Kapitel vom 24.05.1893: Über den Gehorsam Gott gegenüber
Wir müssen alle Mittel gebrauchen, die uns der Ordensstand zu unserer Heiligung bietet, z.B. die Kulp. Die Art und Weise, wie wir sie vornehmen, verrät unsere Demut, und dieser Akt der Selbstverdemütigung ist Gott so angenehm, dass er ihn geneigt macht, uns sofort die Verzeihung unserer Verstöße zu gewähren.
Machen wir diese öffentliche Selbstanklage gut, dann erwirkt sie uns nicht nur Vergebung der angeklagten Fehler, sondern verschafft uns einen Zuwachs an Gnaden, um in unserem Beruf treuer zu werden. Beim Sakrament verbirgt sich die Gnade unmittelbar unter dem sichtbaren Zeichen, z.B. unter dem Taufwasser oder dem eucharistischen Brot und Wein. Bei den Sakramentalien dagegen ist die Gnade zwar ebenfalls da, aber in geringerem Umfang, und sie verlangt größere innere Disposition. Aber da ist sie, und wir müssen davon so viel wie möglich zu erlangen suchen. Beseelen wir darum alle Übungen der Regel mit jenem Geist, den der hl. Stifter vorschreibt, in demütiger Sammlung, ernst und fromm. Bemühen wir uns um das echte Gepräge des Oblaten des hl. Franz v. Sales.
Beim letzten Kapitel haben wir über den Geist des Oblatengehorsams gesprochen. Wir sollten nicht nur im Geist der Abhängigkeit von den Oberen handeln, sondern müssen mit Liebe gehorchen. Und der Grund, der uns bewegen soll, wie ich es ausgeführt habe, ist nicht der Geist der Knechtschaft, sondern der Freundschaft mit Gott. Was der liebe Gott im Gehorsam verlangt, sollten wir ihm mit Liebe geben. Auch zu unserem Oberen sollen wir mit herzlicher Liebe gehen, weil alles, was er von uns verlangt, uns ja von Gott kommt. Das ist das übernatürliche Motiv unserer Einstellung zum Gehorsam. Das sollte uns innerlich ans Gehorchen binden und in unsere Unterwerfung jene Gesinnung der Liebe legen, die das besondere Kennzeichen des Oblatengehorsams ausmacht. Gerade wir Oblaten sind zu diesem liebenden Gehorsam mehr als irgendeine andere Genossenschaft verpflichtet, denn auf dem Prinzip der Liebe beruht unser gesamtes Tun.
Dieser liebende Gehorsam ist sehr gut und würdig. Es ist kein passiver Gehorsam, Unterwerfung eines Willens unter einen anderen. Es ist vielmehr ein Unterwerfung unter den alleinigen Willen Gottes, die Liebe zum Willen Gottes. Einen großartigeren und würdigeren Gebrauch unserer Freiheit können wir gar nicht machen. Wenn wir so gehorchen, erfreuen wir uns uneingeschränkt unserer Freiheit. Wir setzen einen Akt, der uns angemessen ist, und wir tun es, weil wir es gerne tun. Handeln wir hier ja nicht unter dem Diktat einer Leidenschaft oder einer Schwäche – unsere Freiheit wird ja durch nichts geschmälert – sondern weil wir es selber wollen, verzichten wir auf unsere Freiheit und legen unser Herz dazu. Allein das Unvermögen, der verkehrte Wille oder die Tyrannei der Leidenschaften könnten diese Hingabe unseres Willens verhindern, der dann eben nicht mehr frei wäre und nicht mehr zur Liebe unseres Herzens, zur Wahrheit und zum Glück gelangen könnte.
