Kapitelvorträge für die Oblaten 1873-1899

      

Kapitel vom 27.01.1892: Über die Versuchungen und Leidenschaften

„Wer mit einer Versuchung oder Leidenschaft zu kämpfen hat, wird sich das Stillschweigen derart zunutze machen, dass er sich unseren Herrn…inmitten seiner Leiden vorstellt.“

Daran müssen wir denken in den Versuchungen zur Mutlosigkeit, die wir vielleicht am wenigsten ernst nehmen, weil wir sie für keine Sünde halten. Da heißt es vielmehr an die Passion unseres Herrn anknüpfen: er begann zu zittern und zu zagen. Alles hat er erduldet, Furcht und Schrecken, Überdruss und Unlust, was bewirkt, dass der Mensch nichts mehr tun zu können meint, weil ihm der Mut dazu abgeht. Wenden wir uns da an den leidenden Herrn, wie es das Direktorium empfiehlt. Nehmen wir unseren ganzen Willen und unser ganzes Herz in die Hände und versenken wir sie in das Herz des lieben Gottes. Sagen wir zu ihm: Mein Gott, nur Lumpen und wertlose Dinge biete ich Dir an. Aber all das lege ich Dir zu Füßen und erwarte von Dir nun Hilfe in meiner Verzagtheit. Welch ungeheure Wirkung und Tragweite hat doch für einen Ordensmann diese Empfehlung! All die Pflichten und Übungen des Tagewerkes ermüden uns, alles wird bitter und stößt uns ab. Erduldet man aber mit Großmut solche Prüfungen, so wird uns nach beendetem Kampf eine bedeutende Kräftigung zuteil. Wer nicht versucht wird, sagt der hl. Paulus, was weiß denn der? Die Hl. Schrift empfiehlt nichts so dringlich wie zu Gott seine Zuflucht zu nehmen im Augenblick der Versuchung, statt dass man sich von der Mutlosigkeit niederdrücken lässt.

„In Dich, oh mein Gott, versenke ich mein ganzes Sein. Meinen Willen berge ich in Deinen“, soll dann unser Flehen sein. Hat sich die Versuchung verzogen, erscheint Gott wiederum. „Herr, wo warst Du?“ fragte der hl. Antonius. „Hier, in deiner Nähe“, wurde ihm geantwortet nach der heftigen Versuchung. „Bei dir war ich, um dich zu schützen, zu ermutigen, und zu belohnen.“ Die Versuchung gegen die hl. Reinheit erfordert etwas Besonderes: Ist die Versuchung stürmisch und gewalttätig, heißt es besondere Maßnahmen treffen: Kann man sich ablenken, so hat das große Vorteile gegenüber einem Frontalangriff. Wer Stirn gegen Stirn und Leib gegen Leib kämpfen möchte, muss bei diesem Feind unterliegen. Fliehen wir ihn vielmehr mit Hilfe der Ablenkung. Belagern schlechte Gedanken und Wünsche deinen Geist, so vertreib diese durch fesselnde Gedanken, die den schlechten keinen Raum lassen. Man riet manchmal, bei solchen Gelegenheiten an Himmel oder Hölle zu denken: das bringt oft keinen Nutzen. Meines Erachtens dürfte es klüger sein, die Aufmerksamkeit auf einen angenehmen Gegenstand zu richten, der der schlechten Empfindung das Wasser abgräbt. Man zitiert schöne Züge aus dem Leben des hl. Franz v. Assisi, des hl. Thomas oder des hl. Bernhard. Freilich bedarf es, um wie sie vorzugehen, einer besonderen Eingebung. Für gewöhnlich wählen wir eine andere Methode: Wir lassen den Feind sich ruhig entfalten und beziehen indessen anderswo Stellung. Dieses Grundsatzes wollen wir uns in der Seelenführung bedienen: Lasst einen ängstlichen Knaben nicht der Versuchung, die ihn bedrängt, ins Antlitz starren und empfehlt ihm keine geistlichen Mittel, die vor der Gewalt der Versuchung versagen müssten! Lehrt ihn, den Schlag parieren, indem er sich zurückzieht, und in Deckung geht. Was ich von der Mutlosigkeit gesagt habe, trifft sicher noch mehr auf die Versuchung gegen die hl. Reinheit zu: Hat man gekämpft, und die Versuchung überwunden, dann hat man vor Gott ein großes Verdienst erworben. Denn derlei Versuchungen kräftigen unsere Reinheit und Keuschheit und ziehen uns zahlreiche Gnaden zu.

Der hl. Thomas sagt irgendwo, es sei besser, Mensch als Engel zu sein. Die menschliche Existenz ziehe größere Verdienste nach sich. Im Himmel werden die Menschen, die wacker gekämpft haben, über den Engeln stehen, die ihrerseits weniger gekämpft haben und folglich auch weniger Verdienste sammelten. Versuchungen dieser Art bewiesen bei einem Menschen immer, dass er zu vielen großen Dingen fähig ist, zu hohen Akten des Großmutes und der Tugend. Nicht nur der Keuschheit, sondern aller Tugenden und der vollen Hingabe. Haben wir also niemals Angst vor solchen Versuchungen! Werden sie allzu penibel und gefährlich, nun, so bitten wir Gott um Befreiung, und dann verharren wir in innerer Ruhe und meiden jede Ängstlichkeit, was immer geschehen mag. Betrachtet sie jedenfalls nicht als einen Fluch Gottes über uns, sondern im Gegenteil als ein Heiligungsmittel, das Gott uns anbietet, als ein heiliges und göttliches Privileg seiner Güte, mit dessen Hilfe er euch wirksamer zur Heiligkeit führen will.

