Kapitelvorträge für die Oblaten 1873-1899

      

Kapitel vom 05.07.1893: Der Geist der Kongregation liegt in der Richtung der Absicht

Zurzeit herrscht eine schreckliche und ermüdende Hitze. Man braucht, so scheint es, eine Entspannung und Erholung. Sich unterwerfen fällt da noch schwerer als sonst. Dennoch empfehle ich euch die Abhängigkeit mehr denn je. Wir müssen den Novizen wie den Kollegschülern ein gutes Beispiel geben. Ich weiß sehr wohl, dass uns das viel kostet. Wir müssen uns aber für verpflichtetet halten, Dinge zu tun, die uns etwas kosten. Der hl. Stifter will nicht, dass wir uns mit etwas abgeben und etwas tun, was nicht den Stempel der Mühe und Abtötung trägt.

Das Gute können wir nur wirken, wenn wir gute Ordensleute sind. Gutes geschieht nur da, wo es aus dem Herzen kommt und man die Mühe nicht scheut, wenn man also ein wahrer Ordensmann ist und es bis zum Ende ist. Man kann es mit einem Mechanismus, einem gut konstruierten Räderwerk vergleichen, bei dem kein einziger Zahn fehlt. Seine Bewegung erfolgt und überträgt sich mühelos und gelangt zu dem Ziel, das man sich vorgenommen hat. Fehlen dem Räderwerk aber Zähne, so überträgt sich die Bewegung nur stoßweise, setzt dazwischen aus, ist auf jede Weise gestört und verursacht sogar Schaden.

Ich habe Freude an solchen Vergleichen, da die moralischen Gesetze in erstaunlicher Weise den physikalischen gleichen. Auch die Gesetze der Sittlichkeit haben ihre mathematischen und geometrischen Proportionen wie das Quadrat der Entfernungen. Es ist schwieriger, meine Freunde, ein Ding nur zu drei Vierteln als in seiner vollen Ganzheit zu machen.
Die Zeiten werden immer schwieriger und kritischer. Nehmen wir uns darum das Wort der Geheimen Offenbarung des hl. Johannes zur Devise: Wer heilig ist, heilige sich noch mehr. Wenn wir nicht im Sinne eines Fortschreitens zum Guten hin vorwärtsgehen, geschieht es unweigerlich im Sinn eines Fortschreitens zum Bösen hin.

Ich will die Erklärung des Direktoriums wieder aufnehmen. Ich möchte nicht wiederholen, was ich so häufig über die Betrachtung ausgeführt habe. Für uns sollte die Betrachtung mit Vorliebe in der „Vorbereitung auf den Tag“ bestehen. Das Himmelreich gleicht einem Kaufmann, der kostbare Perlen sucht. Wir sollten uns den Kaufmann zum Vorbild nehmen, der des Morgens sein Tagewerk zurechtlegt, damit er ein Höchstmaß an Gewinn sicherstellt. Bereiten auch wir unser Herz, um ein Höchstmaß an Tugenden und an Gutem zu garantieren. Diese Vorbereitung erfolgt ja nicht nur zu unserem eigenen Vorteil, auch die Gläubigen sollten wir dazu anhalten, soweit wir dies vermögen. Leiten wir auch die Priester, unsere Schüler, alle die sich unserer Leitung unterstellen, dazu an, damit es für sie ebenso gut wie für uns Ausgangspunkt ihrer Heiligung werde.

„Der Oblate, der im Guten zunehmen und auf dem Weg unseres Herrn vorankommen will, muss zu Beginn all seiner Handlungen, der inneren wie der äußeren, um die Gnade Gottes bitten und…“

Diese wenigen Worte, meine Freunde, drücken das Charakteristikum, das ganze Gepräge der Oblaten des hl. Franz v. Sales aus. Das Direktorium und besonders dieser dritte Artikel von der Guten Meinung üben einen ungewöhnlich starken Einfluss aus. Heimsuchungsschwestern sehen sich alle gleich. An Geist, Sprache, Manieren, ja fast im Gesichtsausdruck sind sie sich ähnlich. Und das Formeisen, das ihnen diese Ähnlichkeit vermittelt, ist das Direktorium. Vor jeder ihrer Handlungen, lassen sie sich vom gleichen Gedanken, von der gleichen Gesinnung lenken und leiten, lassen sich in die gleiche Richtung und auf dieselbe Weise vorzugehen orientieren. Ihr Leben, ihre Gedanken und Gefühle, ihre Art zu handeln, alles ist gleich, sodass sie sich schließlich sogar im Äußeren gleichen. Lassen wir uns darum ebenfalls in die Gussform des Direktoriums, vor allem der Guten Meinung, gießen. Dann werden auch unsere Seelen, unsere Herzen, ja fast unser Gesichtsausdruck dieselbe Züge widerspiegeln, wenigstens vor Gott, ein wenig freilich auch vor den Menschen.

Diesem Kapitel von der Guten Meinung wohnt eine enorme Kraft der Beeinflussung unseres ganzen Ordenslebens inne. Denn gerade das macht uns zu dem, was wir darstellen sollen. Wir sollten die Gute Meinung in aller Gewissenhaftigkeit und mit derselben Hingabe üben, als hätten wir ein spezielles Gelübde darüber abgelegt. Es schließt die Hauptverpflichtung unserer Kongregation ein. Prüft nur die Satzungen und Regeln der anderen Institute. Ihr werdet nichts finden, was dem Kapitel von der Guten Meinung gliche. Und dabei hat sich der hl. Stifter, wie er selbst versichert, diese Gedanken nicht aus dem eigenen Kopf gezogen. Gott hat sie ihm eingegeben. Und darum auch diese Bedeutung, die man den Gedanken des Heiligen beimaß. Darum auch hat die Kirche diese Doktrin in so einzigartiger Weise gutgeheißen.

