Kapitel vom 06.07.1892: Über das richtige Predigen und die Art, Homilien zu halten.
Ich hielte es für gut, wenn die Prediger sich wieder mehr der Methode der Kirchenväter näherten: das Evangelium durch Homilien zu erklären. Die religiöse Unwissenheit hat ein Ausmaß erreicht, dass nur noch Mittel Abhilfe schaffen können, die der Geistesverfassung und der Aufnahmefähigkeit unserer Zeitgenossen entsprechen, dass sie uns überhaupt wieder anhören und verstehen. Dieser Tage berichtete man mir ein trauriges Beispiel: Bei der Vorbereitung der Kinder auf die erste heilige Kommunion musste die Hälfte wieder heimgeschickt werden, weil sie nicht die leiseste Ahnung eines religiösen Gedankens hatten. Sie verwechselten die drei göttlichen Tugenden mit den sieben Hauptsünden, hatten keinen Begriff von der hl. Dreifaltigkeit oder anderen Glaubensgeheimnissen. Gab man früher Katechismusunterricht in der Schule, so wussten die Kinder auch nicht viel – heute aber wissen sie überhaupt nichts mehr. Machen wir uns darum wieder mit der Methode der biblischen Homilie vertraut, um mit ihrer Hilfe die Glaubenslehre auseinanderzulegen. Die Homilie genoss in der Kirche von jeher ein hohes Ansehen. Die Kirche lässt uns heute noch im Brevier das Evangelium lesen, um es uns anschließend auszulegen. Diese Predigtform wird zu einer zwingenden Notwendigkeit. In den Worten der Frohbotschaft liegt zweifellos eine besondere Gnade verborgen: Das Wort Gottes ist lebendig und wirksam. Es ist etwas, was sich der Seele bemächtigt, sei es nun eine geschichtliche Tatsache oder ein Schriftwort. Legt diese Stelle des Evangeliums zuerst aus und geht dann zur Glaubenslehre über. Entwickelt den Sinn dieses Gotteswortes. Entfaltet ihr z.B. die Geschichte der kananäischen Frau, so habt ihr eine Predigt über das Gebet gehalten, die jeder aufs beste verstehen kann. Besser als wenn ihr mit grundsätzlichen Überlegungen über das Gebet begonnen hättet.
Denn man weiß nicht mehr, was beten heißt. Wie falsch handelten wir doch, dass wir Predigten hielten, die keinen Nutzen brachten. Ich muss da an einen jungen Kaplan von St. Jean denken, der am Fest des hl. Petrus seine erste Predigt hielt. H. Boulage, der frühere Pfarrer von St. Pantaleon, wohnte ihr bei. Als der junge Herr nach der Predigt schwitzend und ganz begeistert über seinen Erfolg in die Sakristei kam und einige Komplimente erwartete, sagte H. Boulage zu ihm: „Mein Freund, Sie scheinen den Wunsch zu haben, ein guter Redner zu werden. Nun, Sie haben sicher dazu die Fähigkeiten. Wenn Sie demnächst aber wieder eine Predigt halten, dann rufen Sie zuerst in die Kirche: Ihr Toten, die ihr da schlaft unter den Steinplatten dieser Kirche, steht auf und findet euch hier ein, ich habe euch etwas zu sagen…Wenn die Toten dann aus ihren Grüften steigen, werden sie euch trefflich verstehen. Denn: Was Sie vorgetragen haben, war für Menschen bestimmt, die vor 200 Jahren gelebt haben, rührt aber keinen mehr von denen, die unter Ihrer Kanzel standen. Vor 200 Jahren kannten die Männer und Frauen noch ihren Glauben. Wer aber kennt ihn heute noch?“ H. Boulage hatte nur zu sehr recht. Darum müssen wir um jeden Preis solch eine Panne vermeiden. Ist euch wirklich unbekannt, dass sich unsere Männer, aber auch die Frauen durch eine absolute Unwissenheit in religiösen Dingen auszeichnen? In Troyes leben 50.000 Katholiken, wenn ich von einem Häufchen Heiden absehe. Ich gehe jede Wette ein, dass ihr darunter nicht zehn findet, die die wesentlichen Glaubenslehren gut beherrschen, ich meine nicht einmal theoretische, sondern ganz praktische.
