Kapitel vom 20.12.1893: Die Nächstenliebe ist wesentlich für den Wohlstand der Ordensgemeinde.
Ich komme noch einmal auf das Thema des letzten Kapitels zurück: die Nächstenliebe. Unsere Liebe darf in uns nicht bloß im Zustand einer Tugend verbleiben, andernfalls würde ihr Entschlossenheit und Ausdauer abgehen. Sie braucht einen bestimmteren und umfassenderen Charakter, sie braucht alles, was das Gelübde schützt, stärkt und begründet. Der Gehorsam, ich wiederhole mich hier, setzt im Oberen weder eine überragende Intelligenz noch einen größeren Weitblick noch eine vermehrte Sicherheit darüber voraus, was zum Wohl einer Kommunität erforderlich ist. Der Ordensmann gehorcht, weil er das Gelübde des Gehorsams abgelegt hat, und nur unter dieser Bedingung ist sein Gehorsam verdienstlich. Die Liebe der Oblaten nun muss sich unter den gleichen Bedingungen betätigen. Was verschlägt es schon, wenn ein Pater oder Bruder nicht meiner Neigung entspricht? Wir lieben ihn ja nicht wegen seiner persönlichen Qualitäten, sondern weil unser ordenseigener Geist der Geist der Liebe ist.
Wenn wir ins Postulat eintreten, bringen wir Ansichten, Gedanken, Urteile und eine Art zu handeln mit, die durch unsere Beziehung und unsere Lebensumstände bedingt sind. Es ist nun schwer, sich selber aufzugeben, sein ganzes Selbst abzustreifen. Nur die Liebe vermag dies. Welche beherrschende Tugend auch immer Herzen und Geister verbinden mag, die Liebe allein stellt das Lebenselement und das Prinzip des Gedeihens für die Kongregation dar. Was immer außerhalb der Liebe geschieht, hat eine auflösende Funktion und stellt die Zukunft unserer Genossenschaft in Frage.
Einer unserer Patres erhält einen Gehorsam, soll eine Predigt halten oder einen Unterricht erteilen. Haben wir den Geist der Liebe, dann ermuntern wir diesen Pater, sprechen mit Hochachtung von ihm, loben seinen Eifer und freuen uns über seine Erfolge. Oder aber, wenn wir wegen der Art seiner Pflichterfüllung Vorbehalte zu machen haben, dann hüten wir uns peinlich, ihn zu tadeln. Wir setzen vielmehr in diskreter Weise den Oberen ins Bild, wenn sich die Sache lohnt. Was aber haben wir bei mehr als einer Gelegenheit getan?
P. Pernin baute ein kleines Noviziat auf. Es handelte sich da also um ein Werk erster Ordnung, eine ausgezeichnete Sache, von der wir mit Recht ernste und wichtige Ergebnisse erwarten durften. Ein Werk also, das uns bislang fehlte. Ihr kennt die Schwierigkeiten zu gut, die wir mit unserem Nachwuchs heute haben. Gewiss war nicht alles bei diesem Versuch vollkommen. Doch statt dem Pater zu helfen, ihn bei seinen Bemühungen zu unterstützen, und seinem Werk jede Entfaltung zu wünschen und ein Gedeihen, das ihm sicher schien, fand es mehr als einer geistreich, über seine kleinen Novizen zu spötteln und diesen so lobenswerten Versuch herabzusetzen. Diese Nadelstiche aber, gerade von Seiten solcher, die ihre Unterstützung hätten beisteuern müssen, führten schließlich dazu, die Schar von Knaben und jungen Burschen aufzulösen, die mit Hilfe des Geistes der Liebe zum Segen für das ganze Kolleg und zu einer reichen Pflanzstätte für Ordensberufe geworden wäre. Was uns davon an Berufen geblieben ist, rechtfertig meine Behauptung.
Ein anderes Beispiel: Wir haben für unsere Schüler ein religiöses Handbüchlein abgefasst. Dieses kleine Büchlein der Frömmigkeit ist geschickt aufgebaut, nicht sehr überladen, in einem tadellosen Stil geschrieben und in einem sympathischen Gewand präsentiert. Es gibt den Geist des hl. Franz v. Sales in reinster Form wieder. Ich halte es für eins der besten, wenn nicht das Beste seiner Art. Ich habe es gebilligt und auf jede Weise seine Verbreitung gefördert. Und das ist wohl Beweis genug für meine Hochschätzung. Es entsprach im Übrigen einer ausdrücklichen Weisung des Gehorsams. Was geschah damit? Das Büchlein hatte nicht das Glück, allen zu gefallen, und man verweigerte ihm in einigen Häusern den Eingang, wozu nicht nur die Liebe, sondern auch der Gehorsam verpflichtete. Wenn ich an diese bedauerlichen Vorfälle erinnere, tue ich es nicht, um mich zu beklagen. Ich glaube nämlich nicht, dass auch nur einer meiner Ordensleute es über sich brächte, mir durch formellen Ungehorsam oder Widerspruch Pein zu bereiten. Ich will hier nur die beklagenswerten Wirkungen des „persönlichen Geistes“ aufzeichnen. In Zukunft wird das anders werden. Wir werden uns mehr als in der Vergangenheit mit dem wahren Oblatengeist durchdringen. Gegen jeden und in allem wollen wir eine zarte, zuvorkommende Liebe wahren, die stets bereit ist, unsere Patres und ihre irgendwie geartete Werke zu unterstützen, zu verteidigen, zu ermutigen und zu loben. Denn es gibt keinen Menschen, besonders keinen Ordensmann, der nicht unter irgendeinem bestimmten Gesichtspunkt Lob verdiente.
