Kapitel vom 25.10.1893: Loyalität gegenüber unseren Pflichten.
Man macht uns einen Vorwurf, der wahrscheinlich berechtigt ist, dass wir in unserem äußeren Verhalten nicht einheitlich sind. Die Verschiedenheiten in unserer Art vorzugehen werden in der Tat seit einiger Zeit ziemlich spürbar. Es ist gewiss bei der zunehmenden Zahl von Ordensmitgliedern unvermeidlich, dass einige Besonderheiten sichtbar werden. Hier gilt es aber, Abhilfe zu schaffen, und das Mittel hierfür: jedes Haus muss sich bedingungslos zu einer sehr genauen Beobachtung der Satzungen entschließen. Der Obere jedes Hauses darf nichts abändern und nichts hinzufügen ohne Erlaubnis des Generaloberen. Im Voraus wurden alle Fragen allgemeiner Art festgelegt wie das Aufstehen, Schlafengehen, die Stundeneinteilung für die Mahlzeiten und Rekreationen, die besonderen Ämter, die Art zu unterrichten und Aufsichten zu führen, die Studienprogramme. Ohne Genehmigung der Oberen darf man daran nichts ändern.
Ein Wort, das in unserem ursprünglichen Vorschlag der Satzungen fehlte, wurde von Rom hinzugefügt: wir sollen alles, was wir tun, im Geist des hl. Franz v. Sales vollbringen. Seht nur, wie die Schwestern der Heimsuchung seinen Geist wohl bewahrt haben. Überall gleichen sie sich: Ihre Hausordnung, ihre Gebräuche, die großen Linien wie die kleinen Details ihres Lebens, all das ist allerorten das gleiche. Es war eine bewundernswerte Vorsichtsmaßnahme des hl. Franz v. Sales, dass er all diese Einzelheiten festgelegt hat, und die heiligen Gründer der Heimsuchung legen Regel und Richtung für alles, für jeden Augenblick wie für jede Person fest. Gewiss ist es schwierig, auf diese Weise für lebendige Menschen jede Kleinigkeit festzulegen. Bemühen wir uns jedenfalls, diesem Ideal so nahe wie möglich zu kommen. Unsere Satzungen sind formell und klar niedergelegt. Versuchen wir, uns jederzeit mit allen Kräften nach ihnen auszurichten. So viel über das äußere Verhalten.
Was die innere Regel betrifft, so ist hier die Verpflichtung noch strenger. Hier ist es nicht erlaubt, sich nur auf die großen, allgemeinen Linien zu beschränken. Dieser inneren Regel dürfen wir nie, in was immer für einen Punkt, zuwiderhandeln: ob es die Betrachtung betrifft oder die gute Meinung, die Gedanken an den Tod oder das Verhalten im Refektorium, hier heißt es jederzeit und in allem treu zu sein.
Halten wir uns genauestens an die äußeren Mittel, die uns da an die Hand gegeben werden. Nehmen wir sie zur Grundlage unseres Lebens, denn auf diesem Fundament können wir einen soliden Bau aufführen. Dann wird alles in derselben Richtung voran schreiten und alles wird uns glücken. Gäbe es aber Bewegungen in verschiedenen Richtungen, so könnte alles den einen oder anderen Tag zum Stillstand kommen. Gebt euch also mit ganzem Herzen hin. Nehmt es ernst mit der Zeit des Aufstehens wie des Schlafengehens, der Arbeit wie der Freizeit. Und geht darin einheitlich vor. Wahrt im Äußeren des Ordenslebens treu die Einheit. Das erfordert eine Gewöhnung, und eine Gewohnheit bildet sich nicht ohne Opfer. Es bedarf vielmehr einer beständigen Anstrengung des guten Willens, einer beharrlichen Selbstüberwindung. Erweisen wir uns treu in den allgemeinen Gebräuchen, aber nicht in den speziellen Gewohnheiten jedes einzelnen.