Unlängst sagte mir ein sehr guter christlicher Beamter: „Wenn ich im Augenblick meines Sterbens keinen Priester zur Verfügung habe, darf ich dann meiner Frau beichten?“ Ein ebenfalls sehr christlicher Justizbeamter, Präsident des Zivilgerichts, hat eine leibliche Schwester in unserer Heimsuchung. Eines Morgens, als ich gerade zum Katechismusunterricht unserer Zöglinge ging, begegnete er mir und sagte: „Sie sollten auch den Erwachsenen und allen Leuten Katechesen halten. Übrigens meine ich, betreffs Katechismus, dass die Bibel nicht wenige ganz unmögliche Dinge enthält, die in direktem Widerspruch zur Wissenschaft stehen…“ – „Herr Präsident“, antwortete ich ihm, „kommen Sie gleich mit. Ich will jetzt nämlich genau das Gegenteil von dem beweisen, was Sie da behaupten.“
Die Zuhörer unserer heutigen Predigten hören überhaupt nicht zu und verstehen nichts. Die Worte gehen über ihre Köpfe hinweg. Die ersten Kirchenväter waren in einer ähnlichen Lage, sie lebten ja unter lauter Heiden. Doch die Unwissenheit der heutigen Christen würde selbst diese Heiden zum Lachen bringen. Der Lektor las damals am Ambo das Evangelium vor, und der Bischof erläuterte es anschließend. Mithilfe der geschichtlichen Tatsachen und des evangelischen Wortes unterwies er das Volk. Übernehmen wir also diese einzig richtige Methode. Diese Form der vertraulichen, lehrreichen und leicht fasslichen Homilie verdient den Vorzug vor der Kanzelrede. Einer meiner Theologieprofessoren, selbst ein tüchtiger Redner, H. Sebille, empfahl uns unablässig diese Predigtform. „Wenn ihr in einer noch christlichen Pfarrei eure gewöhnliche Sonntagspredigt haltet, so mag das hingehen. Fehlt dort aber die christliche Glaubenssubstanz, dann müsst ihr eine andere Form wählen, damit euer Predigtwort Gehalt und Leben gewinnt. Denn nur so könnt ihr praktisch werden und Interesse wecken.“
Beachtet wohl, dass die Homilie durchaus nicht die eigene Vorbereitung ausschließt. Auch hier muss ja eine Art Rede auf die Beine gestellt werden, es muss Ordnung, Unterteilung und Logik herrschen. Auch Fenelon hat diese Methode sehr geschätzt und empfohlen und besteht darauf, dass der Prediger ein stabiles Gerüst aufstelle, seine Lehrsätze klar hinstelle, die es zu entfalten gilt, dass er sie der Fassungskraft und Lebensweise seiner Zuhörer anpassen kann. Er warnt aber gleichzeitig davor, dass Aufbau und Einteilung unserer Rede allzu deutlich hervortreten. Die Hand soll das harte Gerippe nicht spüren. Wie sollen wir also bei unserer Vorbereitung vorgehen?
