Kapitel vom 11.10.1893: Das richtige Handeln und der richtige Zeitvertreib
Meine lieben Freunde, die großen Ferien sind wieder vorbei. Geben wir uns also mit ganzem Herzen wieder unseren Obliegenheiten hin. Tun wir mit Hingabe und in religiösem Geist nicht nur, was zu unserem Amt gehört: Unterricht, Studien, Aufsichten, sondern auch alles, was das Ordensleben von uns verlangt und was unseren Alltag ausfüllt. Gott gab uns zwei Fähigkeiten, ihm gut zu dienen: den Verstand und das Herz. Der Verstand kommt nie zu kurz, wenn das Herz die Führung übernimmt. Das Herz informiert den Verstand des Ordensmannes, wie man es praktisch anstellen muss, um den Unterricht gut vorzubereiten, die Fortschritte der Schüler zu überwachen und sie anzueifern, und all dies vor allem übernatürlich für den lieben Gott zu tun. Rufen wir darum gern den Hl. Geist an, der der Urheber und Schenker jeder Erleuchtung ist, der uns nicht fehlen wird, wenn immer wir ihn anrufen. Beten wir mit größerem Vertrauen denn je das „Komm, Heiliger Geist“, tun wir es nicht gewohnheitsmäßig und maschinell, ohne dass wir an den Sinn der Worte denken, wie es uns ja allzu oft passiert. Der Hl. Geist regiert und leitet die Kirche. Wir sind keine Waisenkinder, wie es uns der Heiland bestätigte. Wir haben den Tröster und Beistand bei uns, der unseren Herrn auf Erden vertritt. Es ist demnach eine sehr löbliche und heilige Gewohnheit, den Hl. Geist zu Beginn all unserer Übungen anzurufen. Wir vergessen, dass dieses Gebet zu ihm nicht jedem anzurufen. Wir vergessen, dass dieses Gebet zu ihm nicht jedem beliebigen anderen Gebet gleich ist. Wir wenden uns doch da an jenen, der beauftragt ist, die Kirche Gottes zu leiten, in unserer Mitte die anbetungswürdige Gestalt unseres Herrn zu vertreten, uns Licht, Einsicht und Mut zu schenken. Geben wir also darauf besonders acht, ich gebe euch am Anfang des neuen Schuljahres den Gehorsam dafür.
Der Geist des Bösen hat allerorten einen gewaltigen Einfluss. Das mutet wie eine neue Sintflut an, die alles unter sich ertränkt. Unmöglich, dieser Katastrophe zu entgehen, es sei denn mit Hilfe des Hl. Geistes. Flehen wir ihn um den nötigen Mut an zu diesem schweren Kampf inmitten unserer Schüler, inmitten all der Strapazen, die uns niederdrücken.
Wir hielten es für notwendig, dieses Jahr eine Sondermaßnahme zu ergreifen, die die Unterrichtsweise in unseren Kollegien ändert. Jeder möge sie gern annehmen, und jene, denen das ein Opfer kostet, mögen es großmütig bringen. Gewiss bedeutet es einen großen Verzicht, keine eigenen Schüler mehr, in seiner Klasse, in seinen Händen zu haben. Es schockiert mich darum nicht im Geringsten, wenn ich sehe, dass diese Neuerung einigen gegen den Strich geht, ich kann es durchaus verstehen. Klassen unter einem einzigen Lehrer sind sicher interessanter. Man kann seine Schüler besser überwachen und wird vertrauter mit ihnen. Die Erziehung wird von einem tüchtigen Klassenlehrer sicher profitieren. Aber wir sind eben gezwungen, uns auf dem Niveau der „Universität“ zu halten, die ihrerseits kaum an Erziehung denkt. Allzu leicht sänken wir sonst unter das Niveau unserer Gegner herab, wenn wir nicht auf der Hut wären. Wir müssen uns darum zwangsläufig für diesen Weg der Kurse entschieden, statt weiterhin klassensweise zu unterrichten. Wenn das eine Abtötung für einige bedeutet, dann mögen sie davon profitieren. Sie sollen Gott bitten, er selbst möge das Herz und den Willen der Schüler bearbeiten und formen. Damit ein Lehrer sich in der Gegenwart auf der Höhe seiner Aufgabe hält, muss er ein Spezialist sein. Nur ein solcher wird zwangsläufig tüchtig in seinem Fach.
