Kapitel vom 13.12.1892: Über den Advent
Wir stehen im Advent. Das ist die Zeit, unsere Seele für das Kommen des Erlösers zu bereiten, die Zeit auch, uns über vieles zu unterrichten. Der Advent hatte zu allen Zeiten die Aufgabe, weiter seine Lehren zu entwickeln und zu entfalten, von der Ur-Offenbarung Adams angefangen bis zum Gesang der Engel über der Krippe des Herrn. Das Licht, das das göttliche Wort schon vor seiner Ankunft in die Welt gesandt hat, nahm beständig zu, und wird unablässig weiterwachsen bis zum Ende der Zeiten. Bedenkt, wie die Glaubenslehre der Kirche sich von Zeit zu Zeit immer mehr festigt und entfaltet durch die Dokumente der Konzilien und die Dekrete der Päpste. Das Dogma dehnt und breitet sich also aus, wird stärker und tiefer erfasst. Die Missionare tragen es bis an alle Enden der Welt. So haben auch die religiösen Orden den Auftrag erhalten, die Welt zu retten. Sie vollziehen gleichsam eine Dehnung und Ausweitung des göttlichen Wortes. Sie sind Säleute des göttlichen Samens, bis Christus seine Vollgestalt erhält. Jesus Christus wird gleichsam vollendet und vervollkommnet, sein Werk zur Erfüllung gebracht. Jeder Orden trat zu seiner Stunde in die Geschichte ein, um das Werk Gottes vor aller Augen voranzutreiben.
So haben auch wir Oblaten unsere Sendung. Wie oft sagte mir die Gute Mutter, wir seien gegründet worden, um die Verdienste Christi offenkundiger und umfassender den Seelen zuzuwenden, damit der liebe Gott besser verstanden und inniger geliebt werde. Wir sind also keine Ordensleute für unseren eigenen Gebrauch, sondern zum Nutzen der Kirche, um das Wirken unseres Herrn, sein Licht und seine Gnaden mehr und mehr zu offenbaren. Die Gute Mutter sagte weiter, der Heiland wolle seine Liebe unter ganz neuen und viel weitergespannten Gesichtspunkten der Welt enthüllen. Er ist der Welterlöser und möchte dies immer mehr sein. Inniger und intensiver möchte er die Gnaden seiner Erlösung mitteilen. Darum müssen wir zuerst uns selbst heiligen und vervollkommnen, damit wir das Ziel erreichen, das uns gesteckt wurde: den Heiland auf eine umfassendere und innigere Weise den Seelen, die uns anvertraut sind, zuzuwenden.
Betrachtet die Regeln der ersten Orden. Sie sind viel großzügiger, ihre Vorschriften weniger genau definiert. Sie zeichnen gleichsam nur die groben Umrisse, die allgemeinen Linien und wesentlichen Pflichten. Das Übrige bleibt der späteren Privatinitiative überlassen. Vergleicht man damit die Regeln der Jesuiten oder die unsrigen, so weisen diese offenbar viel weniger Lücken auf. An uns ist es nun, sie zu befolgen, und darin liegt eine äußerst ernste Verpflichtung. Wir sollen ja den Herrn besser bekannt machen, ihn mehr ins Innere eines jeden Menschen eindringen lassen, ins Leben der Familie und später, so Gott will, ins öffentliche Leben der Gesellschaft. Es geht da also offenkundig um eine neuartige und intensivere Zuwendung der Erlösungsgnaden Christi.
Tragen wir also stets das Bewusstsein der Größe und Würde unserer Sendung in uns, haben wir Ehrfurcht vor den geringsten klösterlichen Pflichten. Moses sagte zu den Priestern: Reinigt euch, die ihr die Gefäße Gottes tragt! Wie viel reiner und treuer müssen wir erst sein, die wir nicht nur die Gefäße und liturgischen Gegenstände und das Zelt Gottes, sondern den Herrn selbst tragen und anderen mitteilen. Als handelnde Mittler treten wir so in die Heilsökonomie Gottes ein. Das ist dermaßen wahr, dass das Evangelium und unser Herr jeden Augenblick von der bevorstehenden Ankunft des Reiches Gottes sprechen: Dein Reich komme. Es muss also in vollkommenerer Weise kommen als es schon da ist, muss sich reichlicher, durch neue Mittel und neue Gnaden offenbaren. Und dazu seid ihr im jetzigen Augenblick beauftragt.
