Kapitel vom 19.04.1893: Die Lebensart der Oblaten ist eine sehr individuelle.
Die Kongregation wächst, wenn auch langsam. Aber ihr Wachstum ist nicht wegzuleugnen. Darum muss jeder Oblate genauestens wissen, was er ist. Wozu überhaupt Oblaten, wo es doch schon so viele Orden gibt? Warum gerade in diesem Augenblock? Das Wort Oblate deckt sich inhaltlich nicht genau mit dem Wort Ordensmann. Der hl. Stifter schreibt an Kardinal Bellarmin über das neue Fraueninstitut, das er gründen wollte: nicht als Ordensfrauen noch als Nonnen, sondern als Oblatinnen sind sie zu beurteilen.
So sind, um euch den Unterschied besser begreiflich zu machen, die Jesuiten Ordensleute. Sie gehorchen einer Regel, die alles, was sie zu tun haben, genauestens festlegt. Sie bilden zusammen nur einzige und selbe „Persönlichkeit“. Das ist sicher ein großer Vorteil, und die Jesuiten stellen in der Kirche eine Macht dar. Sie haben der Kirche immense Dienste erwiesen und werden dies tun bis zum Ende der Zeiten.
Warum sich dann nicht mit den Jesuiten begnügen? Warum Oblaten? Weil die Jesuiten nur Teile eines Ganzen sind, während jeder Oblate eine Einzelpersönlichkeit ist und bleibt. Er folgt keinem äußeren Impuls, der in ihm alles festlegt und bestimmt, bis in seine Gedanken hinein, sondern handelt aus eigenem Antrieb. „Aber“, werdet ihr sagen, „dann sind wir ja keine Kongregation mehr?“ Hört zu und versteht wohl: Die Jesuiten geben sich mit Leib und Seele hin, ihre Vereinigung bildet ein komplettes Ganzes, in dem völlige Übereinstimmung, Lebendigkeit und Aktivität herrscht. Sie sind ein Armeekorps, das sich in Marsch setzt. Warum wollen wir aber bei uns Oblaten die gemeinsame Aktion durch die individuelle ersetzen? Weil in der heutigen Gesellschaft keine allgemein wirkende Kraft mehr geduldet wird. Heutzutage kann man die Gewalt besiege. Die Macht der Welt hat sich in ungeheurem Maße vermehrt durch das Überhandnehmen der Leidenschaft. Es liegt darum nicht mehr im Sinn der Kirche, einen kollektiven Widerstand zu leisten. Der Papst selbst rät den Katholiken, keine Parteien zu bilden, der Macht keine Gegenmacht entgegenzustellen und kein anderes Banner zu ergreifen als das der Religion. Eine kollektive Aktion kann heutzutage nicht mehr genügen. Die Einzelinitiative muss dazukommen, die bis zur Herzmitte des feindlichen Lagers vorzudringen vermag. Jeder von uns möge sich also mit Mut der Sache hingeben. Wir haben die Vorteile des klösterlichen Gemeinschaftslebens auf unserer Seite, und jeder von uns wahrt doch seine ganze Individualität, fast möchte ich sagen, seine Freiheit. Ein Oblate hat sein Direktorium, seine Satzungen und sein Gebräuchebuch. Er ist verpflichtet, seine Gelübde zu beobachten. Darüber hinaus ist er aber völlig frei. Er empfängt keine Order, wie er zu denken hat. Man zwingt ihn nicht, eine bestimmte politische oder soziale Meinung anzunehmen. Er folgt seiner persönlichen Triebkraft, was ihm ermöglicht, seinen Wert zu erhöhen. Man kann sogar behaupten, dieser Zustand stellt die höchste Stufe der Freiheit dar. Wenn nämlich der Oblate seinen Satzungen folgt, so tut er es, weil er selbst es so gewollt hat und weiter will. Frei hat er sich für den Gehorsam entschieden, hat damit gleichsam sich selbst seinen Willen auferlegt und tut somit eigentlich das, was er selbst will. Und darin liegt die Stärke der Oblaten. Ein Benediktiner Unsere Lieben Frau von den Eremiten, Dom Franz v. Sales, sagte mir einmal: Der Oblate ist der Ordensmann für unsere Zeit. Er verfügt über alles, was ihm nottut, um unserer Gesellschaft zu helfen. Alle Mittel der Beeinflussung und Aktion stehen ihm zur Verfügung.
Und in der Tat passt diese Form von Ordensstand für alle Situation und Augenblicke des Lebens. Ein Oblate kann Schreiner, Beichtvater und Prediger ebenso gut sein wie Friedensrichter, wie z.B. in Pella.
Es gibt niemals eine Kraft ohne Gegenkraft, ohne festen Stützpunkt. Diesen Stützpunkt finden wir in uns selbst, wie der Jesuit ihn in seiner Kongregation findet. Es handelt sich da um eine Kraft und um einen absolut innerlichen Wert, der beträchtliche Wirkungen hervorbringen kann, denn jeder von uns treibt seinerseits weiter voran im Maße der Gnade, die Gott in ihn legt. Hier finden wir unsere Stütze und unsere Stärke, es ist der kräftigste Hebel, den wir betätigen können. Die physikalischen und moralischen Gesetze gleichen sich ja. Wenn wir einen Wert darstellen, dann verdanken wir das eben diesem Prinzip. Diese Art vorzugehen räumt uns bei unserer Praxis der Rege eine sehr große Freiheit ein und gibt unserer Intelligenz ihre volle Kraft.
