Kapitel vom 10.05.1893: Über die genaue Vorstellung eines Oblaten.
Ich bitte alle Patres, eifrig für Nachwuchs zu beten. Wir brauchen Bewerber in hinreichender Menge und besonders von hinreichender Qualität. Bei der hl. Messe und bei unseren Kommunionen wollen wir dieses Anliegens gedenken. Das schärft euch euer Oberer ein. Befolgt es gewissenhaft und aufs Wort.
Noch einmal möchte ich das Thema des letzten Kapitels aufgreifen: um sich die rechte Vorstellung vom Oblaten des hl. Franz v. Sales zu machen, muss man ihn als einen Menschen sehen, der sich als Gottes Eigentum weiß und sich ihm schenkt, indem er die Regel erfüllt und treu im Gehorsam lebt, dem er sich geweiht hat.
Der Oblate hat nicht die äußere Protektion, auf die sich andere große Orden wie Jesuiten, Dominikaner oder Franziskaner stützen können. Er handelt vielmehr als Individuum. Jedes Mal, wenn er bei seinem Tun nicht voll und ganz im Willen Gottes steht, nicht vorbehaltlos von Gott abhängig handelt, er also einen rein menschlichen Akt setzt, ist diese Handlung – nach dem Geist des hl. Franz v. Sales – an übernatürlichem Verdienst als fast ganz wertlos zu betrachten.
Jeder Oblate ist sich selber so zu sagen seine eigene Kommunität. Er muss sein Leben gleichsam in sich selber leben, muss in sich die Beharrlichkeit, die Treue und die Gottesliebe schöpfen, die er braucht, um die Gnaden seines Berufes und die Verpflichtungen des Gehorsams zu bewahren und weiter zu entfalten. Das ist der wahre Sinn eurer Berufung. Wollt ihr solchen Gehorsam üben, nicht nur äußerlich, sondern auch im Inneren? Wollt ihr euren Willen treu und liebend an alles heften, was vorgeschrieben und festgelegt ist, und alles tun, was der Obere euch aufträgt? Nun, dann ist es gut, dann habt ihr die Berufung. Anderenfalls müsste ich euch sagen: ihr habt keinen Oblatenberuf. Vielleicht käme eine andere Kongregation für euch in Frage. Damit will ich nicht behaupten, die Oblaten seine die Krone der Schöpfung. Nur das wage ich zu erklären: die Oblaten unterscheiden sich von allen anderen Ordensleuten. Der Oblate lebt unaufhörlich dem Willen Gottes und steht ganz in der Lehre des hl. Franz v. Sales. In den unterschiedlichen theologischen Lehrmeinungen hält er sich an jene des hl. Franz v. Sales und verteidigt sie.
Was diese theologische Lehrmeinung betrifft, muss man natürlich den Geist der Guten Mutter und den des hl. Franz v. Sales von Grund auf kennen. Einer unserer Patres traf kürzlich mit dem Pater Tissot zusammen und diskutierte mit ihm über Geist und Lehre der Guten Mutter, die dieser gute Pater in seinen Predigten verkündet. Nach P. Tissot gründen Fundament und Prinzipien der Lehre der Guten Mutter und selbst deren einzelne Ableitungen einzig in der Barmherzigkeit Gottes. Der ganze „Weg“ bestehe also in der Barmherzigkeit, in einer ungeheuren, neuartigen Liebe, die sich der Seelen bemächtigt. Der Art, wie sie Seelen darauf antworten, darf man keine große Bedeutung beimessen: die Treue, mit der der Mensch darauf reagiert, spielt eine recht untergeordnete Rolle, so sehr wird uns diese Barmherzigkeit ungeschuldet zuteil und unabhängig von unserem Mittun. Der „Weg“ liege also fast völlig auf der Seite Gottes, auf Seiten dieser Barmherzigkeit, die sich als so überschwänglich erweist, dass sie sich der Seele selbst inmitten deren Untreuen bemächtigt.
Nun, Gottes Barmherzigkeit erfolgt sicher ohne unser Verdienst. Doch muss trotzdem auf diesem Weg, wie ihn die Gute Mutter verstand, neben der göttlichen Barmherzigkeit auch der menschlichen Treue begegnet. Predigt man also über den Weg der Guten Mutter, sollte man nicht weniger auf diesem menschlichen Faktor bestehen als auf dem göttlichen, also auf der Notwendigkeit unserer Treue. Der „Weg“ ist in der Idee der Guten Mutter keine rein mystische und außergewöhnliche Sache. Als erste Grundlage hat er gewiss den völlig ungeschulten Anruf der göttlichen Barmherzigkeit, als zweiten Grundpfeiler aber auch unsere eigene, ungeteilte, liebende und kindliche Treue.
