Kapitelvorträge für die Oblaten 1873-1899

      

Kapitel vom 25.01.1893: Der hl. Franz v. Sales – unser Modell

Nächsten Sonntag feiern wir das Fest des hl. Franz v. Sales. Jeder von uns möge sich auf diese Festlichkeit vorbereiten, die und bestimmt besondere Gnaden vermitteln wird. Wir haben umso mehr Grund, uns auf dieses Fest und seine Gnaden vorzubereiten, weil wir echte Kinder des hl. Franz v. Sales sind.

Also die Heimsuchungsschwestern der Gründerzeit es sich einfallen ließen, dem Confiteor den Namen des hl. Augustinus (als „Vater“) beizufügen, fragte sie der Heilige lächelnd: „Wer bin ich denn? Bin ich denn bloß euer Pate (=Patron) oder euer Vater?“ Nach seiner Heiligsprechung beeilten sich die Schwester, seinen Namen einzufügen.

Es gibt eine ganze Reihe von Kongregationen, die den hl. Franz v. Sales zum Patron gewählt und seinen Namen angenommen haben. Sie taugen mehr als wir, einige sind weit verbreitet und zählen hervorragendere Leute als wir unter ihren Mitgliedern. Sie besitzen auch mehr Tugend, und der liebe Gott segnet sie reichlich. Dennoch ist Franz v. Sales nur ihr Patron. Sie haben sich unter seinen Schutz gestellt, möchten sich seinen Geist zu Eigen machen, haben aber nicht das Hauptziel, das wir uns gesteckt haben: das innere wie äußere Leben des hl. Franz v. Sales darzustellen. Es handelt sich hier mehr um eine Schutzherrschaft als um die wirkliche Fortsetzung seines Werkes und seines Lebens. Ich weiß nicht mehr, wer P. von Mayerhoffen einmal fragte: „Warum nennt ihr euch Oblaten des hl. Franz v. Sales? Worin sucht ihr ihn nachzuahmen?“ Ich glaube, es war ein Generalvikar von Annecy. „Wir leben nach dem Direktorium, das auch Franz v. Sales geübt hat“, erwiderte der Pater, „und trachten danach, ihm mit Hilfe dieses Mittels in allem ähnlich zu werden.“ – „Ich verstehe“, erwiderte der Generalvikar, „dass ihr auf diesem Weg etwas Besonderes schafft. Ihr setzt sein Werk fort…“ Wir haben demnach Anspruch auf den besonderen Schutz des hl. Franz v. Sales, da wir seine Kinder und seine Söhne sind. Die hl. Franziska v. Chantal hat mir das bezeugt. Die Gute Mutter gab mir öfters die ausdrückliche Versicherung: Wir sind somit die wahren Söhne des hl. Franz v. Sales.

Wir müssen uns also besser als andere auf sein hohes Fest vorbereiten, und das beste Mittel dazu ist der Wille, ihn nachzuahmen. Bei jeder Bild- oder Portraitimitation lassen sich zwei Dinge unterscheiden: die Linienführung und die Farbe. Die Linienführung gibt die Gestalt des Gesichtes und des Körpers wieder, während die Farbgebung die Ähnlichkeit vervollständigt, die persönliche Note und Physiognomie herausstellt. Unter diesem zweifachen Gesichtspunkt sollten wir auch unseren hl. Stifter in uns zur Darstellung bringen.

Die Strich- und Linienführung fängt das ein, was sein Leben prägt, was daraus besonders hervorsticht. Die beherrschenden Züge und Hauptlinien seines Lebens waren der Eifer und Arbeitsamkeit.