Nichts gereicht uns zu größerer Ehre als die Betätigung unserer Freiheit unter solchen Bedingungen. Alle Wesen gehorchen, selbst die Tiere. Der wahre Gehorsam aber, der vernünftige, besteht darin, über sich selbst solche Herrschaft auszuüben, dass man nie den Willen irgendeiner Leidenschaft oder Schwäche beugt, sondern allein Gott, den wir lieben und der uns liebt. Der so verstandene Gehorsam ist immer schön, groß und würdig. Er erniedrigt nicht nur nicht, sondern zeichnet uns aus und erhebt uns. Er ist das Schönste, was es gibt, weil er uns Gott nahebringt, uns bis zum „Wort Gottes“ erhöht, das uns selbst diesen Gehorsam vorleben wollte: „Er ist für uns gehorsam geworden bis zum Tod, ja bis zum Tod am Kreuze.“ Dieses Gehorchen adelt unsere Seele und setzt sie eins mit Gott. Das werden wir erfahren. Denn habt ihr so gehorcht, dann werdet ihr auch erleben, wie sehr Gott euch näherkommt, beim Breviergebet, bei der Betrachtung, bei der hl. Messe und Kommunion. Je mehr die Seele auf diesem Weg wandelt, umso mehr tritt sie ein in die Intimität Gottes.
Üben wir uns also fleißig in diesem Gehorsam und sagen wir uns immer vor: diesem Gehorsam wohnt höchster Großmut und höchste Freiheit inne. Hier handeln wir als Herrn und Meister, frei von jeder Leidenschaft, frei von Stolz, von Egoismus und Feigheit. Nicht Neid noch Eifersucht führen das Zepter, wir treten sie vielmehr mit Füßen und gehen dem entgegen, den wir lieben und erwählen. „Herr, hilf meinem Unglauben.“ Bitten wir Gott um seine Hilfe, dies recht zu verstehen. Verweilen wir nicht lange beim Anblick unserer Fähigkeit und unseres Unvermögens. Glaubt mir, ein Ordensmann ist alles andere als ein Dummkopf oder eine Maschine, die läuft so wie man sie ankurbelt. Gewiss, ihr seid in einen Orden eingetreten, um zu gehorchen. Aber deshalb seid ihr keine Sklaven geworden, die nur auf Peitschenhiebe reagieren. Würdet ihr den klösterlichen Gehorsam so verstehen, dann wärt ihr nicht auf dem rechten Platz, dann dürfte man nicht ins Kloster gehen. Versuchet ihr aber, beim Gehorsam irgendwelche Beruhigungsmittel zu gebrauchen und euch mit einem Mittelmaß zu behelfen, dann wisst: das geht bei uns nicht. Unser Gehorsam muss von anderer Qualität sein. Wir gehorchen Gottes wegen und gehorchen unmittelbar Gott. Wir tun es in aller Freiheit und Liebe. Haltet euer Versprechen in dem Ausmaß, wie ihr es abgelegt habt. Dann tut ihr im letzten das, was ihr selber wollt, weil ihr ja einzig den Willen Gottes ins Auge fasst.
Der Mensch stellt etwas Großes dar. Wir dürfen ihn nicht vernichten und herabwürdigen, und der Gehorsam, so wie wir ihn verstehen, erniedrigt ihn nicht, sondern erhöht ihn. Franz v. Sales war ein tüchtiger Philosoph. Statt die Persönlichkeit zu zerstören, zu einer Maschine zu entwürdigen, versetzte er sie durch den Gehorsam in den Vollbesitz ihrer Willenskraft und Freiheit. Das sind keine leeren Phrasen, die ich euch da vortrage, das ist etwas sehr Positives und Praktisches. Wer so gehorcht, ist ein Mann. Sonst wäre man gar nichts und würde sich selbst entweihen. Ich habe gesagt: Götter seid ihr alle und Söhne des Allerhöchsten. Jawohl, wir sind in Wahrheit Söhne Gottes, und dies gerade durch den Gehorsam im Geist des hl. Franz v. Sales und der Guten Mutter. Dahin führt uns der Gehorsam: zur Liebe Gottes und des Nächsten.
Worin besteht denn die Nächstenliebe? Sie ist mitunter schwer zu üben, ist aber ausdrückliches Gebot unseres Herrn, das zweite Gebot, das dem ersten gleich ist. Welche Rolle spielt nun diese Liebe bei uns? Sie muss das gleiche Gepräge haben wie unser Gehorsam, muss großmütig, stark und herzlich sein.
