen, eine möglichst vollständige Perfektion und Liebe in all unser Tun zu legen.
Strebt nach Vollkommenheit in euren Arbeiten, in euren verschiedenen Ämtern, in eurem ganzen Verhalten. das muss euch ein Herzensanliegen sein. Geht mit großem Mut an die Verwirklichung. In eurem persönlichen und privaten Leben wie in euren Beziehungen zum Nächsten sollte dies eure beständige Sorge sein.
Wo immer der Gehorsam euch hinruft, strebt dort leidenschaftlich nach Vollkommenheit. Lest nur in der letzten Nummer der Annales den Artikel des Pater Bonny über eine These der Sorbonne. Seht nur, wie trefflich, exakt und neuartig alles ist, was er da schreibt. Das ist kein Abklatsch von irgendeinem Buch oder sonst etwas. Darin steckt ein tiefer Gedanke, echte Substanz. Er nährt sich mit dem Direktorium. Das belebt seinen natürlichen Verstand und gibt ihm die Gnade, gut zu erkennen und das Erkannte trefflich zu sagen. Geht man, ausgerüstet mit diesem übernatürlichen Licht, das die natürliche Intelligenz befruchtet, an eine Frage heran, dann versteht man sie, erfasst sie in der Tiefe, durchschaut sie unter ihrem wahren Blickwinkel und zieht exakte Folgerungen. Was immer man in diesem Lichte angreift, wird gut, harmonisch und angemessen. Wir sind nur auf Grund unseres Direktoriums und unserer Satzungen Oblaten. Mit deren Hilfen werden wir zwangsläufig dahin gelangen, unserer Pflichten uns vortrefflich zu entledigen.
Alle Probleme, alle Arten von Studien, alle Arbeiten und Unternehmungen werden so zu einem guten Ende kommen. Unsere Seele, unser Verstand und unser ganzes Leben wird sich in vollkommener Ausgeglichenheit befinden. „In ihm war das Leben und das Leben war das Licht der Menschen.“ Halten wir uns darum für verpflichtet, voll hohen Mutes alles, was uns obliegt, gut zu besorgen, uns mit Eifer hinzugeben und alles ins Werk zu setzen, um es zu größtmöglichem Erfolg zu führen. Sind wir in dieser Verfassung, dann verleiht uns Gott Einsicht und wahre Erkenntnis dessen, was zu unserem Pflichtenkreis gehört. Dieses innige Verbundensein mit der göttlichen Erkenntnis und dem göttlichen Leben wird unseren armseligen Fähigkeiten, wunderbare Hellsichtigkeit und Kraft verleihen. Gewiss gibt es unter den Ungläubigen und jenen, die sich nicht auf Gott verlassen, intelligente Menschen. Man kann nicht behaupten, dass der Unglaube allein die Seele abstumpft und aller Spannkraft beraubt. Sicher ist aber, dass er vieles wegnimmt. Wären diese armen Menschen gute Christen, wären sie viel intelligenter.
In den letzten Tagen machte ich die Beobachtungen, dass der gegenwärtige Unterricht darauf hinauszugehen scheint, den Verstand der jungen Menschen abzustumpfen. Statt die Kinder im Katechismus und der Biblischen Geschichte zu unterrichten, statt sie mit der höchsten Wahrheit bekannt zu machen, stumpft man ihren Geist ab mit Dingen, die ihnen das bisschen Verstand rauben, das ihnen noch verblieb. Den kleinen Mädchen bringt man jetzt bei, was eine „dumme Gans“ ist. Sie brauchen sich also selbst anzuschauen oder vielmehr ihre Lehrerinnen, die ihnen so schöne Sachen eintrichtern… Man setzt nichts Ernstes mehr in die Köpfe der Kleinen, nicht die leiseste Vorstellung von moralischen Begriffen. Gegen all das heißt es angehen. Das zeigt euch, wie groß und wichtig eure Sendung ist! Die Welt verblödet, die Moral liegt im Argen, die Welt des Geistes verfällt mehr und mehr. Darum müssen wir ganz auf der Höhe unserer Berufung stehen, um die uns anvertrauten Seelen aufzurichten und sie zum Niveau der christlichen Lehre emporzuheben.
Als der hl. Ignatius seinen Orden gründete, tat er es, um den Protestantismus zu bekämpfen. Auch Franz v. Sales wollte einen Kampf führen, um das Gesetz Gottes auf diese Erde zurückverpflanzen, das Reich des Friedens, das durch den bloßen Einfluss der Gnade und Wahrheit die Herzen wieder gesund macht. Gott aber braucht Diener, Werkzeuge seiner Barmherzigkeit. Damit die Menschen verstehen, müssen sie erst hören. Wie sollen sie hören, wenn niemand zu ihnen spricht? Wie kann man aber sprechen, ohne dass man etwas weiß? Haben wir also diesen hohen Mut, all das so gut wie möglich zu tun. Seien wir tief durchdrungen von der hohen Gnade unserer Berufung! Tragen wir heiliges Feuer in unseren Herzen. Dieses heilige Feuer brauchen wir, wenn wir unser Werk zu gutem Ende führen wollen.
Nächsten Sonntag feiern wir das Fest des hl. Franz v. Sales. Bitten wir den Heiligen, damit wir verstehe, was wir verstehen, was er von uns erwartet. Betrachten wir uns als Erben seiner schönsten Verheißungen. Machen wir uns ans Werk! Ich sage oft dieselben Dinge. Noch einmal betone ich. Ich will nicht, dass wir uns über den hl. Petrus stellen. Er, d.h. Franz v. Sales, stand unter ihm. Aber dank seiner größeren Treue stand er dem Herzen unseres Erlösers näher. Ich darf das behaupten, weil wir die viel geliebten und bevorzugten Söhne unseres hl. Stifters sind, weil wir allein sein Direktorium, sein intimes Seelenleben, sein Herz besitzen. Die Gute Mutter hat uns diese erlesene Erbschaft vermittelt. Rom hat sie uns bestätigt. Wir haben herrliche Verheißungen zu unseren Gunsten, bestätigt durch die Approbation unseres Hl. Vaters. An uns ist es, in die Fußstapfen des hl. Stifters zu treten und uns von niemand überholen zu lassen. Wir wollen dieses Fest des hl. Franz v. Sales gebührend feiern. Wir bereiten uns mit unserem ganzen Herzen darauf vor, indem wir besser unsere Betrachtung halten und treuer sind. Ja, verbringen wir einige Tage der Treue. Dann erlangen wir vom lieben Gott alles, was wir wollen.
D.s.b.
