Kapitel vom 11.01.1893: Über das Ziel der Kongregation
Wir beginnen mit der Erklärung der Satzungen.
Ziel der Genossenschaft. „Die Mitglieder der Genossenschaft stellen sich unter den Schutz des hl. Franz v. Sales…“
Der Oblate des hl. Franz v. Sales darf sich nicht damit begnügen, den hl. Franz v. Sales nur zum Paten zu erwählen und sich seinen Namen nur als Etikette anzukleben. Er muss sein Leben leben, sich mit seiner Lehre nähren und diese nach allen Richtungen ausbreiten. Mit den Fragen der Theologie und des geistlichen Lebens macht man sich durch Studium bekannt. Um sich mit ihnen aber ganz zu durchdringen und sie in ihrer Tiefe zu erfassen, muss man sie praktizieren und von anderen praktizieren lassen. Ihr macht eine Lehre nie zu eurem geistigen Eigentum, solange ihr sie nicht praktiziert und Hand ans Werk legt.
Wollen wir den hl. Franz v. Sales gut verstehen, dann müssen wir uns Leben, unsere Denk- und Handlungsweise der seinigen anpassen. Das erfordert ein gründliches Studium seines Lebens. Wir müssen es von Zeit zu Zeit durchlesen und durch-betrachten wie im Noviziat. Dann finden wir darin in jeder Hinsicht grundlegende Lehren.
Betrachtet das Evangelium: es ist ein Gesetzbuch, untergeteilt in Kapitel, Artikel und Nummern. Es ist vielmehr ein geschichtlicher Bericht, und diese Stilart entspricht weit besser den Einzelsituationen des Lebens. Die Lehren, die sich aus solch einer Erzählung ergeben, gehen uns leichter ein. Nichts stößt uns da vor den Kopf und reizt zum Widerspruch. Gewiss kann man sie kritisch durchleuchten: Entweder stimmt man zu oder lehnt ab. Das erlaubt keine langen Debatten und Streitereien. Man nimmt es an oder weist es zurück. Dasselbe gilt von den Lebensbeschreibungen der Heiligen.
Lesen wir darum gern die Biographien des hl. Stifters. Sie scheinen mir alle gut getroffen, von der ersten bis zur letzten. Welch ein ausgefülltes Leben, in dem Gedanken und Lehre dermaßen gut mit den Worten und dem Tun harmonieren. Die Geschichtsschreiber hatten wirklich Glück damit. Sie finden darin so wenige Schwierigkeiten, auf Anhieb die echte Physiognomie des Heiligen wiederzugeben. Andere Helden mögen Stoff zu vielen Überlegungen und Übersichten bieten, die nur zum Teil mit der Wirklichkeit übereinstimmen. Franz v. Sales dagegen kann sich nicht verstellen. Bei ihm ist eine Täuschung ausgeschlossen. Darum haben ihn sämtliche Biographien so gut getroffen. Meines Wissens hat ihn keiner falsch oder einseitig dargestellt.
Im Leben des hl. Franz v. Sales werden wir also seine authentische Lehre, seine Tugenden, seine allesbeherrschende Liebe, seine Klugheit, Einfachheit, Stärke und Hochherzigkeit wiederfinden. Ja, es bedurfte wahrlich großer Seelenstärke und Hochherzigkeit, um all den Kämpfen und Widersprüchen jeden Augenblick gewachsen zu sein. Bei bedeutenden und unbedeutenden Vorfällen bewährte sich diese seine Geisteskraft, ohne ihn jemals im Stich zu lassen.
Es mag vielleicht leicht sein, bei großen Schwierigkeiten stark zu bleiben: der Wille konzentriert sich vor dem Hindernis, rafft sich auf und handelt mit Macht. Bei den kleinen Wechselfällen dagegen reagieren wir ganz anders. Beachtet wohl, dass es nicht weniger Mutes bedarf, sein Studium oder seinen Unterricht gut zu bewältigen als etwa in die Mission zu ziehen. Kleine Verdrießlichkeiten zu ertragen als große Demütigungen zu bestehen. Um den Tugendgrad richtig einzuschätzen, darf man nicht die Sache an sich ins Auge fassen, sondern die innere Disposition, aus der heraus wir handeln.
