Kapitelvorträge für die Oblaten 1873-1899

      

Kapitel vom 08.02.1893: Das Apostolat der Ordensberufe

Aufnahme in die Genossenschaft.
Das Alter, in dem man in die Genossenschaft aufgenommen werden kann, wird von den Satzungen bestimmt, nämlich 16 Jahre. Bis zu welchem Alter kann man aber Bewerber aufnehmen? Manche Kongregationen stellen gewisse Altersgrenzen auf. Unsere Satzungen sagen darüber nichts. Dem Geist des hl. Franz v. Sales entspricht es, dass alle Aufnahme finden, welchen Alters sie auch seien, wenn sie nur ein starkes und echtes Verlangen nach christlicher Vollkommenheit bekunden.

Vor diesem Mindestalter von 16 Jahren darf man eventuelle Bewerber als „Jungkandidaten“ aufnehmen, und es ist gut, sie aufzunehmen, weil Kinder leichter im Geist der Kongregation zu bilden und zu bearbeiten sind. Wir alle sollten es uns angelegen sei lassen, Knaben und Jünglinge anzuwerben. Dazu eine Bemerkung: Wenn unser Herr im Evangelium die Notwendigkeit des Gebetes einschärfen will, dann sagt er: so muss man beten… so werdet ihr sprechen… Anders aber drückt er sich aus, wenn er seine Jünger auffordert, um Arbeiter für die Ernte zu beten. Dann sagt er: Bittet also den Herrn der Ernte. Dieses „also“ ist stark betont. Es handelt sich folglich um eine exakte und absolute Verpflichtung: Wenn ihr nicht betet, werdet ihr keine Arbeiter haben…

Wisst ihr, wie Berufungen entstehen? Was sie erweckt, ist das Gebet eines guten Lehrers und frommer Eltern. Vom lieben Gott erflehen sie diese. In dieser Meinung opfern sie ihre Gebete und Opfer auf, und Gott erhört sie. Das Kind nimmt die Eindrücke der Gnade auf, die ihm das Gebet erwirkt hat. Die guten Pfarrer aber gehen so vor: Beim Katechismusunterricht werden sie auf einen Jungen aufmerksam, sie beten für ihn, geben sich mit ihm ab, formen seine Seele und bereiten sie fürs Priestertum. Das ist die Geschichte von drei Vierteln aller Berufe in den Seminarien. Jeder von uns muss das zu seinem Anliegen machen, ob Lehrer, Präfekt oder einfacher Katechet. Als ich noch jung war und Katechismus gab, sagte mir H. Chevalier: Halten Sie eine doppelte Katechese, eine innerliche und eine äußerliche. Die innerliche nützt mehr als die andere, sie besteht nämlich in Gebet und weckt Berufe. Sind sie einmal Lehrer, lässt sich das noch leichter erreichen, weil ihr Einfluss dann nachhaltiger und dauerhafter wirkt.

Der hl. Thomas lehrt ausdrücklich, dass Gott ungefähr einem Drittel der Katholiken den Priester- oder Ordensberuf anbiete. So vielen also gibt Gott die Gnade des Berufes. Wisst ihr auch, was mit denen geschieht, die ihren Beruf verfehlen? Sehr oft werden sie Taugenichtse und Schurken. Viele von dieser Kategorie haben katholische Schulen oder ähnliches besucht, hatten den Beruf zum Priester-oder Ordensstand. Sie widerstanden der Gnade, und diese zog sich zurück. So lehrt jedenfalls der angesehenste der Kirchenlehrer, von dem man behaupten kann, seine Lehre besitze die Autorität einer Glaubenslehre. Die Berufung anderer zum Priester- und Ordensstand gehört also zu unseren Standpflichten. Der Bauer wartet auch nicht darauf, dass die Ähren ihm von selbst voll ausgebildet entgegentreten. Er selbst hat das Ackerfeld umgegraben und das Korn gesät. Würde er sich darauf verlassen, dass die Erde von selbst Getreide hervorbringt, würde er nur Brombeeren und Schlehen ernten. Seht euch also bei euren Beichtkindern und Schülern um. Auch unsere Laienbrüder, die Jungen zur Arbeit zugewiesen bekommen, sollen sich für sie interessieren. Betet für sie, gebt euch mit ihnen im Angesichte Gottes ab. Vielleicht meint ihr, euer Gebet sei zwecklos und bringe doch keine Frucht hervor. Täuscht euch nicht, der liebe Gott hört und erhört euch. Sucht in eurer Umgebung Kinder mit guten Anlagen zu erkennen. Ich will ja nicht behaupten, ihr würdet mit euren Bemühungen immer Erfolg haben. Jedenfalls habt ihr ihnen Gutes getan und eure Pflicht erfüllt. Was ich da sage, ist sehr ernst. Habt nur keine Sorge, es gibt nie zu viel Priester und Ordensleute in unserer Zeit. Gewiss ist das Ordensleben zum Fortbestand der Kirche nicht unbedingt erforderlich. Sie kann auch ohne Ordensleute leben. Aber überall, wo die Ordensleute fehlen, gibt es nur sehr wenig Werke und Früchte des Heils. Der Papst hat selbst zu uns gesagt: Wir brauchen Ordensleute für die Bekehrung der Völker. Das Ordensleben bringt ungeheure Resultate hervor, und wie viel Segen breitet es aus über die Familien, die Eltern und Geschwister!