Jedes religiöse Institut hat notwendigerweise ein religiöses Prinzip, das allen Orden gleich ist. Die gleiche Basis und das gleiche Fundament liegt allen Orden zugrunde. Auf diese Grundlage hat jede Kongregation aus eigenem Antrieb ihre Gesetzgebung in Form von Satzungen aufgebaut, die ihrem eigenen Innenleben angepasst ist und den spezifischen Geist eines jeden Institutes ausmacht. Und so wir dann der einzelne Jesuit in der Hand seines Oberen „wie ein Leichnam“. Sicher ist das etwas sehr Schönes und der Zusammenhalt aller einzelnen Willen, die sich auf diese Weise opfern, ist bewundernswert. Ich sage noch einmal: bei uns wahrt jeder seine eigene Persönlichkeit. Gewiss nimmt er teil an allen Wohltaten des Ordenslebens, wird unterstützt durch die Gebete seiner Mitbrüder, hat alle Vorteile der Gelübde. Wird er aber z.B. angegriffen, so erstreckt sich dieser Angriff nur auf ihn allein, und nicht auf die ganze Genossenschaft. Ich sage das, weil ich mich erinnere, einem Jesuiten einmal einige kleine kritische Bemerkungen gemacht zu haben, worauf dieser mir sagte: „In meiner Person greifen Sie die ganze Gesellschaft Jesu an.“ Das lag aber gar nicht in meiner Absicht.
Wenn dieser Gedankengang euch vielleicht seltsam anmutet, so vergesst nicht, dass wir Ordensleute, wie alle anderen sind. „Nicht als Ordensfrauen noch als Nonnen, sondern als Oblatinnen sind sie zu beurteilen“, sagt der hl. Franz v. Sales, und dieses Ziel sollten auch wir uns vor Augen halten.
Es gibt einen Orden, der nie einer Reform bedurfte, und ich möchte behaupten, dass dieser Orden in gewissem Sinn uns Oblaten am meisten gleicht. Ich meine den Kartäuserorden. Sie sind, wie es scheint, die am engsten unter sich verbundenen und zusammengeschweißten Ordensleute, und dabei gleichzeitig die freiesten. Allein mit Gott in ihren Zellen tun und denken sie, was sie wollen.
Beachtet auch die letzten Dekrete Roms über die Ordensleute: was sich darin Bahn bricht, ist ein gewisses Auseinanderrücken der eigentlichen Ordensleute. Diese Dekrete scheinen jedem einzelnen Ordensmann mehr Verantwortung für sein Tun aufzuladen. Ein Oblate soll also nicht eine bloße Maschine, ein Rädchen oder eine Lenkstange sein, sondern etwas Ganzes und Absolutes, eine Einheit und kein Bruchstück.
Führen diese Grundsätze aber nicht dazu, die Oblaten stolz und unabhängig zu machen? Ganz gewiss nicht. Das hieße sie falsch interpretieren. Damit gäben wir diesen Grundsätzen eine Tragweite und Bedeutung, die ihnen nicht zukommt. Im Gegenteil, wenn ihr diese Grundsätze befolgt, werdet ihr euren Oberen tiefe Ehrfurcht erweisen. Ihr werdet diese Freiheit, wie es sich gehört und Gott es will, dazu gebrauchen, um die Weisungen des Gehorsams besser ausführen zu können.
Schon in seiner Epoche erkannte der hl. Stifter mit seiner großen Hellsichtigkeit, auf welcher schiefen Ebene die Welt sich bewegte. Er sah voraus, wie diese Tendenz sich ständig verstärken wird und wollte aus diesem Grunde neue Fundamente legen und neue Grundsätze aufstellen. Und als bestes Mittel schien ihm eine Kongregation von Einzelpersönlichkeiten zu sein, die zu einer Kommunität zusammenkämen und zusammenlebten und alle Vorteile einer Gemeinschaft, die Einfachheit der Lebensweise und ganz gelungen. Als ich durch Italien fuhr, sah ich dort Heimsuchungsschwestern, die in allem denen von Frankreich und allen übrigen Ländern gleichen. Und doch empfangen sie dafür keine Befehle von oben. Jede von ihnen ist frei in ihrer Amtsführung und in der Übung des Gehorsams. Unsere Stärke liegt also in der einzelnen Persönlichkeit, die jedes Mittel ausnutzt, das die Vorsehung in jeden legt. Danken wir ihm für die große Gnade, die er uns damit erwiesen hat. Entsprechen wir ihr hochherzig und edelmütig, indem wir den Rat des hl. Paulus befolgen: In allem gib selbst das Vorbild guten Verhaltens. In der Lehre zeige Lauterkeit und Würde. Jedes Wort sei gesund und unanfechtbar.
