Kapitel vom 21.12.1892: Über die Gnade des Weihnachtsfestes
Nächsten Sonntag feiern wir Weihnachten, und wir tun gut daran, uns gründlich während dieser letzten Tage darauf vorzubereiten. Das kann nicht ernst genug geschehen, damit wir wirklich an den Gnaden des kommenden Herrn teilhaben. Der Traktat von der Menschwerdung bietet viele schöne Ausblicke. Auch der hl. Stifter hat diesem Traktat einen Gedanken entnommen, der der Lehre der Kirche so trefflich entspricht und auf den er mit ausgesprochenem Vergnügen immer wieder zurückkommt: Das Kommen unseres Herrn in der Menschwerdung bedeutet Teilnahme an der Menschennatur, bedeutet „Gott-mit-uns“, Gott wird einer von uns. Diesen so trostvollen Gedanken entwickelt er mit Wohlgefallen und schöpft daraus köstlich Betrachtungen, vor allem in seinem Theotimus. Insbesondere entfaltet er den Gedanken, dass unser Herr durch seine Erlösung gewiss die Welt retten wollte, dass er aber vor allem sich mit der Menschennatur verbinden und uns so bis zu Gott erheben wollte. Der menschlichen Natur wollte er damit etwas Göttliches zukommen lassen. Damit beabsichtigte er also, die gesamte Menschennatur zur Höhe Gottes zu erheben, sie gleichsam zu vergöttlichen, sie durch die Gnade und die übernatürlichen Tugenden mit göttlichem Leben zu erfüllen und so den Willen Gottes zur Vollendung zu führen.
Kardinal Bellarmin hat einen dicken Folio-Band über diesen Gedanken verfasst, dass Gott durch die Inkarnation das Fleisch des Menschen heiligen und die Menschennatur befähigen wollte, sich bis zu Gott emporzuschwingen. Ich habe gesprochen: Götter seid ihr alle und Söhne des Allerhöchsten. Zwischen Gott und uns klafft ein unendlicher Abgrund. Doch aufgrund der Menschwerdung und mithilfe der Heiligungsgnaden, die daraus erfließen und uns zugeeignet werden, wird dieser Abgrund ausgefüllt. Wir müssen das Bild Gottes in unserem Inneren ausprägen, das göttliche Urbild in uns wiederherstellen. Besonders wir Ordensleute sind dazu verpflichtet. Das sind der Ausgangspunkt und der Zweck unserer Berufung zum Ordensstand. Und gerade durch uns Oblaten des hl. Franz v. Sales will Gott dies bewerkstelligen, wie die Gute Mutter so oft bestätigte: Die Oblaten werden mit einer besonderen Gabe Gottes ausgestattet werden, die Seelen Gott näher zu bringen. Unser ganzes Leben muss darum göttlich inspiriert sein. In uns muss alles ohne Ausnahme geheiligt, gleichsam vergöttlicht sein. Und darin liegt der Kern des Weihnachtsgeheimnisses. Hierin liegt die tatsächliche und theologische Anwendung dieses Festes auf die Menschheit.
Bringen wir uns darum einer dem anderen große Ehrfurcht und liebevolle Zuvorkommenheit entgegen, denn wir sollten ja alle unseren Herrn in uns tragen. Wie Glieder des Herrn Jesus sollten wir uns achten, jeden wie einen zweiten Christus. Christus müssen wir in uns und – soweit unser Einfluss reicht – auch um uns herum aufleben und wiedererstehen lassen. Das lehrt auch der hl. Paulus: Ich lebe, aber nicht eigentlich ich, sondern Christus in mir. So lehren alle Apostel und Kirchenväter. Und in diesen Zeiten hat uns auch der hl. Franz v. Sales das große Beispiel und die eindringliche Lektion davon gegeben, und in einem sehr vollkommenen Maße auch unsere Ehrwürdige Mutter Maria Salesia. Gewiss bedeutet Erlösung Loskauf der sündigen Menschheit, aber darüber hinaus auch Erhöhung der gefallenen Menschennatur bis zu Gott empor. Alles in Christus erneuern. Das ist keine tote Lehre, sondern liefert ein Tätigkeitsprinzip, bedeutet Gestaltung eines ganzen Lebens, Darstellung unseres Herrn, nicht bloß im Geist und Gefühl, sondern in alle Handlungen unseres Lebens hinein. Durch die Taufe und die Gnade der Erlösung wurde jeder von uns ein zweiter Christus, wurde Gebein von seinem Gebein. Bedenkt bloß, wie innig uns die hl. Kommunion ihm gleichgestaltet, dieses Mittel und Gleichnis einer Einheit, die so innig und stark ist, dass sie jeden von uns zu einem anderen Christus machen soll.