Wenn wir das vergessen, verstoßen wir gegen unsere Pflicht. Gott schenkt – wie gesagt – die Gnade des Berufes einer großen Zahl von Menschen. Einige merken es und werden dessen inne. Ein Großteil aber denkt gar nicht daran. Die Umgebung, in der sie aufwachsen, ist dem nicht förderlich. Das christliche Leben ist nicht solide verankert. Alles um sie her und in ihnen steht in direktem Gegensatz zu einem vollkommeneren Lebensstand. Doch was vermag ich armer Präfekt schon dagegen zu unternehmen? Betet, dann wird euer Einfluss heilsame Früchte zeitigen. Macht die Probe aufs Exempel, dann werdet ihr sehen, was der liebe Gott jedem von euch zuteilen wird. Frucht eurer Gebete wird nichts weniger als die Bekehrung von Seelen sein, wenn ihr euch eifrig bemüht. Außerdem erwirkt ihr den Seelen die Gnade des vollkommenen Lebens. Wie viel Auserwählte werden auf diese Weise für den Himmel vorbereitet! Wahrlich, das christliche Leben findet nur hier seine soliden Fundamente: die Priester- und Ordensberufe sind das Salz der Erde. Jeder werfe also sein Auge auf diesen oder jenen Jungen, bei dem er einen Zug zur Frömmigkeit entdeckt, und versuche durch kluge und diskrete Bemühungen und durch Gebet, ihn zu einem vollkommeneren Leben zu führen.

Wie steht es in der Welt mit der Keuschheit? Es gibt leider nicht viel davon außerhalb des Priester-und Ordensstandes. Worin besteht nun das richtige Leben? Darin, dass man zu Gott betet? Dass man glaubt? Ich will nicht behaupten, man könne in der Welt nicht heilig werden. Häufige Ausnahmen von dem, was ich da sage, kommen vor. Wir erleben sogar große und schöne Tugendbeispiele in der Welt, ja heroische Tugenden bei christlichen Frauen, bei Müttern und Gattinnen, die man wegen ihres Glaubens und ihrer Hingabe bewundern muss. Man trifft auch bei Männern in der Welt unvergleichliche Tugend an. Und trotzdem: wie viel sind es alles in allem?

Das beste Apostolat, das man ausüben kann, ist das Apostolat für geistliche Berufe. Nehmt diese Anliegen in eure Gebete hinein, in eure Betrachtungen und Kommunionen, in die hl. Messe und die Besuchung des Allerheiligsten, ja in eure ganze Arbeit. Holt beim lieben Gott die Seelen, die ihr gern gewinnen möchtet. Dann gelangen sie auch zu jenem Ordensleben, das ihr ihnen erbeten habt. Geschieht dies aber mit Zulassung Gottes nicht, dann habt ihr ihnen jedenfalls eine große Wohltat erwiesen, habt ihren Glauben, ihre christlichen Tugenden vermehrt und gestärkt. Ihr habt ihnen die wertvollste Nächstenliebe erwiesen, und die Auswirkung davon wird sich früher oder später zeigen, vor allem in der Todesstunde.