Wäre es nicht von unserer Seite abscheulich, durch unüberlegte Kritik gewisser Unvollkommenheiten das Gute in unseren Patres zu vernichten statt es zu nutzen? Vergessen wir nicht: immer wenn wir uns gegen einen Mitbruder verfehlen, versetzen wir der ganzen Genossenschaft einen bösen Schlag. Auf diese Weise wurde unser Mangel an Liebe Ursache dafür, dass einige uns verließen, ich sage es noch einmal, weil ich täglich neue Beweise dafür bekomme, und dass uns vielleicht eine große Zahl von Berufen verloren gingen. Und doch geht uns gar nichts ab, um eine Kongregation darzustellen, die die allgemeine Achtung und Ehrfurcht verdient: Wir besitzen die formelle und lobende Billigung der hl. Kirche und des Papstes. Unser Geist hat als Basis die schönste der Tugenden, die Liebe, und unsere Apostolatswerke üben eine starke Anziehungskraft aus auf alle großmütigen Herzen, die die Kirche und die Seelen lieben. Unsere Novizen bereiten wir durch ein ernstes Studium der Theologie und den unmittelbaren Einsatz ihrer Fähigkeiten auf diese Werke vor, und das auf eine Art, dass ihren Studien und ihrer religiösen Formung in keiner Weise Abbruch tut.
Ich kenne sehr viele Kongregationen. Alle besitzen zweifellos echte Elemente des Lebens und weiter Ausbreitung. Ich sehe aber keine, auf die wir in heiliger Weise eifersüchtig sein müssten. Jene, die zuerst bei uns eintraten, nachher aber glaubten, sie fänden anderswo einen sichereren Weg, sind zu uns zurückgekehrt und haben gestanden, dass sie ihr Weggehen bedauern. Wie groß wäre erst ihr Bedauern, wenn wir ihnen allezeit unser lauteres, entschlossenes und beharrliches Charakteristikum, die Liebe, vorgelebt hätten! Darum bitte ich euch: lasst es niemals zu Eifersüchteleien und Empfindlichkeiten unter uns kommen. Da beweist man z.B. einem Pater großes Vertrauen als Professor oder Direktor. Es will uns nun scheinen, die mindere unser Prestige und unsere Autorität. Habt Erbarmen! Zerbrecht nicht in seinen Händen diesen Hebel, der die Seelen emporhebt und die Herzen empor reißt! Haben wir denn nicht Anteil an allem Guten, das dieser Pater wirkt? Dürfen wir denn nicht an der Freude und dem Glück teilnehmen, das die Seelen erfüllt, die unsere Seelenführung begreife und befolgen, mag sie ihnen durch uns selbst vermittelt werden oder durch einen unserer Mitbrüder? …
Suchen wir doch das Vertrauen der Seelen zu wecken, ohne uns selbst dabei zu suchen. Machen wir unser Herz weit: Wie die Menschen zu uns strömten, wenn wir in dieser hochherzigen Weise verführen! Warum soll man denn bei einem Oblaten nicht lieber zur Beichte gehen als bei einem Weltgeistlichen? Eine lange Erfahrung hat mir bestätigt, dass unsere Seelenführung den Seelen am besten bekommt. Es gibt keine sanftere und sichere Methode, die mehr Gottesgeist atmet. Jede andere legt Anstrengungen, Leiden und Zwangsmittel auf, die wir nicht kennen. Dieser oder jener Pater ist Prediger: wir sollen ihn ermuntern, indem wir ihm sagen, er spreche gut. Predigt er besser als wir, umso besser. Freuen wir uns über das Gute, das er wirkt, unterstützen wir ihn und ahmen wir ihn nach. Oder ein anderer Pater hat Talent zum Schriftstellern: Geben wir doch zu, dass er seine Sache gut macht. Bringen wir ihn zur Geltung und Ansehen! Soll das heißen, es gäbe nichts an ihm auszusetzen? Wo gibt es auf dieser Erde schon etwas Vollkommenes?
Vor anderen wollen wir ihn jedenfalls nie angreifen, wenn uns etwas an seiner Sprechweise missfällt. Hören wir insbesondere niemals auf die so kleinliche und niedrige Stimme der Eifersucht! Machen wir ihm vielmehr Mut und sagen wir ihm reiche Früchte voraus in seinen Unternehmungen, wertvoll in den Augen Gottes und nützlich für den Nächsten. Jeder tut ja, was er kann. Du bist z.B. Lehrer: dem Studienpräfekt allein steht es zu, zu befinden, ob es an deiner Unterrichtsmethode etwas auszusetzen gibt oder nicht. Meint aber ein Mitbruder wirklich, du verdienst eine Mahnung, so möge er sich diskret an den Oberen wenden, und hüte sich, zu kritisieren und in schlechten Ruf zu bringen.
Ich fasse zusammen: Liebe und nochmal Liebe, Achtung vor den Personen, Achtung gegenüber Ideen und Achtung vor dem Tun der anderen! Urteilen wir nicht über Mitbrüder, besonders nicht vor anderen. Mögen unsere Worte unserer Kongregation nie zum Schaden, sondern stets zur Erbauung gereichen! So bilden wir alle zusammen ein einziges Gebäude, solide aufgeführt und durch einen einzigen Architekten ins Werk gesetzt, durch die Liebe. Erbitten wir diese Liebe vom Jesuskind, das auf die Welt kam und ihr nur ein einziges Gebot auferlegte, sein Gebot: Liebet einander! Bitten wir den hl. Franz v. Sales, uns seinen Geist zu schenken und erflehen wir von der Guten Mutter Einsicht und Liebe zu diesem Geist.
Gott sei gebenedeit.