Dieser Eifer sollte auch unser ganzes Tun beseelen und beleben. Unser ganzes Schaffen und Mühen muss auf Gott hin ausgerichtet sein, damit wir das Heil der Seelen sicherstellen. Alles, was wir tun, ob Handarbeiten oder Aufsichten, Studium oder Unterricht, all das müssen wir sehr ernst nehmen. Niemand hat so viel geleistet wie der hl. Stifter. Muss man nicht staunen über alles, was er geschafft und hervorgebracht hat und wenn man bedenkt, wie viel Mühe ihn das alles gekostet haben muss. Er gönnte sich Tag und Nacht keine Ruhe. Soeben erschien der erste Band der Gesamtwerke unseres Heiligen im Druck mit einem Faksimile seiner Handschrift. Es ist übersät mit Verbesserungen aus seiner Feder. Man merkt, wie jeder einzelne Ausdruck überlegt, geklärt und genau abgewogen ist. Und dabei handelt es sich wahrscheinlich nicht einmal um den ersten Entwurf. Diese einzige Seite des Faksimiles weist mehr als zwanzig Radierungen auf, und doch sollte sie die die endgültige Fassung sein. Leicht lässt sich arbeiten, wenn man nicht gestört wird und man sich in Ruhe zurückziehen kann. Aber bei seiner Lebensweise und seiner Arbeitslast! Wo nahm er bloß die Zeit her für seine Korrespondenz und seine Werke? Wie kurz und zerstückelt waren doch seine Mußestunden! Ständig musste er von einer Arbeit zur anderen gehen und jede Seite seiner Bücher zugunsten seiner Seelsorgepflichten unterbrechen. Noch einmal: Tag und Nacht musste er sich an der Arbeit halten. Und doch, wie viel Substanz, wie viel Logik, wie viel Ideen und welche Harmonie des Stils in allem, was er hinterlassen hat! Man kann wohl gelegentlich improvisieren. Aber sein ganzes Leben improvisieren müssen, das ist schwer! Lasst mich noch ein Wort betreffs der Arbeit sagen: Wir dürfen uns von äußeren und materiellen Arbeiten nicht völlig absorbieren lassen, sondern sollten die Zeit finden, auch ein bisschen für uns selbst und unser eigenes Innere zu tun. Etwas Zeit kann man dafür immer finden, mehr oder weniger, vorausgesetzt, man vergeudet keine Zeit. Nur so erreicht man etwas. Zum Punkt der Arbeit möchte ich noch sagen: ich wünsche dringend, dass man sein Studium der Theologie gründlich betreibe. Ich bin peinlich berührt durch Ausreden wie diese: ich finde keine Zeit dafür. Widmet eurem Traktat der Theologie jeden Abend zehn Minuten! Denkt dann wieder beim Aufstehen und Ankleiden daran, denn um die Theologie muss man sich mühen. Ich will darüber an alle Patres einen Rundbrief schreiben, da ich verpflichtet bin, für die Beobachtung der Satzungen Sorge zu tragen…

Ihr habt also keine Zeit? Was tut ihr denn, wenn ihr einmal wirklich nichts tut? Was tut ihr beim Aufwachen am Morgen? Ich weiß sehr wohl, dass das Direktorium uns da mehrere Gedanken ans Herz legt. Aber seid ihr dadurch dermaßen innig mit Gott verbunden und habt ihr eine so starke Gnade der Betrachtung, dass es euch nicht möglich wäre, an das zu denken, was ihr in eurem Traktat der Theologie gelesen habt, jetzt oder zu anderer Zeit? Ein Mensch, mag er sein wer er will und zu tun haben, was er will, leistet Gewaltiges, wenn er den hl. Franz v. Sales nachahmt und keinen Augenblick seiner kostbaren Zeit vergeudet.