Zwischen Mitbrüdern wie zwischen Gliedern derselbe Familie muss eine innige und unerschütterliche Einheit herrschen. Selbst in den besten und christlichen Familien kommt aber mitunter etwas vor: gewisse Sticheleien infolge verschiedener Charakteranlagen. Das wird umso mehr in einer Kongregation vorkommen, deren Band rein übernatürlich ist, und wo die Temperamente, die Erziehung, die Charaktere, die Ideen in verschiedene Richtungen weisen. Hier muss nun die Liebe den Ausgleich schaffen, muss alles beherrschen. Hier gilt das gleiche wie beim Gehorsam: die Vorsehung hat an meine Seite einen Menschen gestellt, an dem ich mich stoße in meiner Art zu sehen und zu urteilen. Er passt mir nicht und gefällt mir natürlicherweise nicht. Aber ist es denn nicht unter den besten Freunden möglich, dass verschiedene Neigungen und Vorstellungen aufeinanderprallen, dass von Zeit zu Zeit Reibungen und Kränkungen zusammenstoßen und Teile abgeschlagen werden. Wie lässt sich da nun die Liebe zu den Mitbrüdern üben?
Als Grundsatz gelte: Gott selbst hat es so gewollt. Wenn du größere Schwierigkeiten mit einem bestimmten Mitbruder hast, wirst du damit nur fertig, wenn du entsprechende energische Vorsätze fasst. Setze dich über deine Abneigung und dein Urteil hinweg und tue, was Gott will: übe die Liebe und beantworte die Kränkung nicht durch eigene Kränkungen, sondern dadurch, dass du diesen Mitbruder, der dir zuwider ist, liebst.
Lieben, aber wie? In jedem von uns steckt etwas Gutes. Der liebe Gott liebt uns alle ohne Ausnahme, und schon das verleiht und etwas Gutes, dass wir von Gott geliebt werden. Darüber hinaus liegt auf jedem von uns ein Glanz göttlicher Vollkommenheit, ob in unserem Verstand oder in unserem Herzen. Es ist ein Strahl des ewigen Lichtes, ein Ausfluss und Hauch aus seinem göttlichen Herzen. Warum also nicht auf diesen Standpunkt stellen, um den Nächsten lieben? Warum sich an seine an seine negativen Seiten klammern? Warum ihn von hinten sehen? Das wäre ein Beweis, dass uns die Fähigkeit abgeht, ihn richtig zu sehen, dass uns die nötige Intelligenz, der nötige starke Wille fehlt. Das wäre aber Feigheit. Du wirst ein Opfer deiner Eifersucht oder deiner Eigenliebe, darum folgst du deinem ersten Impuls. Die Leidenschaft, von der du dich fortreißen lässt und deren Sklave du bist, überdeckt jeden anderen Gedanken, jedes andere Gefühl. Du bist nicht wahrhaft frei. Werfe also deine Fessel ab und sieh in Zukunft die Dinge im richtigen Blickwinkel.
Übernatürliche Bande verbinden uns. Das Leben der Oblaten muss das übernatürlichste aller Orden sein. Damit will ich nicht sagen – um es noch einmal zu betonen – wir seien besser als andere. In unserem Leben muss aber ein stärkeres Element von Übernatur spürbar werden als bei allen anderen Ordensleuten. Kein anderes Institut hat Satzungen und ein Direktorium, also Dinge, die ihm einen umfassenden Verzicht auf alles Natürliche abverlangen. Wie oft hat mir der Bischof Cortet am Anfang gesagt: „Pater Brisson, Sie leben allezeit im Übernatürlichen.“ Hundertmal sagte er das, mit zufriedener Miene, als wir noch Freunde waren. Wenigstens fünfzigmal in vorwurfsvollem Tone, als wir uns entzweit hatten. Gleichgültig in welchem Ton, er hat es gesagt: Ein braver Mann, der nun tot ist und dessen Tochter in der Heimsuchung lebt, hatte seinen Sohn nach St. Bernhard geschickt. „Warum haben Sie Alexis denn zu den Oblaten getan?“ fragte man ihn. „Da erhält er doch keine Erziehung, das sind ja keine Jesuiten…“ Ja, das spürt man eben, meine Freunde, wir handeln nicht wie die anderen. Wir haben zwar keine außergewöhnliche Art, die zeitlichen Dinge anzufassen. Denn wir sind keine ungewöhnlichen Menschen. Wir wissen genau, was wir taugen, mag die Welt uns beurteilen wie sie will. Wir wissen dafür aber, in welchem Geist wir unser Leben gestalten sollen.
