Kapitelvorträge für die Oblaten 1873-1899

      

Kapitel vom 13.12.1893: Nächstenliebe ist unser eigener Charakter

Etwas, was ich noch nicht genügend zum Ausdruck gebracht habe, kommt mir ins Gedächtnis zurück und verpflichtet mich, es euch einzuschärfen. Nur dann wird in Zukunft dieser wichtige Punkt klar gesehen, und niemand kann ihn ignorieren. Das gegenwärtige Wohlergehen wie auch die Zukunft unserer Genossenschaft hängen von unserer Treue ab, mit der wir gerade diesen Punkt beachten: Ihr habt wie ich mit Traurigkeit feststellen können, dass ein Nachwuchs an jungen Novizen sich nur schwer einstellt. Wir nehmen nicht in genügendem Maße zu, um den Bedürfnissen unserer Häuser und dem Ansuchen von Bittstellern zu entsprechen. Woher kommt aber diese Sterilität an Berufen? Wir alle müssen eingestehen, dass die Hauptursache dieser Unfruchtbarkeit bei uns selbst liegt: Wir haben das Gebot der brüderlichen Liebe zueinander nicht ernst genug beobachtet! Gewiss haben wir uns nicht gegenseitig zerrissen. Aber wie viel kleine Angriffe, wie viel freventliche Urteile, wie viel übelwollende Kritik könnten wir feststellen, wenn wir in der Vergangenheit ehrlich nachforschen würden! Das steht aber in flagrantem Widerspruch zu unserem ordenseigenen Geist! Und das hat mehr als einen skandalisiert und sie von uns entfernt. Was einen Orden oder eine Kongregation ausmacht, sind im Letzten nicht die drei Gelübde. Sonst bestünde ja kein Grund, dass es deren mehrere gibt. Was vielmehr die Vielzahl der Orden rechtfertigt, was daraus eine Kraftquelle und einen Reichtum für die Kirche macht, ist der individuelle Charakter, der sie voneinander unterscheidet.

Was ist aber das Charakteristikum der Oblaten, das bewirkt, dass wir keine Benediktiner, Franziskaner oder Jesuiten sind? Unser unterscheidendes Merkmal ist die Liebe. Der hl. Franz v. Sales hat es so trefflich definiert und seinen Willen so eindeutig zum Ausdruck gebracht, dass er sie zum einzigen Band seiner Heimsuchungsschwestern zu machen wünschte. Gewiss, er musst sich den Forderungen seiner Zeit beugen und die drei gewöhnlichen Gelübde auferlegen. Dennoch hält er an der Lieb als der Wächterin seiner Kongregation fest. Es ist also die Liebe und die Liebe allein, die die verschiedenen Heimsuchungsschwestern untereinander verbindet, und dieses Band war stark genug, um sie in der treuen Beobachtung ihrer Regeln zu erhalten.

Und das muss auch für uns Geltung haben. Woher rührten gewisse Reibereien, gewisse Schwierigkeiten, die wir so schmerzlich in einigen unserer Häuser erleben mussten? Aus dem Mangel an Liebe. Der ordenseigene Geist der Oblaten hatte sich in einen Partikulargeist verwandelt, der uns zu Oblaten eines bestimmten Hauses, aber nicht aller Häuser machte. Gewiss war eine wirkliche Spaltung nicht zu befürchten, aber doch hatten wir unseren Charakter verleugnet. Mehrere unserer Schüler haben mir gestanden, sie hätten einen Augenblick daran gedacht, bei uns zu bleiben, hätten sich aber dann wegen der mangelnden junge Leute und Priester stießen von anderswoher zu unseren Reihen. Sie konnten den gleichen Fehler feststellen und sie haben sich wieder verfehlt. Wir haben unsere Worte und Urteile nicht genug überlegt. Hier muss ein Wandel eintreten. Ist es denn nicht selbstverständlich, dass die einzelnen Familienmitglieder sich gegenseitig helfen, verteidigen, schätzen und lieben? Nur dann vermeiden wir alles gegenseitige Verleumden, wir wahren darüber hinaus in den Augen unserer Schüler und aller, mit denen wir seelsorgerlich und sonst wie zu tun haben, unsere Würde und unseren Wert.

Beobachtet doch die Jesuiten: nie kommt von ihren Lippen ein anders Wort als Lob zugunsten ihrer Patres. Dieselbe Liebe erwarte ich in Zukunft von euch. Diese Liebe soll in eurer Wertschätzung denselben Rang einnehmen wir der Gehorsam, wenn nicht einen höheren. Ihr gehorcht auch nicht, weil euch euer Verstand die Weisheit des gegebenen Befehls bezeugt. Nein, ihr gehorcht ganz einfach auf ein Wort eures Oberen hin, und gerade dadurch wird euer Gehorsam religiös und verdienstlich. Lasst uns die Liebe im gleichen Geist üben. Ist es denn nicht das besondere Gebot des Herzens Jesu, das ihm besonders teuer war: Liebet einander?
Ist das nicht sogar die Substanz des Geistes unseres hl. Stifters? Darum wünsche ich dringend, dass sich jeder von uns in diesem so wesentlichen Punkt überwache und sich durch ein Gelübde von 8 oder 14 Tagen oder einem Monat verpflichte, gegenüber allen Mitbrüdern, Schülern und Außenstehenden die Liebe zu üben. Darüber soll man dann seine Kulp machen. (Anm.: „Hier fehlt etwas im französischen Text. Es heißt dann weiter…:“) keineswegs approbiert zu werden. Ein Kapuzinerpater wollte unseren Satzungen körperliche Bußübungen zugefügt wissen. Doch ein Kardinal wandte ein: „Fügen Sie diesen Regeln nichts hinzu. Wenn die Oblaten sich in der Übung des Gehorsams und der Liebe treu erweisen, haben sie Gott mehr Opfer anzubieten als sämtliche Kapuziner, selbst die abgetötetsten, es mit Fasten und Geißelungen tun.

Beten wir um diesen Geist der Liebe, der uns allein zu wahren Oblaten zu machen vermag. Wenden wir uns insbesondere an unsere Gute Mutter Maria Salesia. Sie war so treu in diesem Punkte, dass alles Zeugen des Heiligsprechungsprozesses bestätigt haben, dass sie die Gute Mutter nie bei einem Verstoß gegen diese Tugend überrascht haben.