Kapitel vom 01.02.1893: Die Art und Weise, sich in der Welt zu engagieren, ist die Arbeit.
Von den zwei Rängen der Oblaten: Die Patres und die Laienbrüder. Es gibt bei uns zwei Ränge, Patres und Brüder, unterscheiden äußerlich durch ihre Kleidung. Die Brüder werden vor allem für Handarbeiten gebraucht, die Patres für die Erziehung und den Unterricht der Jugend, sowie für die Seelsorge.
Halten wir uns an die Gründungsidee unserer Kongregation. Alle bisher gegründeten Kongregationen und Oberen bieten etwas Besonderen für den Pater und etwas Besonderes für den Bruder. Nie haben sich Patres mit Handarbeit abgegeben. Ich spreche nicht von den alten Mönchen, sondern von den neueren Kongregationen. Damals war das eben angemessen und erlaubte jedem, sich in seinem Amt zu vervollkommnen, da er ja nichts anderes in Aussicht hatte.
Welcher Art muss aber im gegenwärtigen Augenblick die Lebensweise und Rolle eines Ordensmannes sein? Kann er da noch völlig von allem getrennt dahinleben? Das wäre ja ausgezeichnet, denn man soll leidenschaftlich gut seine Arbeit tun, und darin besteht für uns sogar die Vollkommenheit. Aber ist eine religiöse Gemeinschaft unter solchen Bedingungen nicht arg eingeschränkt und eingeengt?
Das hat man uns in Rom deutlich zu verstehen gegeben, als man unsere Genossenschaft approbierte. Man bat uns, unsere Werke nicht einzuengen, sondern nichts auszuschließen, was das Heil der Seelen fördern könnte. Wir sollten uns von der Welt nicht abkapseln, auch nicht mit einigen wenigen Berührungspunkten begnügen wie Jugenderziehung und Predigttätigkeit, sondern in ständigem Kontakt mit der Welt verbleiben und uns um sie kümmern.
Das also ist die Gründungsidee unserer Kongregation. Das ist auch, wie uns Kardinal Czacki bestätigte, in unserer Zeit ein unerlässlicher Wesensteil des echten Geistes der Kirche. Demnach sind Oblaten berufen, in die menschliche Gesellschaft, so wie sie derzeit ist, einzutreten, und das auf allen nur möglichen Wegen. Das geschieht aber nicht allein durch Unterricht und Predigt, sondern dadurch, dass wir uns auch ins Geschäftsleben, in die Welt der Industrie und Arbeit einlassen. Oblaten sollten also nicht nur Professoren und Prediger sein wollen, sondern in jedem Milieu und jeder Lage arbeiten. In diesem Sinn drückte der Bischof von Kapland, Msgr. Leonard, über unsere Missionare seine große Befriedigung aus, als er um unsere Approbation in Rom nachsuchte. Er äußerte dabei die Meinung, unsere Patres glichen den alten Mönchen, die Europas Länder urbar gemacht und zivilisiert haben, die Häuser und Kirchen bauten, und unseren Vätern, den Barbaren, Handwerke lehrten.
Möge darum jeder von uns sich diese Gesinnung zu Eigen machen im Maße seiner Befugnisse. Wir haben sicher eine Aufgabe, der wir uns mit Leidenschaft hingeben sollen: der Lehrer soll seinem Unterricht seine ganze Kraft widmen, der Priester den Pflichten der Seelsorge mit ganzer Glut obliegen. Darüber hinaus aber sollte ein jeder auch noch auf einem anderen Gebiet bewandert sein. In den Augen der Kirchen existieren wir gewiss als eine Ordensgemeinschaft, in den Augen der Welt und vor dem Gesetze sind wir dagegen nur Einzelwesen. Und da müsste sich jeder selber genügen und sich durch seine Arbeit und seine Geschicklichkeit das Lebensnotwendige verschaffen und erhalten können. Wir können nun einmal die Verhältnisse des materiellen Lebens unserer Umwelt nicht verändern. Stellen wir uns vor allem darum mit beiden Füßen und vorbehaltlos in dieses Leben. Von allem sollten wir etwas verstehen. Über alles müssten wir uns ein gesundes Urteil und eine genaue Vorstellung bilden. Das werden wir aber nur schaffen, wenn wir uns nicht einzig in die Belange unseres Amtes einschließen und für andere Dinge blind sind wie z.B. das Bauhandwerk, Fragen der Finanzen, Unterkunft, Kleidung, etc. Man kann die Beobachtung machen, dass gerade tüchtige und intelligente Menschen sich gern mit all dem beschäftigen und sich über den Nutzen einer jeden Sache ein Urteil bilden. Tun wir desgleichen. Denken wir daran, dass der Gehorsam uns ja dorthin schicken kann, wo wir all dies brauchen können. Wozu will man uns denn verwenden, wenn wir nur in den Fragen unseres eigenen Amtes und unserer früheren Tätigkeit beschlagen sind?