Stehen wir also zu dieser bedingungslosen Treue, die das Direktorium von uns wünscht! Und warum das? Ich wiederhole: weil wir nicht wie andere Ordensleute von unserer Ordensgemeinde mitgerissen werden. Wir haben nicht die Absicherung und Protektion der anderen Orden. Die Natur unserer Verpflichtungen und Funktionen macht nicht jeden Augenblick unser Tun vom Tun der anderen Glieder der Ordensgemeinde abhängig. Ein Oblate muss ganz persönlich die Pflichten des Oblaten erfüllen und jede einzelne von ihnen mit größtmöglicher Exaktheit. Braucht man 10 oder 20 Jahre, um ein guter Oblate zu werden, dann ist das nicht zu viel. Die Gute Mutter sagte zu mir, man braucht dazu sogar 30 Jahre. Nur auf Grund harter Arbeit an sich selbst und treuer Befolgung des Direktoriums und des Gehorsams in all den uns anvertrauten Ämtern gelangt man dahin. Sieben oder achtmal habe ich das schon gesagt, und werde es weiter tun. Onkel Fleury (Anm.: „der Großonkel der Guten Mutter.“) wiederholte unermüdlich: Gott ist getreu, er kann sich nicht täuschen noch getäuscht werden. Dieses ohne Unterlass wiederholte Wort blieb haften und wurde zur Grundlage für die Erziehung der Kinder, die ihm zuhörten. Möge diese Überzeugung von der Notwendigkeit der Treue auch unser Lebensfundament bilden. Suchen wir in uns selbst alles Notwendige, um Gottes Anruf zu entsprechen, nicht nur so auf „Gut Glück“, sondern mit großer Gewissenhaftigkeit und Pünktlichkeit.
Wir wollen gut erfassen, dass das Leben der Oblaten mehr im Inneren gründet als im Äußeren. Das äußere Tun und Verhalten des Oblaten wird geregelt durch sein inneres Wollen. Ein Oblate ist seinem Wesen nach ein innerlicher Mensch, ein Mann des Gebetes und der Betrachtung, der in der Gegenwart Gottes dem Dienste Gottes lebt. Vernachlässigt er das Gebetsleben, ist er kein innerlicher Mensch, so wird er nie seine Pflichten erfüllen können und macht alles falsch. Das sei im Allgemeinen gesagt. Wenden wir uns jetzt unseren Verpflichtungen im Einzelnen zu. Der Oblate legt Ordensgelübde ab, Gelübde der Armut, des Gehorsams und der Keuschheit.
Welcher Art muss unser Gehorsam sein? Nicht der der Jesuiten, wie ein Leichnam. Nein, der Oblate ist ein lebender Mensch, wenn er gehorcht. Er tut es in der ganzen Fülle seiner Fähigkeiten, seiner Willenskraft und seines Lebens. Er vernichtet sich nicht, wenn er gehorcht. Er braucht keine unüberwindlichen Schwierigkeiten zu bekämpfen und zu besiegen. Der Jesuit gehorcht wie ein Soldat. Er ist Soldat und stürmt voran. Alles ist ihm gleich, er schreitet dahin und vernichtet alles eigene Denken und jedes eigene Wollen. Der gehorchende Oblate hingegen vernichtet nichts, sondern bringt seinen Willen dar. Er betätigt diese Willenskraft und bedient sich ihrer als eines Mittels, um besser zu gehorchen. Er legt sein ganzes Herz hinein. Nicht einem Toten gleicht er also, sondern einem sehr Lebendigen, der Gott die Hingabe und das Opfer seines Willens anbietet, so wie es unser Herr getan hat. Im gleichen Ausmaß und in der gleichen Weise wie er opfert er sich. „Aber das sind doch alles Spitzfindigkeiten, was Sie da sagen, Herr Pater.“ Durchaus nicht. Verstehen wir doch, wie verdienstlich solch ein Gehorsam ist und wie viel Macht er über das Herz Gottes haben kann, wenn er ohne Einschränkung und voller Lebendigkeit dargeboten wird, wenn gleichzeitig auch unser auch unser rein natürliches und menschliches Wollen den Gehorsam einhüllt und stützt. Das ist die Doktrin des Gehorsams, wie der hl. Stifter sie vorträgt.
