Kapitel vom 03.(04.).05.1893: Unser Wunsch, unser Wert
Wir wollen heute eine Änderung einführen, die ich für nützlich halte: Nach dem Kapitel der Professen kommen auch die Novizen, um an der Unterweisung teilzunehmen. Wir kennen in der Tat unsere Novizen zu wenig. Da aber die ganze Gemeinde eines Tages aufgerufen ist, ihre Zustimmung zu geben, ist es gut, sie zu sehen und zu kennen. Das können wir aber nur durch solche Zusammenkünfte, desgleichen durch unser Zusammentreffen tagsüber mit den Novizen, die unterrichten oder andere Ämter ausüben. Das wird eine gegenseitige Annäherung in der Kommunität bewirken.
Ich empfehle bei dieser Gelegenheit dringend, den Novizen ein gutes Beispiel zu geben. Was den Novizen formt, ist doch das Noviziat. Werden sie aber da nicht erbaut, so bringt das ganze Noviziatsjahr keine Erbauung für sie. Sie werden mittelmäßige Novizen und anschließend mittelmäßige Professen.
Ein Novize sollte in jedem Professen ein Vorbild von Gewissenhaftigkeit, Nächstenliebe und Eifer finden können. Durch die Nachahmung der Professen müsste er den Weg finden, den er später weitergehen kann. Hat er aber Berührung mit Professen, die selbst noch nicht recht gefestigt und mit der wahren Lehre genährt und gesättigt sind, dann kommt es zu jenem bedauerlichen Versagen, das wir peinlichst vermeiden sollten.
Wie wichtig ist es darum, dass alle Mitglieder der Kongregation sich heiligen, sodass man mir sagen kann, wie es übrigens schon häufig geschehen ist: Alle Oblaten gleich sich. Vor allem aber müsst man sagen: Alle Oblaten sind Heilige. Sind wir denn nicht alle zur Heiligkeit berufen? Können wir wirklich etwas leisten ohne Heiligkeit? Wir besitzen keine sozialen Organisationen, mit denen wir glänzen können. Auch mit unseren apostolischen Werken können wir nicht imponieren. Die Kongregation somit genau so viel wie die einzelnen Mitglieder taugen und soweit diese heilig sind.
(Nun treten die Novizen zu den Übrigen hinzu).
Meine Freunde, wir müssen wohl verstehen, was ein Oblate eigentlich ist. Wir dürfen nicht meinen, das sei leicht. Der hl. Stifter sagte einmal zur Mutter Chantal, die ihn bat, er möchte doch auch Priester seines Geistes heranbilden: In meinem ganzen Leben konnte ich nur anderthalb geeigneten Priestern begegnen. Im Allgemeinen, fuhr er fort, machen die Geistlichen zu viel Einwendungen, sind nicht lenksam genug und machen sich gern Ideen zu Eigen, die man ihnen vermitteln möchte.
Gerade in der Ansicht, Oblaten zu gründen, schuf er das hl. Haus von Thonon, um dort Priester aufzunehmen, die nach einer gemeinsamen Regel und dem Geist lebten, den er ihnen vermitteln wollte. Vor den sich auftürmenden Schwierigkeiten musste er aber zurückweichen.
Auf welche Weise bildet man also Priester heran? Bei den Jesuiten reiht man die einzelnen Mitglieder in das allgemeine Regiment ein, flößt den Novizen eine hohe Achtung nähren und stärken sie ihren Geist. Das ist eine mächtige und nützliche Hilfe, und es liegt mir völlig fern, dies zu tadeln. Ein Oblate dürfte selbst nach den Satzungen gar nicht so handeln, weil unsere Art vorzugehen allzeit höchst persönlich bestimmt ist. Was dem Jesuiten die Gesellschaft Jesu gibt, das finden wir in uns selbst.
Ich komme noch einmal auf den Grundsatz zurück: Ein Oblate ist im wahren Sinn des Wortes kein Mönch, sondern ein Mensch, der bei all seinem Tun und jeden Augenblick seines Tagewerkes sich ohne Unterlass Gott hingibt und von ihm lebt. Dass ihr Gott hingeopfert seid, sagt man am Professtag. Das ist unsere Triebfeder. Bleiben wir also jede Minute in der Hand Gottes. Festigen wir uns in seinem heiligen Willen. Wollen wir nur, was Gott will! Dann handeln wir im Geist eines Oblaten!
Jetzt, wo ihr wisst, was ihr zu tun habt, und ihr seht einen Mitbruder, der seine Regel vernachlässigt, was macht euch das schon aus? Ahmt ihn einfach nicht nach, sucht nicht in ihm, sondern in euch, was ihr braucht, falls ihr nicht für ihn verantwortlich seid als Novizenmeister. Ich halte mich immer an den Grundsatz: der Oblate ist kein Jesuit und kein Mitglied einer geistlichen Bruderschaft. Unser Verdienst gründet nicht in dem, was die anderen tun, sondern in dem, was jeder von uns selbst tut, indem er sich rückhaltlos Gott hingibt. Auf diesem Wege verliert man wahrlich nicht seine Zeit. Ich bestehe gerade deshalb so nachdrücklich auf diesem Gedanken, weil es ein Grundgedanke des hl. Franz v. Sales und der Inbegriff der Lehre der Guten Mutter Maria Salesia war.
Prägt euch tief ein, damit ihr gute Oblaten werdet. Erlaubt mir eine kleine Bemerkung: Ein Oblate verstößt gegen das Stillschweigen. Ich sähe es beinahe lieber, er würde einen Diebstahl begehen. Denn für einen, der sich Gott für alle Augenblicke seines Lebens geschenkt hat, stellt das eine große Unvollkommenheit dar, groß auch in ihren Folgen. Ich will nicht sagen, ihr begeht damit eine Todsünde, und doch ist es mehr als eine Sünde, es ist ein Fehler, ihr richtet damit Unheil an. Eine Sünde wird verziehen und gesühnt, ein Fehler nicht und er bleibt er nie ohne Folgen. Kann man aber das Stillschweigen überhaupt halten? Im Priesterseminar waren wir zu achtzehn in unserer Klasse: von zwei oder drei abgesehen, die keinen Beruf hatten und auch nicht geblieben sind, fehlte keiner gegen das Stillschweigen. So bildet man eifrige Priester heran, fromme und aufrichtige, die viel Gutes tun. Meine sämtliche Mitschüler waren von dieser Art, um warum? Ich stehe nicht an zu behaupten: weil sie alle Liebhaber des Stillschweigens waren. Meidet so alle Verstöße gegen die Regel, die Fehler gegen die Liebe, die kleinen Streiche, die nur Leichtsinn verraten.
Ich wiederhole zum Schluss: Was unseren Wert ausmacht, ist unser eigener Wille. Wir sind keine Sklaven, sind nicht Soldaten eines Regimentes, sondern Menschen, die sich Gott übergeben haben. Wir haben unser Direktorium und unsere Satzungen. Die sollen wir beobachten. Diese Art und Weise, die Regel zu befolgen, indem wir unserer eigenen Persönlichkeit treu bleiben, indem wir unserer eigenen Persönlichkeit treu bleiben, verleiht uns große Stärke, und jedem von uns verbleibt das ganze Verdienst seiner Tugenden.