Desgleichen sollten wir uns für das Haus interessieren, dem wir angehören. Da geht es um eine ernste und bedeutsame Sache, und mir will scheinen, man begreift das nicht recht. Ich bin Oberer der Oblaten und Oblatinnen, erinnere mich aber nicht, dass je einer zu mir sagte: könnte man nicht diese oder jene Ausgabe einsparen, dies oder das zurücklegen? Die Kongregation würde davon Nutzen haben. Das passiert nie. Im Gegenteil kommt man mir jeden Augenblick mit der Bitte, irgendeine neue Ausgabe zu machen. Jawohl, in all unserem Tun sollten wir den Vorteil und das Wohl der Genossenschaft im Auge behalten und den Standpunkt der größeren Ehre Gottes vertreten. Darum, ich wiederhole, ist es gut, sich über alles Rechenschaft abzulegen!
Wer das wohl versteht, und sich diese Gesinnung zu Eigen macht, ist ein ganzer Mann. Von ihm darf man sicher sein, dass er nie das Ziel verfehlt und allen Eventualitäten gewachsen ist.
Dieses (allgemeine Interesse) verlangte man nicht bei anderen Kongregationen. Jeder konnte sich bei ihnen ausschließlich seinem Sonderauftrag widmen, und das mit aller Vollkommenheit, deren er fähig war. Das garantierte natürlich stärkeren Zusammenhalt und räumte dem Oberen größere Wichtigkeit ein. In den gegenwärtigen Zeitläufen betrachtet uns die Welt aber nicht mehr als Gesellschaft, sondern als Individuen.
Wenn wir nun eine neue Kongregation bilden, dann sind wir auch zu etwas Neuem verpflichtet. Wenn wir uns die Kirche mit unserem Institut präsentieren, müssen wir ihr auch einen Nutzen einbringen, so wie es die anderen Orden bisher getan haben.
Lasst mich noch einmal auf das oben Gesagte zurückkommen: Kardinal Czacki, der uns in Rom empfing, hielt uns geschlagene zwei Stunde bei sich zurück, um uns den Sinn aufzuschließen, für das was die Kirche von uns erwartet. „Die heutige Welt“, führte er dabei aus, „ist nichts als eine Kloake, ein sumpfiger Teich. Sollen wir ihm nun aus dem Weg gehen und uns nur an seinem Ufer aufhalten? Nein, wenn wir die Welt erreichen, sie an uns ziehen und retten wollen, müssen wir mit beiden Füßen da hineinspringen, auch auf die Gefahr hin, uns arg zu beschmutzen. Machen wir sie zu unserem Eigentum und versuchen wir dann, sie zu heilen und zu reinigen.“
Als Mittel aber, dies zu bewerkstelligen, meine Freunde, haben wir die Arbeit. „Ich sehe nicht ein“, fuhr der Kardinal fort, „warum ein Priester, nachdem er fromm sein Brevier gebetet hat, nicht seine Soutane ausziehen und ein Werkzeug in die Hand nehmen könnte, um körperlich zu arbeiten.“
Gewiss habe ich nicht die Absicht, von euch zu verlangen, ihr solltet alle Handwerker werden. Lediglich von Notwendigkeiten möchte ich euch überzeugen, sich von allem ein zutreffendes Urteil zu bilden und notfalls auch eine nicht allzu ungeschickte Hand ans Werk zu legen. Diese Einstellung ist übrigens gar nicht so neuartig wie es scheint. Wer bearbeitete denn im Mittelalter das Land? Doch die Mönche, dieselbe also, die auch Bücher schrieben und an der Spitze jeder geistigen wie materiellen Bewegung standen. Es entspricht nun ganz der Intention der Kirche, dass wir dies im Rahmen unserer Möglichkeiten wieder aufleben lassen. Da fallen mir wieder die Worte eines angesehenen Advokaten ein: Ich wünschte, die Banken und das Geschäftsleben befänden sich in den Händen der Ordensleute. Dann könnten die anständigen Menschen ruhiger schlafen.
Und die Schlussfolgerung aus all dem? Sollen wir es den Maikäfern gleichtun, die nach links und rechts fliegen und ihre Nase an alle Zweige stoßen? Gewiss nicht. Vielmehr soll jeder von uns an seinem Platz bleiben, sich in seinem Amt vervollkommnen, sich aber gleichzeitig offen halten für alles übrige und vor allem sich ein treffliches Urteil bilden. Wir sollten uns so Rechenschaft von allem ablegen, was unsere Fassungskraft nicht übersteigt, um daraus Nutzen zu ziehen und der Kongregation einen Vorteil zu verschaffen.
