Kapitel vom 15.11.1893: Die Pflicht, gute Berufungen der Kongregation zu gewinnen.
Zu den Pflichten, die wir mit Vorzug zu erfüllen haben, zählt auch jene, für Nachwuchs zu sorgen. Unser Herr gab den Aposteln den Befehl: Bittet den Herrn, dass er Arbeiter in seine Ernte sende.
Auf den ersten Blick erscheint diese Aufforderung merkwürdig. Oder hat es der Herr nötig, dass die Jünger bei seinem Vater um Berufe eintreten für sein Werk? Er kann dies sehr gut selber tun. Aber nein, er beauftragt sie damit. Diese Nuancen, die wir da im Text des Evangeliums entdecken, haben ihre Bedeutung. Es bedarf sehr wohl unserer Gebete, damit der Herr Arbeiter auf sein Ackerfeld sende. Ein Ordensmann, der dieses Gebet um Berufe vernachlässigt, fehlt gegen eine wesentliche Standespflicht.
Betrachtet den hl. Bernhard: wem verdankt der Zisterzienserorden seine wunderbare Ausbreitung? Seinen Gebeten und vielfachen Anstrengungen. Eines Tages predigte er in Paris, und eine große Zahl von Studenten entschloss sich daraufhin, die Welt zu verlassen. Bernhard fand diese Zahl aber noch ungenügend, er hatte mit einer noch reicheren Ernte gerechnet. Da kniet er sich in der Kirche Nortre Dame auf den Boden, betet, weint, seufzt und ruft: „Herr, noch nie hast du dich so hart gegen mich gezeigt!“ Er verlässt die Kirche, und siehe da: eine Gruppe junger Leute holt ihn ein und bittet ihn, sie mitzunehmen.
Tun das nicht alle großen Orden? Die Jesuiten bemühen sich mit allen Kräften um Nachwuchs. Eines Tages machte ich eine Reise in Gesellschaft eines ihrer Novizen. Von Troyes bis Nancy sang er mir das Lob der Gesellschaft Jesu. Er war begeistert und erzählte mir wahre Wunder von ihr. Bei sich trug er ein Betrachtungsbüchlein des hl. Ignatius mit einer kleinen Tagesordnung am Schluss. Nichts in der Welt ließ sich damit vergleichen, alles war einfach wunderbar und entzückend an ihr… Haben wir doch auch etwas von dieser Glut, von diesem Eifer! Das ist unsere Pflicht, die es zu erfassen gilt und wovon wir uns durchtränken sollten. Das muss aber ein in uns tief verankertes Bewusstsein werden und nicht ein bloß äußerer Gehorsam eines Augenblicks. Gehen wir doch nicht auf einen Pfiff oder einen Befehl hin voran. Eifrig werden wir nicht auf Grund dessen, was wir andere sagen hören, sondern was wir zu uns selber sagen. Danken wir während der hl. Messe und Betrachtung Gott oft für die Gnaden, die er uns schenkte zugleich mit der Gnade des Berufs, und bitten wir ihn, diese Gnade mit vielen anderen teilen zu dürfen. Lässt sich denn eine Gnade mit der des Berufes vergleichen?
Was ist das denn für eine Gnade, Oblate zu sein? Im Oblatenleben liegt doch gar nichts Herausragendes. Aber gerade deshalb, weil es nichts Außerordentliches enthält, nichts über das Durchschnittsmaß Hinausgehendes, ist es etwas, etwas sehr Gutes und Wahres. Die Lehre des hl. Franz v. Sales und der Guten Mutter haben ihre Bedeutung. Nach dem, was mir der Papst selber gesagt hat, haben wir die Gewissheit, dass die Handlungen unseres Ordenslebens eine große Reichweite besitzen: „Alle, die mit Ihnen zusammenarbeiten, erfüllen in ihrem persönlichen Bereich genau das, was Gott von ihnen will.“ Ihr seht, dieses Wort bezog sich nicht allein auf mich. Unsere Ordensregel ist ein Meilenstein, ein Absteckpfahl am Wegesrand. Solch ein Pfahl ist auch nichts Überragendes, aber er sagt an, wo wir zu gehen haben, und er tut das besser, als es ein großer Redner täte.