Der beste Lateinlehrer von Frankreich war vielleicht ein Mann aus Arcis, mit Namen Carré. Er gehörte zur „Universität“ (Anm.: „er gehörte da zum staatlich diplomierten Lehrkörper“). Da er sehr dickköpfig war, verkrachte er sich mit seinen Vorgesetzten. Er schrieb Grobheiten an den Minister. Schließlich reichte er seine Demission ein und eröffnete eine Sonderschule zur Vorbereitung der Schüler auf das Abitur. Alle Schüler hatten bei ihm Erfolg. Eines Tages brachte ich zu ihm einen kleinen lateinischen Aufsatz, den H. Grosperrin, damaliger Quintalehrer verfasst hatte. Ohne irgendeine Streichung oder Verbesserung gab er ihn mir nach gründlicher Prüfung zurück und sagte: „Sie können lange an der „Universität“ suchen, bis Sie etwas Gleichwertiges finden. Und ich glaube doch von Latein etwas zu verstehen“, fügte er selbstbewusst hinzu. „Aber es ist auch das einzige, was ich kann…“
Jeder Lehrer, der ein einziges Fach unterrichtet, kann es also weit darin bringen. Die Schüler spüren bald, dass sie es mit einem Gelehrten und einem verdienten Lehrer zu tun haben, sie hören ihm aufmerksam zu, lieben und bewundern ihn. Das liefert euch also, liebe Freunde, sehr treffende und handfeste Motive zugunsten unseres neuen Unterrichtssystems. Gewiss hat die Sache eine schadhafte, schmerzliche und bedauerliche Seite. Sucht das im Rahmen eurer Möglichkeiten Abhilfe zu schaffen und zieht übernatürlichen Nutzen daraus. Der Gedanke, von dem ich sich dabei vor allem leiten ließ, ist, aus unseren Schülern und aus jedem von euch, liebe Freunde, wertvolle Menschen zu machen und nicht halbfertige. Wir wollen doch alle eine Persönlichkeit darstellen.
Heute Morgen erhielt ich einen Brief eines früheren Mitschülers, in dem er mich zu einem Treffen einlädt, was ich ablehnen musste. Es ist der Pfarrer von Trainel. Ich bedauere vor allem, dass ich mir so die Gelegenheit entgehen lassen muss, mit ausgezeichnetem einstigen Schülern zusammenzutreffen, die sich bei ihm versammeln. Und warum sind sie hervorragende Priester geworden? Im Großen wie im Kleinen Seminar bemühten sich alle – und ich machte keine Ausnahme und glücklich darüber – ernst zu studieren, zu gehorchen und gewissenhaft zu sein. Im Unterricht waren wir aufmerksam, im Studium hielten wir das Stillschweigen ein, keiner wagte ein Wort. Hatten wir gegen die Hausordnung verstoßen, so machten wir uns selber Vorwürfe, beichteten es und taten Buße dafür. Wir hatten einen vortrefflichen Lehrer von der Quinta bis zur Unterprima. Während jeder Unterrichtsstunde reservierte er einen Augenblick für Gedanken des Glaubens, der Religion. Das war ein tüchtiger und heiligmäßiger Priester, der uns leitete. Aber auch die anderen Priester waren tüchtige und heilige Männer. Eine Leitung unter solchen Führern musste notgedrungen gewissenhafte Schüler und später gebildete und pflichttreue Priester heranbilden. Und so geschah es auch. Ich sehe ja, was aus all meinen einstigen Kommilitonen geworden ist. Sie haben unendlich viel Gutes gewirkt in ihren Pfarreien, in denen sie 30, 40 oder gar 50 Jahre tätig waren. Wie viel Tugend, Selbstverleugnung und Liebe zum Willen Gottes haben sie in den Ackerboden, der ihnen zur Bebauung übertragen wurde, eingesenkt, um ihn zu befruchten!
Aber so ein kurzes Wort während des Stillschweigens, was ist das schon? Eine kleine Freiheit, die man sich erlaubt, ein kleiner Verstoß gegen die Liebe, einige Augenblicke, die man müßig oder außerhalb des Gehorsams vergeudet? Ist das denn auch schon was? Das bedeutet doch nichts. Ja, aber mit all diesen Nichtsen hättest du großartige und vollendete Dinge ausführen können.
Diese Nichtse haben dich in Untreue gestoßen, haben die geheimen Gnaden Gottes in deiner Seele zum Versiegen gebracht. Gebt acht, besonders im Noviziat: ein Wort, in Ungehorsam oder Leichtsinn gesprochen im Noviziat, ist schlimmer als ein Diebstahl. Ein Diebstahl verrät eine Seele, der es an Ehrlichkeit mangelt. Fehlt es aber der Seele eines solchen Schuftes, der durch Worte des Ungehorsams oder des Leichtsinns die Gnaden des lieben Gottes in seiner Seele und in denen seiner Brüder vergeudet, nicht ebenfalls an Ehrlichkeit? Seid ihr nicht ins Noviziat gegangen, um Ordensleute zu werden? Was ihr da aber tut, zerstört und vernichtet bei euch wie bei den anderen das innere Leben. Wenn ein Schreiner, statt seine Bretter zu hobeln, sich daran machte, sie kreuz und quer zu zersägen, wenn er diese, die in ihrer ganzen Länge von zwei Metern benötigt werden, in drei oder vier Stücke zerschnitte, würde man das nicht Verrücktheit nennen? Ja, wenn er auf eigene Rechnung arbeitete, könnte man wohl nicht sagen, er habe eine Sünde begangen. Auch der Ordensmann, der das Stillschweigen bricht, begeht, was die Folgen betrifft, etwas Traurigeres als eine Sünde: das ist eine Verrücktheit, ein Unheil. Er bricht seinen Beruf in Trümmer, er zerschneidet wie der Schreine die Planke und zerstückelt sie. Es gibt nun einmal nichts zu debattieren, was die Regel, den Gehorsam, den Geist der Abhängigkeit betrifft. Man kann nicht einfach sagen: „das ist doch nichts…“ Das ist immer und im Höchstmaß wichtig. Das hast Du zu tun! Wenn ihr es nicht tut, dann seid ihr nichts mehr, seid keine Ordensleute mehr, seid auch keine Seminaristen und keine Studenten. Was seid ihr dann? Warum gibt es denn so viel Irrtum und Verkehrtheit in der Welt? Weil niemand mehr die kleinen Einzelpflichten seiner Berufung, all die kleinen Obliegenheiten ernst nimmt.