So haben wir z.B. in Griechenland eine Niederlassung. Dieses Volk hat andere Sitten und Gebräuche. Es gilt also, uns mit ihrer Handlungsweise vertraut zu machen, damit wir uns nicht von ihnen „einwickeln“ lassen. Auch von ihnen wollen wir lernen, was uns nützen könnte, von ihnen wie von allen anderen. Wir betreuen die Damaras und Buschmänner. Warum also nicht auch von ihnen profitieren? Auch sie haben ihre Rezepte, ihre Art zu leben und zu handeln, aus denen wir Nutzen ziehen können. Und hier in Frankreich leben wir inmitten von Geschäftsleuten und Handeltreibenden, von denen wir viel abschauen können, womit wir uns bei Gelegenheiten aus der Patsche ziehen. Es wäre mir nicht recht, wenn ein Oblatenlehrer 40 Jahre lang seinen Unterricht erteilte und außerhalb der Klasse eine Null bliebe. Ich komme immer auf dasselbe hinaus: Über alles sollten wir uns ein gesundes Urteil bilden, darüber nachdenken und studieren, aber nie denken: das geht mich nichts an. Nur so machen wir uns nützlich. Das erleichtert das Befehlen wie das Gehorchen. Denn gibt es für einen Untergebenen etwas Peinlicheres als einem Oberen gehorchen zu müssen, der nur eine unvollkommene oder gar falsche Vorstellung von dem hat, was zu tun ist?
Was ich euch das sage, entspricht auch in etwa dem, wie es die Gute Mutter gehalten hat. Sie hatte keinerlei Spezialstudien betrieben, hatte sich aber über alles ihr Urteil gebildet und konnte darum auf alle Fragen, die ihr von auswärts gestellt wurden, kluge Ratschläge geben. Nie tat sie, als wolle sie sich mit diesen Dingen nicht befassen. Gewiss genoss sie den besonderen Beistand des lieben Gottes, der sie inspirierte. Nun, diese Hilfe Gottes können auch wir Oblaten für uns erbitten. „Gib mir, Herr, die Weisheit als Beisassin, dass sie bei mir weile und mit mir arbeite.“
Diesen Geist also müssen wir uns zu Eigen machen, dass er unser Kennzeichen werde, ein Charakteristikum der Kongregation. Das kann unseren Einfluss nur vermehren. Wie viele sind der Absicht, der Klerus könne ihnen keinerlei guten Rat außerhalb der Religion geben, vor allem in materiellen Dingen. Und man muss zugeben, dass die Kleriker sich vielleicht nicht genug bemüht haben, hierin beschlagen zu sein. Legen wir uns also über alles Rechenschaft ab, das wird unsere seelsorgerlichen Bemühungen sehr erleichtern. Und wie Kardinal Czacki sagte: Gehen wir dem Schmutz nicht allzu sehr aus dem Weg treten wir ruhig in die Kloake, wenn es sein muss, um es auch darin zur Meisterschaft zu bringen, um davon Besitz zu ergreifen und anschließend alle Bewegung auf Gott hin zu lenken.
Im heutigen Kapitel möchte ich euch nur eine Richtung weisen, einen Horizont eröffnen. Ich habe keineswegs die Absicht, euch in alle möglichen Richtungen zu drängen. Das hieße mich arg missverstehen. In unserem Direktorium haben wir ein sicheres und einfaches Mittel, uns in jederlei Beschäftigung zu heiligen. Wie ich es nun oft genug gesagt habe: bildet euch auch über alle materiellen Dinge ein Urteil, so dass ihr dem Nächsten noch besser dienen und ihn leichter für Gott gewinnen könnt. Wir wollen uns zwar nicht zu Sittenrichtern und Herrn aufwerfen über andere, wollen aber dennoch trachten, bei Gelegenheit einen nützlichen Rat geben zu können.
Uns Ordensleuten ist ein großer Vorteil und ein mächtiges Hilfsmittel in die Hand gelegt, andere in unseren Unternehmungen zu übertreffen: es ist die Gottvereinigung und das Gebet. Ich nenne als Beispiel unseren ehemaligen Schüler, den Chemiker Matignon. Er erhielt dieses Jahr den Preis des verdienstvollsten Professors, und er selbst schreibt diesen Erfolg dem Beten des Rosenkranzes zu.
Ich fasse zusammen: Bemühen wir uns, unseren Posten gut auszufüllen und trachten wir gleichzeitig, darüber hinaus über alles ein Urteil zu gewinnen, was heute oder morgen für die Kongregation von Vorteil sein könnte. „Nichts liegt mir fern.“ Bitten wir den hl. Franz v. Sales und die Gute Mutter um diese Gabe. Unser hl. Gründer hatte eine sehr geschickte Hand und liebte die Handarbeit. Darum gründete er auch das hl. Haus von Thonon, wo alle Arten von Arbeitern und Arbeiterinnen schaffen konnten, mit deren Hilfe er ein Gegengewicht gegenüber dem schlechten Einfluss des kalvinischen Genf herstellen wollte.
Und vergessen wir nicht, dass Papst Leo XIII. erklärt hat, die Arbeit müsse die Welt wieder aufrichten, und die Rettung komme von den religiösen Orden.
