Kapitelvorträge für die Oblaten 1873-1899

      

Kapitel vom 12.07.1893: Über eine sehr ernste Angelegenheit

Ich möchte heute in zwei oder drei Worten eine ernste Frage erörtern, eine Kapitelangelegenheit also, über die nicht debattiert werden soll. Alle mögen die Entscheidung des Generaloberen annehmen, ob mit oder ohne innere Billigung.

Wir haben unsere Kollegien. Jeder unserer Lehrer arbeitet mit Eifer und Hingabe. Es liegt mir absolut fern, irgendjemand zu tadeln. Ich versetzte mich vielmehr an die Stelle eines jeden und würde es nicht so gut machen wie viele von euch. Machen wir uns nichts weiß: die Schlacht ist hitzig. Vielen Leuten liegt kaum noch an einer christlichen Erziehung, und ich denke an die christlichen Familien selbst, in denen die christlichen Begriffe mehr und mehr schwinden.

Dadurch kommen unsere christlichen Kollegien in Gefahr, immer mehr entvölkert zu werden. Die „Universität“ bekommt ein zunehmendes Übergewicht. Ihr Budget weist ungeheure Summen auf. Ein junger Mann, der sein Lizenziat machen will, kann mit Leichtigkeit umsonst studieren. Notfalls bekommt er sogar 1.000 oder 1.500 Franken jährlich. Das bedeutet für uns, zu kämpfen. Zunächst müssen wir dafür sorgen, dass wir ebenso gute Professoren bekommen wie die „Universität“, ja, vielleicht noch bessere. Und darum, meine Freunde, ist es erforderlich, dass derselbe Lehre nicht zehnerlei Dinge zu unterrichten hat, sondern nur eins.

Ein Lehrer, der nur Griechisch gibt, wird bald ein Fachmann auf diesem Gebiet sein. Wer nur Latein oder Geographie unterrichtet, kann mühelos eine sehr tiefe Kenntnis dieser Fächer erwerben. Es ist somit beschlossene Sache: der Unterricht erfolgt in Zukunft in unseren Kollegien nach Kursen. Es soll keine Professoren für die oder die Klasse geben, sondern Latein-, Griechisch- oder Geschichtsprofessoren.

Das verschafft uns, wie ich hoffe, reelle Vorteile. Jeder unserer Lehrer, der nur noch ein Fach unterrichtet, kann in Kürze ein Fachmann in seiner Sonderdisziplin sein. Er kann seine Materie bedeutend gründlicher studieren und damit seinen Unterricht interessanter gestalten. Ich weiß sehr wohl, dass man einen ernsten Einwand gegen diese neue Ordnung erheben kann: der Lehrer, der nur eine Klasse unterrichtet, hat seine Klasse fest in der Hand. Zwischen ihm und seinen Schülern wachsen Beziehungen familiärer Zuneigung und ehrfurchtsvoller Gelehrigkeit heran, was bei Kursen mit verschiedenen Lehrern bedeutend schwieriger ist. Dem steht entgegen, dass ein tüchtiger Lehrer einer einzigen Klasse sich so gründlich vorbereiten muss, dass es sich schwerlich verwirklichen lässt. Wir hatten einmal einen Professor der „Universität“, H. Didelot, unter uns. Er hielt sicher einen sehr guten Unterricht, doch die Schüler hatten bei ihm nicht mehr Erfolg als mit unseren eigenen Patres.

Wir haben die neue Maßnahme gerade in der Absicht getroffen, hierin Abhilfe zu schaffen, die Fortschritte und Bemühungen unserer Schüler aufmerksamer zu überwachen und mit ihnen häufiger und unmittelbarer Kontakt zu haben. Jeder möge sich darum der ihm übertragenen Aufgabe mit ganzer Seele widmen, dann werden wir sicher guter Resultate erzielen.

Noch einmal: Ich unterstelle dies nicht eurem persönlichen Urteil, sondern eurem Gehorsam. Darum möge man darüber nicht debattieren. P. Rolland wird die Programme ausarbeiten und euch sagen, was ihr zu tun habt. Die Fähigkeiten eines jeden werden gebührend berücksichtigt werden. Denn ich habe durchaus nicht die Absicht, jemand zum Lateinprofessor zu machen, der darin nicht unterrichtet und der weder Eignung noch Freude daran hätte. Jeder tut ja nur das gut, was er mit Lust und Liebe tut. Diese Rücksichtnahme wird unsere Entscheidung stark beeinflussen. Betet zu Gott in dieser Meinung bei der hl. Messe. Bitten wir den Hl. Geist um Erleuchtung und Führung.