So sind auch wir mit unseren Satzungen und unserem Direktorium sicher, persönlich den Willen Gottes über uns zu vollziehen. Denken wir nach über die großen Gnaden, die uns zuteilwurden, lassen wir uns davon tief durchdringen. Zeigen wir etwas Eifer für das Heil und die Berufung anderer. Rufen wir sie an unsere Seite, mühen wir uns, sie für uns zu gewinnen. Arbeiten wir wie Bernhard dafür, beten und flehen wir: das ist die erste und beste Art und Weise, für Berufe zu werben. Ihr könnt feststellen, dass alle jene von euch, die der Kongregation Berufe gewonnen haben, von Gott mit besonderen Gnaden bedacht wurden. Auf wahrhaft außergewöhnliche Weise wurden sie von Gott begünstigt, und das zum Nutzen ihres eigenen Innenlebens wie auch um anderen Seelen Gutes zu erweisen, um sie zu rühren und sie durch Predigt und andere Werke, die der Gehorsam ihnen auferlegt, zu gewinnen. Haben wir keine Möglichkeit, durch persönliche Beziehungen Berufe anzuziehen oder stehen keine äußeren Mittel zu unserer Verfügung, dann: „bittet…“. Ja, bittet Gott, dass er euch Seelen schenke, und diese werden euch von weither zukommen. Sie werden euer Verdienst, euer Anteilschein an den Belohnungen Gottes sein. Halte darum jeder sich für verpflichte, für Berufe zu werben. Die beste Art und Weise, Seelen für uns unsere Lebensart zu gewinnen, ist: sie durch unser Beispiel in erster Linie unsere Ideale erfühlen und erfassen zu lassen. Seien wir also Ordensleute und zwar gute, dann werden wir wie ein Magnet Seelen anziehen.
Nach meinem Eintritt als kleiner Knabe ins Seminar suchte ich mir einen Beichtvater. Ich irrte nie und wandte mich stets an den frömmsten und gewissenhaftesten, der mir die meiste Achtung abnötigte. Ich erinnere mich eines Studienleiters, H. Bidaut, der noch nicht Priester war. Ich fragte ihn, ob er schon geweiht sei. „Warum fragst Du?“ wollte er wissen. „Weil ich gern bei Ihnen beichten möchte“, sagte ich. Mit seiner großen Frömmigkeit und seinem heiligmäßigen Aussehen hatte er mein Kindesvertrauen gewonnen. Ein Priester, der gern über seine erhabene Berufung nachsinnt, die ihm von Gott verliehenen Gnaden oft bedenkt, zieht bald andere an sich. „Wenn ich einmal von der Erde erhöht sein werde, werde ich alles an mich ziehen.“ Dieser Gedanke birgt eine tiefe Wahrheit. Ihr wisst, dass unsere apostolischen Werke sich ausdehnen, wir aber nicht zahlreich genug sind. Von allen Seiten verlangt man nach Oblaten. Die Bedürfnisse nehmen immer mehr zu. Alle Patres, die uns aus der Mission schreiben, bitten: Schicken Sie uns Hilfe, aber echte Ordensleute, heilige Ordensleute. Um aber heilige Ordensleute schicken zu können, brauchen wir Ordensleute, und diese müssen heilig sein. Um einen Heiligen zu bekommen, genügt es nicht, Gips zu nehmen, ihn aufzulösen und in eine Gussform zu schütten. Es ist viel schwieriger.
Seien wir uns der großen Gnaden bewusst, die uns mit dem Oblatenberuf angeboten wurde, und bemüht euch, vielen anderen an dieser Gnade Anteil zu gewähren. Wenn ihr gute Oblaten seid, kann euch alle Gnaden des lieben Gottes versprechen und einen guten Platz im Paradies dazu. Der Papst hat es mir bestätigt und mehrere Male wiederholt, und ich sage es heute zum tausendsten Mal. Wir leben nicht wie Weltleute ins Blaue hinein und unüberlegt. Deren Leben erschöpft sich in tausend Nichtigkeiten. Kehrt in euer Herz ein. Ja, geht zum Ausgangspunkt zurück! Ihr seid Ordensleute. Das muss euch alles bedeuten. Mit allem anderen könnt ihr euch beschäftigen, aber es darf nicht die Substanz eures Lebens werden, aus dem euer Fühlen und Wollen ausstrahlt.