Wie macht es der hl. Franz v. Sales? Mit welchen Mitteln will er die Seele zum Leben der Gottvereinigung, zur Liebe des Wohlgefallens führen, dem Ziel unseres ganzen Ordenslebens? Zuerst mithilfe des Gehorsams. Wir erhalten einen Befehl. Er gefällt uns nicht, widerspricht unserer Natur, unserem Gefühl, fällt uns in jeder Hinsicht zur Last. Wie sollen wir uns jetzt unterwerfen? Durch Vermittlung unseres Herrn. Wir vereinigen unseren Willen mit dem Seinigen. „Ist das dein Wille, Herr?“ fragen wir. „Dann will ich es auch. In Deine Hände, Herr, empfehle ich meinen Geist. Mein ganzes Ich begehrt dagegen auf? Nun, Herr, ich übergebe Dir alles, ich mache mich zu Deinem Sklaven, nein nicht zum Sklaven, sondern zum Freund Deines Herzens.“ Gott ist es ja, der zu mir im Gehorsam spricht. Einen Segen empfange ich da und Du hilfst mir, ihn zu empfangen. Ich will ihn mit Ehrfurcht und Liebe annehmen und den, der uns befiehlt. So wird unser Leben zu einem Leben der Liebe und des Eins-Seins mit Gott, des auch mit unserem Oberen und mit unseren Mitbrüdern. Denn der Gehorsam, so wie wir ihn üben sollen, verpflichtet uns auch, unseren Oberen ebenso zu lieben, wie das Gehorchen selbst. Wir würden sonst gegen unser Gelübde fehlen und stünden in direktem Widerspruch zu dem Geist, der uns dabei beseelen soll. Das ist ein wesentlicher Punkt. Das ist unsere Doktrin. Der so praktizierte Gehorsam hat nichts Knechtisches an sich, sondern ist edelste und großmütigste Betätigung unseres Willens. Auf solche Art gehorchen auch die Engel, die vollkommensten Geschöpfe. Ihnen fällt es leicht zu gehorchen. Mögen wir auch keine Engel sein, wir müssen doch nach diesem Gehorsam streben. Er ist Ziel und Zweck und Geist unseres Institutes.
Jeder arbeite daran, in diesem Geist die Pflichten seines Amtes zu verrichten, ob als Lehrer oder Aufseher, als Seelsorger oder Handarbeiter. Halten wir uns in unseren Beziehungen zu den Kindern und Jugendlichen gewissenhaft und pünktlich an die Vorschriften und Weisungen des Gehorsams. Gestattet euch niemals den geringsten Verstoß gegen den Gehorsam. Pflegt so intensiv die Vereinigung mit Gott, dass euch nie ein freiwilliger Fehler gegen diese Tugend unterlaufe, oder macht ihn auf der Stelle wieder gut.
Mitunter kommt es mir zu Ohren, dass sich einer von euch von Ungeduld hinreißen lässt und den Kindern in einem Augenblick der Erregung einen Klaps, eine Ohrfeige verabreicht. Das ist durch unsere Oblatenregel untersagt. Das verbieten aber auch die Bürgerlichen Gesetze. Es können die schwerwiegendsten Folgen daraus entstehen. Das kann bis zum Gefängnis (Anm.: „Für österreichische Leser: Justizanstalt“) gehen. Und gerade in unserer Zeit gibt es Leute, die glücklich wären, wenn es soweit käme. Wir sind ja von so viel übel wollenden Menschen umgeben, die alles auf so ärgerliche Weise beurteilen.
Wenn ihr euch an das haltet, was ich euch gesagt habe, und euch nach diesen Grundsätzen richtet, werdet ihr mit Sicherheit viele Dummheiten vermeiden und in all eurem Tun Glück haben. Was ich eben bemängelt habe, gilt natürlich nicht für alle, sondern ist eine Feststellung, die ich hin und wieder mache.
Gebt euch darum alle Mühe, so zu gehorchen, wie ich es da erläutert habe. Hüten wir uns, dagegen zu verstoßen. Unterläuft aber dennoch ein Fehler, so wollen wir ihn schnell wieder gutmachen. Glauben wir wenigstens nur nicht, alles müsse immer aufs Vollkommenste klappen. „Mein Sohn, wenn du dich dem Dienste Gottes weihst, so bereite deine Seele für die Versuchung.“ Das wollen wir uns gesagt sein lassen.
Gewöhnen wir uns also an diesen ganz freien, ganz spontanen und ganz hochgemuten Gehorsam, der sich aus Liebe und um Gott zu gefallen unterwirft, und der seinen Willen dem des Oberen angleicht. Durch solchen Gehorsam verhundertfacht man seine Kräfte.
Jeder von uns möge sich wohl prüfen, ob er darin ganz klar sieht. Die Zeit entschwindet schnell. Die Zeit, die wir verloren haben, und die wir treu nutzen sollten, kehrt nie wieder. Macht euch also eifrig ans Werk, strengt euch alle an und übt euch speziell in diesem universalen, großmütigen und herzlichen Gehorsam. Es ist der einzig richtige Gehorsam der Oblaten des hl. Franz v. Sales.
Wenn ihr das wohl beherzigt, werdet ihr im Geiste des Instituts fest gegründet sein.
D.s.b.