Seht nur, wie alles zusammenwirkt, uns diese Sendung zu bestätigen. Trotz aller Schwierigkeiten, die man in Rom haben mochte, um die Gedanken der Mutter Salesia zu verstehen und vollkommen zu erfassen, trotz ihrer mit starken Ausdrücken durchsetzten Sprache, die nichts mit schöner Literatur zu tun hat, und in der das Wort manchmal Mühe hat, den Gedanken niederzuschreiben – die Gute Mutter klagte mehr als einmal darüber, nicht den rechten Ausdruck für ihre Gedanke zu finden – trotz der geringen Wissenschaft der Guten Mutter und ihres mangelhaften Studiums, um sich über den genauen Wert der Worte klar zu sein, trotz all dieser Dinge hat Rom ihre Briefe angenommen und gebilligt. Vielleicht komme ich oft auf dieselben Gedanken zurück, meine Freunde, aber es sind eben gute und grundlegende Gedanken. Der Sekretär der Propaganda hatte schon recht mit der Behauptung: „Sie machen sich kaum eine Vorstellung, wie viel Gutes die Mutter Maria Salesia in der Welt wirken wird…“ Jawohl, meine Freunde, das wird ein großer Schritt näher sein zum Ziel: Dein Reich komme!
Haltet euch darum ganz eng an diesen Geist, in all eueren Unternehmungen, in eurem persönlichen Verhalten, in der Führung der Seelen, auf der Kanzel und im Unterricht. Das seien unsere Basis und unser Stützpunkt. So wird dann alles, was wir sagen und tun, dazu beitragen, in uns wie in den Seelen der anderen das Reich Gottes aufrichten.
Advent ist die Zeit großer Gnaden und starker Erleuchtungen. Für mich war es immer eine köstliche Zeit wegen der Mitteilungen, die mir da die Gute Mutter jedes Mal machte. Da erkannte ich besser und sah klarer, was in ihr lebte. Der ganze Advent verging ihr in ständiger Erwartung des Herrn, in der Vorbereitung auf die Ankunft seines Reiches. Da bereitete sie Weihnachten vor in ihrer eigenen Seele wie auch in den Seelen derer, ihr nahten.
Gebt euch darum ganz der Ausbreitung des Reiches Gottes in den Seelen hin, und diese Ausbreitung soll weniger in Worten als vielmehr in persönlichen Taten bestehen. Das lehrt die hl. Kirche ausdrücklich: „Bis Christus in euch Gestalt gewinne.“ Diese Arbeit sollen auch wir in den Seelen vollbringen: das Bild und Gleichnis unseres Herrn in ihnen ausprägen!
Bittet Gott jetzt im Advent um diese Erleuchtung, betet darum bei der hl. Messe, Kommunion und Betrachtung: Dein Reich komme! Wir wollen der Ausdehnung seines Reiches in den Seelen genau in dem Maße dienen, als er es von uns erwartet. Die Gute Mutter wiederholte es oft: Dieser Weg wurde eingerichtet, um eine sehr große Zahl von Seelen auf eine ganz sichere und praktische Weise für die großen Gnaden des Erlösers und zu ihrem wahren Glück zu bereiten. Dadurch wird der Heiland verherrlicht werden. Die Gute Mutter verriet mir wunderbare Dinge, die intimen Mitteilungen des Vaters und des Sohnes bezüglich dieser Gnaden. Ziehen nämlich diese besonderen Gnaden Gottes in den Seelen ein, dann werden sie gleichsam einen Widerhall in Gott selbst auslösen, ein Echo der Liebe und Freude. Die Treue, mit der wir diesen Weg gehen, und die selbst schon eine Folge des göttlichen Anrufs und der göttlichen Gnade ist, zeitigt demnach noch andere großartige Früchte in unserer eigenen Seele wie in den Seelen der anderen, ja sogar im Herzen Gottes. Schenkt euch der liebe Gott also das nötige Licht, über diese hohen Gnaden zu betrachten, dann nährt eure Seelen damit, mit diesem überirdischen Brot. Bittet die Gute Mutter, euch viele solcher Advente zu schenken, gleich jenen, die sie selbst erleben durfte.
D.s.b.