Schwester M. Genofeva sagte mir einige Jahre vor der Erhebung unseres Heiligen zur Würde eines Kirchenlehrers: Ich sehe unseren hl. Stifter ganz in Gott. Er ist eifriger denn je beschäftigt. Man wird ihn zu einem großen Gelehrten erklären.

Der ganze Geist unserer Genossenschaft ist also in der Guten Meinung eingefangen. Das ist unser Hebel, unsere Kraft, das muss auch unsere Hilfe sein, alle unsere Handlungen zu vollbringen. Beachtet wohl, meine Freunde, was der hl. Franz v. Sales in diesem Kapitel ausdrückt: dass nämlich unsere Handlungen vom Siegel des Kreuzes gezeichnet sein müssen. Niemand soll so viel leiden wie wir. Ein guter Oblate muss ebenso viel, ja noch mehr leiden als ein Kartäuser oder Trappist, der nicht isst, des Nachts aufstehen und auf hartem Boden schläft. Darum müssen wir darauf gefasst sein, in jeder unserer Handlungen ein Kreuz anzutreffen. Nehmen wir es an in Frieden und Sanftmut des Geistes wie von die heiligste Absicht leitet ihn dabei, uns Gelegenheit kommend. Die heiligste Absicht leitet ihn dabei, uns Gelegenheit zu Verdiensten zu geben, um uns dereinst mit dem Übermaß seiner Liebe belohnen zu können. Jawohl, meine Freunde, diese Mühsal, dieses Leid ist ein Akt seiner väterlichen Huld, ein Geschenk seiner Liebe und ein Unterpfand dafür, dass er uns einmal etwas Besseres, nämlich seine Liebe, schenken will.

Worin finden die Heiligen auf Erden ihr Glück? Eben in diesen Prüfungen, den Beweisen und Versprechen der Güte Gottes über uns. Seht den hl. Paulus: was ihn inmitten der Trübsäle seiner Missionstätigkeit aufrechterhält, inmitten der Leiden stützt, ist das Bewusstsein, dass sie Unterpfand der Liebe Gotte sind. Der hl. Vinzenz v. Paul sagte zu Gott: Ich spüre im Grund meiner Seele, dass du liebst, was ich da tue. Leid und Kreuz sind mir Zeugnis dafür, dass du selbst in mir handelst.

Durch die Gute Meinung sollen wir nämlich nicht nur die Mühen annehmen, sondern auch, wie das Direktorium ausdrücklich betont, das Angenehme, das Vergnügen, die legitimen Freuden, die der liebe Gott auf unseren Lebensweg streut. Opfern wir es ihm auf, diese Freuden, als Zeichen unserer Dankbarkeit. So bereiten wir unsere Ewigkeit vor, und dieses ewige Leben wird dem gleich sein, das wir uns bereitet haben. Lassen wir es uns angelegen sein, in der entscheidenden Stunde wohl versehen und wohl ausgestattet zu sein.

Möge darum, liebe Freunde, das Direktorium uns in der gegenseitigen Liebe begründen. Möge dieses Büchlein uns die Form und Gestalt geben, die wir gegenüber dem Nächsten, den Mitbrüdern und all jenen einnehmen sollen, die uns sehen, die unseren Weg kreuzen, die uns zum Vorbild nehmen.

Häufig komme ich auf dieses Thema zu sprechen: aber 40 Jahre hindurch sah ich ein dermaßen glückliches Resultat dieser Einstellung in der Heimsuchung von Troyes. Während dieser langen Zeitspanne kann ich sagen, gab es in der dortigen Kommunität, von einem oder zwei Köpfen ohne Hirn abgesehen, wie sie überall anzutreffen sind, kein Anzeichen für einen einzigen Gedanken gegen die hl. Regel und den Gehorsam. Welchem Umstand war dies zu verdanken? Der Sorge der ganzen Ordensgemeinde, diesen Artikel der Guten Meinung, das Direktorium, zu beobachten. Das war die Lektion, die schweigende Predigt, die das Tagewerk aller ausfüllte und befruchtete. Diese Predigt begann am Morgen und endete am Abend, oder besser gesagt: endete nie.

Wie wunderschön, zu solch Gottvereinigung zu gelangen! Keine menschliche Kraft ist imstande, dieses Resultat zu erzielen, weder Talent noch Wissen, sondern einzig die Gute Meinung. Darum möge jeder sein Direktorium zur Hand nehmen und dieses Kapitel durchlesen und sich vornehmen: ich will es ausführen.

Ich wiederhole: Wir müssen entschlossene Männer sein. Dann hört alles Schwanken auf. Dann tut man zwangsläufig gut, was uns zu tun obliegt. Geben wir uns also Mühe, diese Kapitel in die Praxis zu überführen. Machen wir uns mit ganzer Seele daran, nicht nur diese Woche, sondern immer. Das verleiht uns Würde und Kraft. Immer wenn wir auf einen Rat des lieben Gottes eingehen, unterläuft uns nichts Falsches. Man handelt dann sogar sehr gut. Gott selbst aber gibt uns den Rat, so zu handeln. D.s.b.