P. Dalbanne hat soeben die hl. Exerzitien im Pensionat von Paris gehalten. Man schrieb mir von dort, seine Exerzitienvorträge haben sehr befriedigt. Ich fragte den Pater: „Nun, haben Sie gut gepredigt?“ – „So gut ich eben kann“, antwortete er mir. „Etwas muss ich aber erwähnen, woran ich bisher kaum geglaubt habe: Ich habe zu den kleinen Mädchen vom inneren Leben gesprochen, von unserem Herrn, dem Weg, der Wahrheit und dem Leben. Und ich sah, wie ihre Augen leuchteten, ihre Gesichter sich entflammten. Sie erfassten, dass hierin das wahre Leben und das wahre Glück liegt.“
Jede Predigt also, die vom Geist der Kongregation und der Guten Mutter inspiriert ist, jedes Wort, das in diese Richtung geht, wird angehört und verkostet und wird Nutzen stiften. P. Tillot sagte: „In meinen Predigten wurde ich ein immer größerer Schwätzer. Es wurde immer dringender, dass ich mich von Grund auf ändere. Seit ich den Geist der Guten Mutter predige, bin ich wie verjüngt, und alle meine Zuhörer bezeugen, dass sie davon hingerissen sind. Ich glaube wirklich, dass ich jetzt ein bisschen Gutes wirke.“ Die Gute Mutter gehört uns zu Eigen. Bringen wir also diesen Schatz zur Geltung, erfassen wir ihren Reichtum, machen wir uns eifrig ans Werk, studieren wir sie gründlich. Und wer den Grund nicht einsieht, warum er dem lieben Gott danken soll, möge sagen: „Lieber Gott, ich danke Dir. Ich verstehe zwar nicht recht wofür, aber man hat mich aufgefordert, Dir Dank zu sagen. Gib mir die Gnade zu verstehen und vermehre in mir den Wunsch, mehr und mehr ein guter Oblate zu werden.“
Ich lade euch ein in dem Anliegen, Ordensnachwuchs zu bekommen, ein sehr wirksames Mittel zu gebrauchen: nämlich die Armen Seelen im Fegfeuer anzurufen. Wendet euch an sie mit der Bitte, uns Verstärkung zu besorgen, die Schwierigkeiten jener aus dem Weg zu räumen, die zu uns kommen möchten, für uns tüchtige Soldaten für die Schlachten Gottes anzuwerben. Von allen Seiten werden wir Oblaten gebeten, mehr denn je. Das „Leben der Guten Mutter“ wird immer mehr gelesen. Man kennt und schätzt unseren Geist und bittet unablässig um Oblaten und um Gründungen. Mit welchem Bedauern sehe ich mich gezwungen, immer wieder zu sagen: wir können nicht, es fehlt uns an Patres.
Etwas muss ich mir vorwerfen: darüber mache ich jetzt vor allem meine Kulp und schlage an meine Brust: Ich habe mich bislang nicht genügend um Nachwuchs bemüht und habe dem lieben Gott nicht genug für alle Gnaden gedankt, die er uns erwiesen hat. Was ich bisher etwas vernachlässigt habe, will ich in Zukunft besser machen. Darum heute das Kapital über dieses Thema. Ich möchte nicht dem Knechte gleichen, der sein Talent in sein Taschentuch wickelt, um es nicht zu verlieren, und es mit der Begründung in seinem Garten vergräbt: Es ist schwer, mit diesem Talent zu wuchern. Man weiß nicht, wie es ausgehen kann. Allzu leicht könnte ich es verlieren. Ich grabe es lieber in die Erde. „Ruchloser Knecht“, antwortet ihm der liebe Gott. Wir dürfen keine „ruchlosen Knechte“ sein.
D.s.b.