Der Hl. Geist hat gesagt: „Möge euer Geist sich stets mit etwas Gutem beschäftigen, damit er keine Zeit findet, sich mit etwas Schlechtem abzugeben.“ Der Geist kennt keinen Müßiggang. Heute habt ihr so viele Unterrichtsstunden, Aufsichten zu halten oder Schularbeiten zu verbessern. Von mir aus könnt ihr noch mehr zu tun haben. Dennoch werde ich für euch mehr Zeit finden als nötig, um etwas Theologie zu betreiben. Verliert nur keine Zeit mit Plaudern oder sonst wie Überflüssigem. Beeilt euch vielmehr und profitiert von jeder freien Minute. Geht notfalls einige Momente später zu Bett und lest ein, zwei, drei, fünf oder sechs Seiten eurer Theologie durch, die ihr euch dann des Morgens beim Erwachen wieder durch den Kopf gehen lasst. Kleidet euch hurtig an und schreibt dann fünf, sechs, sieben oder acht Zeilen als Gedächtnisstütze nieder oder auch als endgültige Reinschrift. Tut das meinetwegen zu anderer Zeit, wenn es euch da gelegener ist, aber auf jeden Fall tut es. Ich verlange wahrlich keinen Traktat der Theologie oder ein Lehrbuch nach allen Regeln der Kunst, wenn ihr das nicht zustande bringt. Ich wünsche lediglich, dass ihr etwas unternehmt und zwar etwas Ernstes und Gediegenes.

Was würde sonst passieren? Der Priester vergäße alles, selbst Dinge, die er ausgezeichnet beherrscht hat. Der Geistliche, der seine Katechismusstunde nicht hält oder nicht vorbereitet, der seine Theologie nicht wieder durchgeht, wird bald weniger wissen als im Seminar. Er wird weniger wissen als ein fünfzehnjähriges Kind, das seinen Katechismus gut gelernt hat. Ohne Arbeit und Anstrengung verliert man, was man einmal erworben hat. Du findest die Arbeit mühselig und lästig. Nun, das geht jedem so. Erhole dich von einer Arbeit mithilfe einer anderen. Das ist am Einfachsten. Ein Priester, der nicht Zeit findet, sich wieder mit Theologie zu befassen, ist kein guter Priester. Warum hat sich der Glaube in gewissen Diözesen so trefflich erhalten? Weil den Kindern ein gründlicher Religionsunterricht erteilt wurde, weil die Geistlichen folglich ihre Theologie gewissenhaft studierten, also die Mühe nicht scheuten. Unser hl. Gründer, um es noch einmal zu sagen, nahm sich die nötige Zeit dazu und ging dennoch auch zu Bett und schlief. Nach dem Essen übrigens vermied er anstrengende Arbeit, überdachte vielmehr beim Auf- und Abgehen seine Obliegenheit und erwog sie in seinem Herzen. Bereiten also auch wir uns für sein Fest, indem wir ihm nacheifern. Möge jeder von uns doppelt so viel Aufmerksamkeit und Wachsamkeit aufbieten als sonst, möge jeder leidenschaftlich gut das verrichten, was ihm zu tun obliegt!

Außer der äußeren Linienführung bedarf es, wie gesagt, auch der Farbengebung, um einer äußeren Erscheinung entsprechenden Ausdruck zu verleihen.

Nun, diese Farbe ist uns das Direktorium, ein Leben ununterbrochenen Vereinigung mit Gott. Denn dies prägte Erscheinung und Charakter des hl. Stifters und muss folglich auch unser Charakterbild bestimmen. Franz v. Sales berichtet, Franz v. Assisi habe die Wundmale unseres Herrn empfangen, weil er beständig den gekreuzigten Herrn betrachtet und dies mit Liebe getan habe. Betrachten also auch wir den hl. Franz v. Sales auf diese Weise, eifern wir ihm nach, mühen wir uns und üben wir mit derselben Treue wie er unser Direktorium. Dann werden wir ein schönes Franz-von-Sales-Fest erleben. Denn jedes Fest der Kirche vermittelt uns unterschiedliche und spezielle Gnaden. Die Gaben des Hl. Geistes nehmen recht verschiedene Formen an. Möge darum der Hl. Geist sich uns an diesem Fest in der Liebe und im Eifer zum Arbeitseinsatz, in der Treue zum Direktorium mitteilen, damit wir dessen Gedanken, Intentionen und Affekte übernehmen. Und bedenken wir, dass wir einzig aufgrund dieser Dinge etwas wert sind.