Wenden wir uns nun wieder unserem Direktorium zu.

Artikel 4: Die hl. Tagzeiten. „Zu den Übungen, die sich unmittelbar auf die Ehre und den Dienst Gottes beziehen, erscheine man in demütiger und unterwürfiger Geistesverfassung, in ernster Stimmung und frommer Andacht.“

Das ist ein wichtiger Satz: „demütige Geistesverfassung“: Demut ist eine der wesentlichen Bedingungen des Gebetes. Hierhin unterscheiden sich gerade der Pharisäer und der Zöllner. Bedenkt nur das Gebet der Magdalena und seine wunderbaren Wirkungen. Immer wenn ein Oblate Brevier betet, Betrachtung hält oder Messe liest, soll er in dieser bescheidenen und ehrfürchtigen Verfassung sein und sich selbst im Herzen verdemütigen: Wer bin ich denn, dass ich mich an Gott wende? Welche Fehler habe ich auf dem Gewissen? Wie darf ich es wagen, mit solch einem belasteten Gewissen, mit meiner Führung und meinen Fehlern zu ihm zu gehen? Hätte Gott mich nicht tausendmal gestützt und bewahrt und vor Gefahren zurückgehalten, wo stünde ich heute? Betrachten wir in diesem Augenblick unseren Charakter, unsere persönlichen Fehler, unsere Eitelkeit. Vielleicht haben wir einen eigensinnigen und schwierigen Charakter und möchten gegen jedermann Recht behalten. Demütigen wir uns dann ob dieses hässlichen Fehlers. Denken wir an all die Unklugheiten, die Torheiten, die wir begangen haben und die uns tief beschämen, an unsere Ungeschicklichkeiten, Unfähigkeiten, unsere dumme Eigenliebe. Steigen wir auf unser eigenes Niveau herab. Das ist keine große Tugend, sondern lediglich Wahrheit, der wir damit die Ehre geben. „Gott ist die Wahrheit“. Gestehen wir unser Elend ein, sagt der hl. Johannes, dann bleiben wir in der Wahrheit. Diese Übung der Selbstverdemütigung vor dem Gebet stellte ich in hervorragender Weise bei der Guten Mutter fest sowie bei allen wahrhaft aufrichtigen und religiösen Seelen.

Demut ist eine schöne Tugend. Sie erweist sich im Ernst aber nur in der Demütigung. Eines Tages wollte ich in Echelles (Savoyen) beichten. Ich ging zum Pfarrhaus und traf vor der Tür einen Mann in blauen Höschen und gelber Weste. Es war der Pfarrer. Es kostete mich eine gewisse Überwindung, ihm meine Sünden zu sagen. Ich entschloss mich aber doch dazu. Dieser brave Pastor, der so schlecht repräsentierte, sagte mir aber Dinge, die mir noch keiner gesagt hatte: „Vielleicht haben Sie Gedanken des Stolzes und möchten schöne Betrachtungen über die Demut halten. Was Sie aber vor allem brauchen, ist nicht Demut, sondern die willige Annahme von Demütigungen…“ Damit bin ich fortgegangen. Genau das tat mir not. Kein Beichtvater hatte mir je so viel mitgegeben. Zu all unseren Gebeten heißt es also diesen Geist da mitbringen.

Im Augenblick der hl. Wandlung und Kommunion sollten wir unsere Seele vor Gott ganz klein machen mit Hilfe von Verdemütigungen, indem wir uns vor Gott so gering wie möglich machen. „Wer in der Wahrheit bleibt, der bleibt in Gott und Gott bleibt in ihm.“

„Um sich in gehöriger Ehrfurcht und Sammlung zu erhalten, sollen sie sich von Zeit zu Zeit besinnen, welche Ehre und Gnade es für sie ist, hier auf Erden denselben Dienst zu verrichten, dem die Engel und Heiligen dort oben im Himmel obliegen.“

Welch schöne und ausgezeichnete Gewohnheit, wenn man sein Brevier allein betet, daran zu denken, dass man zusammen mit seinem Schutzengel betet. Dieser Gedanke, der der Wahrheit durchaus entspricht, wird uns in der Gesinnung des Glaubens erhalten und uns an die Gegenwart Gottes erinnern.

D.s.b.