Die Satzungen fordern uns auf, von einem starken Geist der Liebe uns führen zu lassen. Unsere gegenseitigen Beziehungen sollen ganz natürlich sein, d.h. sie sollen einfach, untadelig, ungekünstelt, auf die Nächstenliebe und die Gottesliebe gegründet sein. Gott sollen wir in unseren Brüdern suchen und lieben, und nicht unserem natürlichen Drang, unseren Leidenschaft nachgeben. Dann hat die Liebe alle Kennzeichen, die ihr der hl. Paulus beigibt: „die Liebe heuchelt nicht, handelt nicht unschicklich, bläht sich nicht auf.“
Auf diesen ganz natürlichen Standpunkt müssen wir uns stellen. Wie schön ist die geübte Liebe. Freilich geht das nicht ohne Opfer. Wir sind aufgeregt. Da heißt es eben, sich zur Ruhe zwingen. Ein Mangel an Rücksichtnahme oder eine andere Ansicht haben uns gekränkt. Flüchten wir doch innerlich zum lieben Gott und wahren wir äußerlich eine gute Figur. Ein paar trockene Worte, die Liebe oder Demut vermissen lassen: tun wir, was die Regel sagt. Das mag schwierig sein in Kollegien oder Apostolatswerken, wo man getrennt von den anderen arbeitet. Nun, dann suchen wir eben einen geeigneten Augenblick und machen es so schnell wie möglich wieder gut, sobald wir in der Kommunität weilen. Geht diesen Weg und verfahrt in dieser Weise gegen Obere und Mitbrüder. Haltet die Zügel eures guten Willens fest in der Hand und seid auf der Hut. Dann werdet ihr sehen, dass es nicht immer leicht ist, ohne Sünde auszukommen, sei es gegen die Liebe, sei es gegen den Gehorsam. Ja, seid wachsam, dann werden eure Fehltritte immer seltener und weniger schwer.
Denkt bei eurer Morgenbetrachtung oder der Vorbereitung auf den Tag, wie der hl. Stifter sie uns anrät, an alles, was euch begegnen kann: Heute habe ich mit dem oder jenem zu tun. Das kostet mir ein Opfer. Lieber Gott, ich bitte Dich im Voraus um Deine Gnade. Vielleicht passiert es euch, dass ihr an diesem Tage viel mehr Böses tut als an den vergangenen, dass ihr ganz entgegen guten Vorsätzen und Versprechen handelt. Nun, dann beginnt euren guten Vorsätzen und Versprechen handelt. Nun, dann beginnt eben von neuem. Und geht es auch dann wieder schief, dann habt ihr vielleicht das dritte Mal Glück, und so werden wir jedenfalls Heilige. Mit Hilfe all der Übungen eines jeden Tages wird uns das gelingen. Die so verstandene Heiligkeit ist leicht. Die Gute Mutter wiederholte sich das jeden Augenblick. Auf diese Weise hat auch sie sich geheiligt und sie wurde eine große Heilige. In der ersten Zeit fragte ich Herrn Chevalier: Was die Gute Mutter vom lieben Gott sagt, muss man das glauben? Er antwortete: Wenn Sie es nicht aufs Wort glauben, handeln Sie falsch. Sie wiederholte unablässig: Alles muss man aufs Spiel setzen. Man findet den ganzen lieben Gott, für sich wie für die anderen, nur, wenn man alles im Gehorsam und in der Liebe gegeben hat, wenn man nichts für sich zurückbehält, wenn man alles Gott opfert, alles, was du bist, und alles, was du zu tun hast.