Eines Tages hörte ich die Beichte eines alten Mannes und fand in ihm ein Durcheinander, das ich nicht definieren konnte. Ich fragte ihm, was er denn während seines ganzen Lebens getan habe. „Zuerst war ich Kapuziner“, sagte er. „Ich war 6-8 Monate bei ihnen.“ Der arme Mann hatte seit langem alles vergessen, was auch nur entfernt an die Kapuziner erinnerte. Sein Leben war so recht das Gegenteil eines christlichen Lebens. Nur ein einziger christlicher Gedanke blieb ihm im Gedächtnis haften und rettete ihn im letzten Augenblick: „Ich erinnere mich“, sagte er, „dass man uns lehrte, es gebe etwas nach diesem Leben, und wenn man tot ist, sei nicht alles tot…“

In der Gegenwart stellt man eine ganz deutliche Tendenz fest, ein Wehen des Gottesgeistes, nämlich das Verlangen, sich zusammenschließen und zu einigen. Viele Priester verbünden sich und versuche, unter einer Art Regel zusammenzuleben. Schaut nur die „Priester des hl. Franz v. Sales“ an, die so zahlreich in Paris und anderswo wirken, oder betrachtet die Tertiaren des hl. Dominikus oder des hl. Franz v. Assisi. Diese Tendenz, dieses intensive Verlangen nach einem echt christlichen Leben, nach Vereinen und Bruderschaften, ist ein ganz auffälliges Zeichen unserer Zeit. Schon vor der französischen Revolution existierte eine große Zahl solch christlicher Vereine, die aber unter einem anderen Gesichtspunkt errichtet waren. Sie hatten eine gleichzeitig bürgerliche wie religiöse Orientierung. Heutzutage sind sie von einem Hunger nach mehr innerlichem und christlichen Geist und Leben erfüllt. Aus diesem Grund wünschen Priester und Christen, sich enger zusammenzuschließen. Infolgedessen erweisen wir der Kirche Gottes einen gewaltigen Dienst, wenn wir den Himmel um Berufe bestürmen und diesen Berufungen den größtmöglichen Eifer widmen.

„Für die Unterhaltskosten müssen die Kandidaten, Postulanten und Novizen in dem Maße aufkommen, als es die Vermögenslage des Hauses erfordert und ihre eigene Leistungsfähigkeit zulässt.“

Die Kongregation ist eine Familie. Wir müssen sie zum Gedeihen bringen und sie auf jede Weise fördern. Der liebe Gott segnet solche Einstellung. Darum möge jeder für die Genossenschaft tun, was in seinen Kräften steht. Das fördert die Einheit der Herzen. Dieser Eifer und diese Hingabe umschlingt uns wie ein starkes Band der Liebe. Gewiss kann man Gründe haben, beim Eintritt in die Genossenschaft ihr nicht alles zu übergeben, was man besitzt. Unsere Eltern, unsere Familie kann in ärmlichen Verhältnissen leben. Darum muss man allzeit zum Besten aller klug und weise vorgehen, soll sich mit den Oberen besprechen und auf den Standpunkt stellen, für seine Kongregation alles zu tun, was man vernünftigerweise leisten kann. Gehört ihr wirklich unsere ganze Hochachtung und Liebe, dann fühlt man sich in ihr zuhause und leistet ihr jede nur mögliche Hilfe.

Man soll es nicht machen wie einer meiner Freunde, ein ungemein origineller Priester, der einer höchst achtbaren Kongregation angehört und sie von Herzen liebt. Vor einigen Jahren schenkte dieser Pater sein nicht unbeträchtliches Vermögen einer anderen Kongregation. „Warum tun Sie das?“ fragte man ihn. „Weil ich überzeugt bin“, gab er zur Antwort, „dass der Geist der Armut das kostbarste Geschenk ist, das Gott einer Ordensgemeinde geben kann. Der Geist der Armut kann aber schwerlich vorhanden sein, wenn man nicht wirklich arm ist…“

Gegenwärtig besteht wahrlich kaum eine Gefahr, dass die religiösen Orden zu reich werden. Doch welche Hilfsmittel eine Kongregation auch immer haben mag – der einzelne Ordensmann kann immer in der striktesten Armut dahinleben. Man braucht also wirklich nicht so radikale Mittel anzuwenden, wie es mein Freund getan hat.