Gestern traf ich einen Juwelier, der ein bedeutendes Unternehmen leitet. Ich bat ihn um einige Auskünfte über den Wert der Gegenstände, mit denen er Handel treibt. Er erzählte mir viele interessante Dinge, besonders folgendes: Ausgenommen sehr wertvolle Edelsteine und Diamanten, übertrifft im Allgemeinen der Wert der Arbeit den Wert der kostbaren Materie, die man zu dieser Arbeit verwendet. Ist das Gold und Silber ziseliert und bearbeitet, so hat das edle Metall in sich selbst weniger Wert als der Zuschnitt und die Bearbeitung durch den Fachmann kostet. Dieser Vergleich scheint mir gut auf das hier behandelte Thema zuzutreffen. Was kann die Arbeit des Goldschmiedes schon so wertvoll machen? Ein kleiner Schlag mit dem Meißel hier oder mit der Feile dort? Was ist das schon, und doch seht nur, wie das einen größeren Geldwert in sich schließt als das bearbeitete Gold und Silber. Gilt das nicht auch für den Ordensmann? Der Ordensstand ist in sich etwas Ausgezeichnetes, ein gewaltiges Kapital. Das Ordensleben hingegen gewinnt nur Wert dank der persönlichen Arbeit und Mühe des einzelnen Ordensmannes. Auch ihr werdet eurem Leben die rechte Form nur geben kraft eurer Achtsamkeit auf den Gehorsam, kraft des geduldigen Ertragens dieser oder jener Mühsal, dank der friedlichen und sanften Annahme, wie Franz v. Sales sich ausdrückt, einer Widerwärtigkeit, dank all der kleinen Schläge eurer Feile oder eures Meißels. Wir sind bloß hinreichend an diese Gedanken gewöhnt.
Sind wir nicht wie kleine Seminaristen? Beobachtet nur solch einen gutartigen Seminarschüler: er arbeitet zwar, kümmert sich aber nicht um Kleinigkeiten. Muss das überhaupt sein bei ihm? Gewiss handeln Seminaristen wunderschön, wenn sie sich zur größtmöglichen Genauigkeit in der Pflichterfüllung zwingen.
Solch absolute und genaue Gewissenhaftigkeit kann jedoch von ihnen gar nicht so verlangt werden wie sie von uns gefordert werden muss. Wenn ihr im Ordensstand nicht treu die kleinsten Vorschriften haltet, seid ihr keine Ordensleute. Wisst ihr denn überhaupt, welchen Wert diese Kleinigkeiten haben? Sie verleihen unserer Seele die Würde, machen uns zu einer Persönlichkeit voll großer und realer Werte. Ja, das macht uns erst zu Menschen. Bittet den Hl. Geist um Einsicht in diese Wahrheit. Auf diese Weise realisiert sich der Mensch. Macht euch darum eine heilige Pflicht daraus, treu in kleinen Dingen zu sein. Seht eine Ehre, eine große Ehre darin. Ja, haltet es für hohe Würde, für eine hohe Ehre, allezeit so zu handeln.
Als ich zu unserer Lieben Frau von den Eremiten ging, bat ich die seligste Jungfrau um Erleuchtung. Der Novizenmeister sagte zu mir: „Herr Pater, mit Hilfe dieser Lehre vermag man alles zu vollbringen, alles andere zu ersetzen. Wer weiß“, fuhr er fort, „ob es nicht in den Plänen der Vorsehung liegt, dass die Oblaten viele andere Institute ergänzen und ersetzen sollen, die sicherlich gut wirken, die aber nicht mehr den Einfluss haben wie früher und so viel leisten wie ehedem? Ja, wer weiß, ob die Oblaten nicht dazu berufen sind, eine große Zahl von religiösen Orden abzulösen?“ Ich habe diese Worte niemals vor anderen wiederholt. Man darf sie nicht nachsprechen, aber gut verstehen. Pater Perrot hatte recht damit, unter der Bedingung, dass die Oblaten gute Oblaten sind. An euch ist es, zu ziselieren, zu schneiden und vorzubereiten.
D.s.b.