Hier liegt das Feld unserer Buße und Abtötung, hier finden wir unseren Bußgürtel, unser härenes Gewand und unser Fasten. In jedem alten Orden gab es zahlreiche körperliche Bußübungen. Franz v. Sales selbst unterwarf sich körperlichen Bußwerken. Er geißelte sich und schlief oft auf hartem Boden. Unsere Hauptabtötung hingegen besteht im Geist des Verzichts und der Selbstverleugnung, alles im Geist der Buße anzunehmen: Kleidung, Nahrung, fortgesetzten und herzlichen Gehorsam. Nur das macht uns zu Ordensleuten, nur so kommen wir in den Himmel. Es führt kein anderer Weg dorthin. Das erfordert große Energie und eine besondere Gnade. Diese wird uns aber nicht versagt, wenn wir nur nicht vergessen, dass wir gerade hierin unsere ordenseigene Buße finden, unser spezifisches Ordensleben. Das beweist, wie weise der hl. Stifter handelte, als er uns diesen Weg eröffnete, wo uns keine großen körperlichen Kasteiungen schrecken, die nicht Sache einer jeden Seele sein können. Er legt uns vielmehr die Abtötung jeden Augenblicks auf, die so wirksam und so fruchtbar ist, dass sie, treu geübt, Seele und Leben auf beachtliche Weise prägt und eine auffallende Einheitlichkeit der Charaktere sowie der Art zu urteilen und zu denken verleiht.
Man mag manchmal Versuchungen verspüren, größere Bußwerke auf sich zu nehmen: das scheint verdienstlicher und fruchtbarer zu sein. Aber hat man immer einen Oberen, einen Seelenführer, der die Fähigkeit besitzt, euch ohne Irrtum zu lenken auf so schwierigem und heiklem Weg, wo die Eigenliebe, um nur von ihr zu sprechen, ihr raffiniertes Spiel zu verbergen versteht? Der hl. Stifter hat uns vor schweren Nachteilen bewahrt, indem er es vorzog, sich an eine sanftere und einfachere Generalregel zu halten, die aber in Reichweite aller liegt und sie jedermann mit größtmöglicher Pünktlichkeit einhalten kann. Wann marschiert eine Armee am besten? Wen sie mit ihren 10.000 oder 50.000 Soldaten in gleichem Schritt dahin schreitet. Täte sie das nicht, dann wäre es ein undisziplinierter Haufe, mit dem man nichts anfangen kann.
Jeder Hausobere möge das Gesagte wohl bedenken und jeden Punkt der Satzungen beobachten lassen. Jeder Professe wie jeder Novize verstehe wohl, dass es sich hier um einen Punkt von äußerster Wichtigkeit handelt. Betet, dass jedem das Verständnis dafür aufgehe. Wir haben keine aus dem Rahmen fallenden Sonderpraktiken. Wir schreiten auf der breiten Straße des Evangeliums und der kirchlichen Gesetze voran. Auf den ersten Blick machen unsere religiösen Übungen keinen sonderlichen Eindruck. Was wir aber schaffen, das gewinnt großen Wert dank der Treue, mit der wir das Joch unseres Herrn auf uns nehmen, d.h. dadurch dass wir mit ganzem Herzen des Direktoriums innerlich und die Satzungen äußerlich einhalten. Diese Unterwerfung hat zur Folge, dass die Seele große Energien in sich aufnimmt.
Seht nur, was man mit gepresstem Gummi alles anfangen kann. Er gewinnt eine erstaunliche Stärke. Überlässt man ihn aber sich selbst, löst er sich auf und dehnt sich aus, so verliert er alle Elastizität und Widerstandskraft. In gleicher Weise muss auch der Ordensmann sein Joch tragen. Immer, wenn er von Seiten des Mitmenschen etwas zu dulden hat, einen Akt der Hochherzigkeit, ein Opfer zu bringen hat, steht er an seinem Platz, hält er sich bereit. „Siehe, da bin ich.“ Will er sich aber eine unerlaubte Freiheit verschaffen, die auf nichts Rücksicht nimmt, vor dem geringsten Widerspruch erschrickt, bei er geringsten Schwierigkeit unruhig wird und mutlos die Flügel schleifen lässt, was ist er dann noch? Jedenfalls kein Ordensmann mehr.