Durchdenkt zunächst gründlich die geschichtlichen Fakten und die Worte des Evangeliums und werdet euch völlig klar über ihren Sinn. Dann schlagt in eurer Kartei oder anderswo nach, was euch die Auslegung dieses Abschnitts erleichtern kann. Seht euch auch bei den Vätern um, besonders bei Johannes Chrysostomos, sowie in guten Predigtbüchern. Forscht darin nach etwas Praktischem und Eindrucksvollem, was eure Zuhörer packen könnte. Würzt das Ganze mit Vergleichen, Zügen aus dem Leben, mit etwas, was die Aufmerksamkeit wachruft. All das wird umso lieber gehört werden, als ja das Evangelium ein unbekanntes Lied geworden ist. Euch selbst mag das Gefundene vielleicht als abgedroschenes Zeug erscheinen, euren Kirchgängern hingegen wird es Neuland sein. Denn bis heute haben sie derartiges nicht gehört oder nicht verstanden. Die Homilie bietet dem Prediger also eine ungewöhnliche Chance. Sie befreit ihn vom Zwang, sich an die strengen Regeln der Kanzelrede zu halten. Er hält sich an die Hauptgedanken des Evangeliums und entwickelt sie und stützt sich dabei auf das lebendige und wirksame Wort Gottes. Das ist eine herrliche Hilfe. Er ist nicht allein und isoliert, nicht auf seine eigene Kraft und Weisheit angewiesen. Nehmen wir darum mit Vorliebe das Evangelium zur Grundlage unserer Unterweisung, an Heiligenfesten das Leben der Heiligen oder einige markante Züge aus ihrem Leben, ihren Geist, ihre hervorstechenden Tugenden oder ihre Hochherzigkeit im Dienste Gottes. Dafür wird euch eure Kartei vortreffliche Dienste leisten. All das ermöglicht eine reiche Auswahl. Ihr seid bei der Homilie nicht zu einem straff durchgeführten einzigen Thema verpflichtet. Das Evangelium selbst liefert euch den Großteil eurer Gedanken, die ihr nur zu entfalten habt. Diese Methode ist ihrer Wirkung umso gewisser, als sie leicht verständlich und leicht fassbar ist. Ihr predigt z.B. über den verlorenen Sohn. Über dieses Thema hörte ich Abbé Combalot zwei Predigten halten, eine über seine Abreise, die andere über seine Rückkehr: alle weinten. Und er selbst gestand: Diese beiden Predigten brachten mir mehr Erfolg ein als meine gesamte übrige Predigttätigkeit. Männer, Frauen und Kinder waren überwältigt und bekehrten sich.
Wollt ihr also die Barmherzigkeit Gottes darstellen, dann findet ihr gerade im Evangelium sehr viele Texte zu diesem Thema und wohl auch gute Einfälle. Zeigt den Vater, wie er da seinen Sohn erwartet, und ihm seine Arme öffnet. Damit rührt ihr die Herzen und ihr selber werdet vielleicht beredt. Macht es wie Johannes Chrysostomos. Meidet vor allem, die Schriftsteller des 14., 15. und 16. Jahrhunderts als Vorbilder zu nehmen: welch ein Plunder von rauschenden Melodien, die das Ohr trafen und das Herz kalt ließen. Damals schrieb man sicher vorzügliche Bücher der Theologie und des geistlichen Lebens und sagte unvergleichlich schöne Dinge, predigte aber auf eine unmögliche Art. Manchmal macht selbst Thomas v. Aquin keine Ausnahme. Die Kirchenväter haben sehr gute Predigten gehalten. Von ihnen müssen wir gleich zu unserem hl. Stifter übergehen, zu P. Lejeune und den Predigern zur Zeit des Königs Ludwig XIV. Aber damals hielt man kaum Homilien. Solche hielt man nur für Bauern, denen für die schönen Kanzelreden die Bildung fehlte.
Es lässt sich also nicht umgehen, dass man das Evangelium gründlich kennen lerne und verstehe. Studiert zu diesem Zweck die besten Erklärer und lest immer wieder die hl. Texte. Vergesst niemals, dass euer Publikum keine Ahnung mehr hat von diesen Dingen. Damit will ich nicht sagen, ihr sollt sie als Dummköpfe behandeln, sondern als Menschen, die keine Beziehung mehr haben zur Theologie, zur Hl. Schrift und zur Religion.
D.s.b.