In diesem Geist also wollen wir in der Nachfolge des hl. Franz v. Sales leben, auf diese Weise die priesterlichen und klösterlichen Tugenden üben. Als ich in Rom mit P. Lambey dem Papst Pius IX. unsere Satzungen vorlegen wollte, bat uns der Prälat, der uns zum Papst führte: „Betet für mich, dass ich die priesterlichen Tugenden erwerbe, die an Franz v. Sales so hervorleuchteten. Versprecht mir das. Denn nur unter dieser Bedingung übergebe ich euch dem Papst.“ Welcher Priester war in der Tat ein besserer Priester, welcher Bischof ein besserer Bischof als er?
Es genügt aber nicht, seine priesterlichen Tugenden nachzuahmen, wir müssen auch seinen klösterlichen Vollkommenheiten nacheifern. Gewiss war unser Heiliger kein Ordensmann in dem Sinn, dass er die Ordensgelübde abgelegt hätte. Bedenkt aber, wie vortrefflich er alle Tugenden des Ordensstandes und die Ordensgelübde praktiziert hat, ohne sie feierlich gelobt zu haben. So hatte er sich nicht zur klösterlichen Armut verpflichtet und übte doch eine echte und vollkommene Armut. Die hl. Franziska v. Chantal schneiderte ihm die Soutanen, spann selber Wolle und verwob sie. Kurz nacheinander bot sie ihm so zwei Talare an. „Einer genügt“, gab er zur Antwort. „Muss ich denn nicht unseren Herrn nachahmen, der nur einen Leibrock besaß?“ Sein Haus und sein Mobiliar waren von äußerster Einfachheit.
Betrachtet ferner seinen Gehorsam gegenüber den Konzilsbeschlüssen, gegenüber der Kirche und dem Willen Gottes, wann und wie auch immer sich ihm kundtat. Und schließlich war er die Keuschheit in Person, keusch an Leib und Seele. Er mied alles Böse, opferte und weihte Gott sein ganzes Herz. Mit welcher Glut sang sein Herz dich den erhabenen Hymnus der Gottesliebe! Solch eine Abhandlung (Anm.: „dabei handelt es sich um den Theotimus“) kann man schreiben, wenn man nicht all diese Wunder der Heiligkeit und Liebe selbst zutiefst empfunden und aufs Innigste praktiziert hat. Das verrät das Niveau seiner Keuschheit. Denn bedenken wir wohl, dass dieses Gelübde nicht nur sündhafte Genüsse verbietet, sondern auch eine sehr positive und praktische Seite hat: das Innerste des Herzens Gott schenken in einer ganz zarten und auserlesenen Liebe. Schwerlich hat eine Seele – so meine ich – Gott so geliebt wie der hl. Franz v. Sales.
„Den Nächste zu heiligen“ ist unser nächstes Ziel. Verlieren wir das nie aus dem Auge. Mein früherer Theologieprofessor, H. Chevalier, sagte einmal: „Ein Priester darf zu anderen nie Beziehungen unterhalten, die nicht zu deren Erbauung dienen. Vermögt ihr dies kraft eures Wortes, dann erbaut durch euer Wort. Könnt ihr es mittels eurer Tugenden, dann bewirkt diese Erbauung durch euer Tugendbeispiel.“ Wie viel mehr muss ein Ordensmann, dessen Lebenszweck ja in der Erbauung der Mitmenschen besteht, alle Tugenden üben, durch welche der Nächste erbaut wird: Liebe, Klugheit, Gerechtigkeit, Ehrfurcht und Frömmigkeit!
Zunächst müssen wir den Mitmenschen heiligen durch die christliche Erziehung der Jugend. In einem Antwortbrief, den der Präfekt der Propaganda mir soeben auf meinen Dreijahresbericht sich unsere Kongregation gerade durch die Heiligung der Jugend verdient macht. Vergessen wir außerdem nicht, dass die Gnaden, die Gott Menschen im jungen Alter unsere Sympathie zuwenden, weil Gott sie in besonderem Maße liebt und ihnen Ausnahmsgnaden zuteilen. Er schaut ihn (den reichen Jüngling) liebevoll an.