Und gerade Weihnachten schenkt die Gnade, dass wir diese tiefe Wahrheit besser verstehen und lieben, verleiht uns die Kraft und den Mut, uns im Leben nach ihr zu richten und in unserem eigenen Tun wie in unserer Umgebung zu verwirklichen. Lassen wir sie also Tat werden in unserem eigenen Innenleben, nicht nur indem wir unser Herz und unsere Affekte dem Herrn weihen. Auch unser Leib und unser Fleisch mögen dieselbe Sprache führen und Gott preisen. Ahmen wir unseren Herrn nach, der in seinem Fleische lebte und den Willen seines Vaters allzeit vollbrachte. Gleichen wir unsere Existenz der seinigem an. So werden wir den Gesang auf den Fluren Bethlehems nicht nur vernehmen, sondern auch verwirklichen: „Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden den Menschen seiner Huld.“ Unser beständig gutes und vollkommenes Wollen wird nichts anderes mehr erstreben als was unser Herr wollte, als er noch auf Erden weilte. Wir werden so den Frieden für uns finden wie auch Gott verherrlichen.
Bitten wir die Gute Mutter, uns die nötige Einsicht und Liebe dafür zu erwirken, denn daraus setzte sich ihr ganzes Leben zusammen. Wir werden wenig Menschen antreffen, die unseren Herrn so sehr geliebt haben wie sie. Die mit so viel Eifer versuchten, sein Leben und seine Lehre, seine Art zu leben auf Erden darzustellen. Bitten wir sie um die Gnade, dass auch wir diesen Weg gehen. Darin bestehe unsere Weihnachtsgnade, dass wir unseren Glauben vermehren, zartfühlend und gewissenhaft gegenüber Gott verfahren und ihn immer mehr lieben.
Zum Schluss komme ich noch einmal auf den Gedanken unseres hl. Stifters und des Kardinals Bellarmin zurück: Je mehr wir uns bemühen, das Bild des Herrn in unserer Seele wie in unserem Leib auszuprägen, umso mehr werden wir sein Eigentum, gehören wir zu seiner Familie. Sein Fleisch wird unser Fleisch. Er ist ja unser Bruder, sein Blut fließt in unser aller Adern. Darum bringt die Kirche unserem Leib so viel Ehrfurcht entgegen: betrachtet nur die Zeremonien der Taufe oder der Hochzeit und mit welcher Hochachtung sie die Toten und die Reliquien der Heiligen umgibt. Die Lehre aber, die sich daraus ergibt: Es ist eine sehr reale Tatsache, dass sich in der Menschwerdung der Sohn Gottes mit unserer Menschheit vereinigt und uns zu Gliedern der Gottesfamilie macht.
Wir sind von seinem Blut und von seinem Geschlecht. In unserem Herrn wurde diese Einheit vollendet und so vollkommen, wie wir es nur wünschen können. Ich wiederhole also: Darin besteht die Weihnachtsgnade. Greifen wir nach dem Anteil, der jedem Christen zusteht, und ergreifen wir auch den Sonderanteil, der uns als Oblaten des hl. Franz v. Sales von Rechts wegen zukommt.
D.s.b.