Gehen wir im richtigen klösterlichen Geist unseren Weg, und tun wir etwas für den lieben Gott. Es ist so gut, ihm näher zu kommen, ihn neben sich zu wissen bei allem, was man zu tun hat. Es ist so gut, aus seiner Fülle alles zu schöpfen, was man braucht. Es fehlt uns vielleicht an Gesundheit, an der nötigen Intelligenz für unser Amt, wir haben diese oder jene Charakterschwäche, Schwierigkeiten beim Unterricht: gehen wir doch zu unserem Herrn und nehmen wir aus seiner Fülle, was uns abgeht. Und wir werden alles Nötige bekommen, wenn wir ganz in seiner Nähe verweilt haben.
Denkt allezeit an das Wort des Herrn: Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben. Ohne mich könnt ihr nichts tun. Wer beschneidet denn die Reben des lieben Gottes? Wer reinigt sie von dem frühen Anflug (=Reif), der sich so überreich auf die Trauben legt und so schädlich ist? Der Vater selbst wird sie reinigen. Er selbst kommt also für das Ausputzen der Triebe auf. Lassen wir diese Wahrheit tief in uns eindringen, dass sie das wahre Fundament unseres Lebens, ja eine Substanz werde. Dieses religiöse und solide Selbstverständnis macht uns zu großmütigen und festgegründeten Menschen. Wir machen zwar nicht viel Aufhebens von uns, leisten aber dennoch Großes. Andere mögen sich auf ihren Mut, auf ihre Stärke verlassen. Wir dagegen, die wir weder Mut noch Stärke besitzen, suchen unsere ganze Kraft in Gott. Verstehen wir es doch, aus dieser Quelle Kraft zu schöpfen, begreifen wir doch, uns an dem Lebenssaft, der uns von ihm zufließt, zu tränken und zu beleben. Das wollen wir uns am Allerheiligenfest vornehmen: mit Gott so innig vereint zu bleiben wie die Heiligen im Himmel es sind. Im tiefsten Grund ihres Willens sind sie mit ihm verbunden. Gottes Herrlichkeit, die sich in seiner unaussprechlichen Güte über sie ergießt, breitet sich in ihren Seelen aus und bildet ihr Glück bereits hier auf Erden, indem wir uns mit Gott aufs Innigste vereinen und für ihn uns abmühen. Bitten wir die Heiligen um diese Gnade, sie, die Gottes Freunde ebenso wie die unseren sind. Rufen wir jene an, die unsere Beschützer mit Auszeichnung sind: den hl. Franz v. Sales, die hl. Franziska v. Chantal, die Gute Mutter, unsere Schutzengel. Bitten wir sie, uns in dieser Gesinnung zu bestärken und zu festigen. Ich sagte das letzte Mal: diese Gedanken sollen für uns kostbare Perlen sein… Das ist ja unsere Pflicht und bildet unseren Lebensinhalt. Eure Satzungen und euer Direktorium müsst ihr mit Ehrfurcht und Aufmerksamkeit behandeln, mit einem tiefen Bewusstsein ihres Wertes. Macht darüber in diesen Tagen eure Betrachtung. Gott wird euch dann das nötige Licht schenken. Es lohnt sich nicht, meine Freunde, unsere Kräfte durch Mühen und Arbeiten für andere aufzubrauchen, ohne für uns selber Verdienste zu sammeln. Geben wir unsere Früchte an den Nächsten weiter, aber behalten wir auch einige für uns selbst.
Das beste Mittel dahin zu gelangen, liegt in der Betrachtung dessen, was ich da vorgetragen habe. Verrichten wir unsere Obliegenheiten, große wie kleine, selbst die unbedeutendsten, in dem festen Willen, die Absichten des lieben Gottes über uns zu verwirklichen. Denkt besonders während der hl. Messe daran. Jeder möge für sich diese Gnade erbitten, und der liebe Gott, unser Vater, wird uns das nicht versagen, als Geschenk des Allerheiligenfestes, jenes Festes also, das auch ein bisschen unser Fest ist, weil wir ja dazu bestimmt sind, heilig zu werden.
D.s.b.