Seht den hl. Vinzenz v. Paul: als Kind gibt er einmal einem Armen 30 Sous (ca. 3,00 EUR). Und Gott liebt ihn ob dieses Almosens und seiner Jugend auf das ganz ausnehmende Weise. Der hl. Martin schneidet seinen Mantel entzwei und gibt die eine Hälfte einem Armen. Und weil er dies im Alter von 15 Jahren getan hat, belohnt ihn Gott auf überschwängliche Weise. Die große heilige Theresia unternimmt als Kind mit ihrem Bruder kleine Wallfahrten, baut kleine Einsiedeleien und sucht so Gott ihre Liebe zu bezeugen. Und Gott belohnt das, indem er aus ihr die große hl. Theresia macht. So kann die gute Tat eines Kindes, eines Jünglings, ungeheure Folgen nach sich ziehen. Wir haben seinen Stern im Morgenland gesehen und sind gekommen, Gott anzubeten. Jedes Mal, wenn ein Mensch den Stern im „Morgenland“ erblickt, zu Beginn also seiner irdischen Laufbahn, geht er mit Händen voller Geschenke und Verdienste zu Gott und findet ihn.
Bedenkt, was dem hl. Vinzenz v. Paul passiert ist: das Gute, das er als Kind getan hat, hat sich ausgebreitet über sein ganzes Leben und gab ihm die Richtung, die Physiognomie und das charakteristische Gepräge. Es gewann eine ungeheure Dimension.
Aus diesem Grunde bestehen also die hl. Kirche, der Papst, der Präfekt der Propaganda, unser Vorgesetzter, so nachdrücklich auf der christlichen Erziehung der Jugend. Das Gute, zu dem wir die Kinder anhalten, weitet sich bei ihnen zum Segen und Reichtum ihres ganzen Lebens als Erwachsene aus. Was wir den Kindern und jungen Leuten beibringen, wird gewaltige Wirkungen hervorbringen, die wir überhaupt nicht vorausberechnen können, Auswirkungen auf das Herz Gottes wie auf das praktische Leben dieser Kinder. Gott segnet mit auserlesenen Gunsterweisen, was dem Herzen und Willen des Kindes entspringt. Das ist das Alter der Leidenschaften und Versuchungen. Nur schwer bewahren sie da ihren Glauben und ihre Sittenreinheit. Sie mit Gott in Verbindung zu setzen, Gott gleichsam in ihr Herz senken, welch ein verdienstliches und schönes Werk! Beachtet nur, wie unser Herr die Kinder gesegnet hat! Und nur solche, die den Kindern gleichen, gehen nach ihm ins Himmelreich ein. Sein Freund und Lieblingsjünger war Johannes, der jüngste der Apostel. Wer veranlasste Jesus, zwei seiner größten Wunder zu wirken? Ein Jüngling und ein Mädchen, denn solche sind seine Freunde und rühren sein Herz.
Betrachten wir also unsere Sendung bei der Jugend als eine eminent priesterliche Aufgabe. Da handeln wir im Geist des Evangeliums und in den Intentionen unseres Herrn. Der hl. Johannes war bereits hochbetagt, als er einem Bischof einen jungen Mann anvertraute. Eines Tages fragte er den Bischof, was aus dem Jüngling geworden sei. Er ist tot, antwortete dieser. Tot für Gott, denn er ist ein Räuberhauptmann geworden. Mit seinen 90 Jahren lässt sich Johannes ein Pferd satteln und reitet unter größten Gefahren durch das Gebirge, um den jungen Menschen zu suchen. Er entdeckt ihn, verfolgt seine Spur, führt ihn zurück und bekehrt ihn.
Zweifellos gibt es eine Sondergabe Gottes für die Jugend, eine innige Anhänglichkeit und Vorliebe Gottes für Kinder und junge Leute. Mit Sicherheit bereitet man Gott ein größeres Vergnügen, wenn man ihm die Seele eines Kindes und eines jungen Mannes bewahrt als wenn man sich um andere Seelen bemüht. Trachten wir darum, unseren Kindern und jungen Leuten den Geist des hl. Franz v. Sales einzuflößen. Binden wir sie an Gott mithilfe der gleichen Bande, die uns mit ihm verknüpfen. Bedienen wir uns in der Führung ihrer Seelen der Mittel und der Geschicklichkeit des hl. Franz v. Sales. Damit gewinnen wir sie für Gott und binden sie an ihn für ihr ganzes Leben.