Auch die Heiligen haben gekämpft und gestritten. Sagt also ein mutiges Ja zu den Prüfungen und verbleibt gern in eurer Niedrigkeit und Kleinheit. Bedient euch der angegebenen Mittel und geht der Versuchung aus dem Weg mit Hilfe von ablenkenden Gedanken. Beschäftigt euch und wendet euch anderen Dingen zu. Richtet eure Gedanken auf Gegenstände, die euch erfreuen, nehmt ein Buch zur Hand, ein fesselndes Studium, und die Versuchung wird erlahmen. Frontal angreifen ist ja sehr schön, aber warum einen Kampf vom Zaune brechen, wenn man dem Feind aus dem Weg gehen kann? Wozu seine Kräfte unnütz vergeuden? Warum sich um freie Bahn balgen, wenn ein anderer Weg offen vor uns liegt? Die Mittel, die die Theologen gewöhnlich anraten, sind sicher gut: das Gebet – ich sage heute vielleicht komische Dinge – und die anderen Mittel, die Beichtväter mitunter ihren Pönitenten nahelegen wie Fasten, Betrachtungen… ja das sind starke Medizinen. Nicht jedermann verträgt sie. Solch eine Kur setzt eine Vielzahl von Qualitäten voraus, die sich selten vereint in einem Menschen finden. Der Wille wie vieler ist schwach, ihr Temperament kraftlos! Allzu oft fallen die Seelen, die man solch einer Kur unterwarf, nach strengen Abtötungen heißt es vorsichtig umgehen in der Leitung von Seelen. In Sonderheit bei uns Oblaten verdient die Seelenführung unsere besondere Aufmerksamkeit und Sorgfalt. Abtötungen reserviert man zweckmäßiger für die Zeiten der Ausgeglichenheit und seelischen Ruhe. Ich verbiete nicht, dass man zu Gott in Versuchungen bete oder dass man sich Abtötungen auferlege, so man die innere Erleuchtung dazu bekommt. Im Allgemeinen aber gilt, dass alle heftigen Dinge Gefahren bergen und dass man solche Mittel nur mit Vorsicht und Klugheit anwenden soll. Bedient man sich ihrer häufig und in ausgedehntem Maße, dann ermüden und schwächen sie die Kräfte. Gewiss ein erfahrener und kluger Mensch, der die menschliche Schwäche kennt, wird sie nicht oft gebrauchen.

Es handelt sich da ausnehmend starke Mittel, um Gewaltkuren. Das erinnert ein bisschen an das berühmte Heilmittel des Doktor Koch gegen die Tuberkulose: es heilt jene, die es sich nicht tötet. Sanfter wirkende Mittel sind vorzuziehen, solche, die niemand töten, aber alle heilen. Lenkt euch also ab in der Versuchung! Betet, aber kurz und lebhaft! Ein Herzensschrei zur seligsten Jungfrau oder zum Schutzengel, etwas Besänftigendes, etwas, was euch Vertrauen einflößt. Ruft eure hl. Patrone an und dann gebt euch einer Arbeit hin, die euch interessiert! In den Versuchungen des Stolzes und der Eigenliebe werft euch in Demut und Sanftmut zu Füßen unseres Herrn nieder! Gewöhnlich merkt man diese Versuchungen gar nicht. Entspringen sie doch ziemlich selten irgendwelchen Einflüsterungen und Umwelteinflüssen. Die Sünde des Stolzes entspringt eher einem Zustand und einer Disposition unserer Seele als einer plötzlichen und lebhaften Versuchung. Diese Sünde begeht man darum oft, ohne sie zu bemerken. In den Versuchungen des Zornes und der Ungeduld gilt es, die Wort unseres Herrn zu beherzigen: „Lernt von mir, denn ich sanft und demütig von Herzen!“ Geht also zum Heiland, haltet euer Herz in seiner Nähe und der Sieg wird euer sein. In den Versuchungen zur Trägheit, wo man die Mühe, die geistige und körperlichen Anstrengungen scheut, sollten wir gleichfalls an unseren lieben Herrn denken, der sich der Handarbeit hingegeben hat und uns die Gnade schenken wird, unsere Trägheit und Schläfrigkeit abzuschütteln und ihm nachzufolgen. In allen übrigen Versuchungen wenden wir uns ebenfalls an den Herrn und erwarten von ihm Erleuchtung und Hilfe. In den Versuchungen gegen den Glauben müssen wir uns in derselben Weise verhalten wie in jenen gegen die hl. Reinheit: in der Flucht suchen wir da unser Heil. Die Heiligen des Himmels wie jene auf der Erde haben alle ihren persönlichen Charakter, ihr eigenes Temperament, das sie sich geformt haben durch ihren Kampf gegen ihre Leidenschaften und Versuchungen. Infolgedessen gibt es nichts, was sie überraschen könnte in unserem Elend. Möge der Gedanke, dass die Heiligen durch die gleichen Versuchungen gehen mussten wie wir, uns ermutigen und trösten. Jammern wir also nicht, bitten wir vielmehr um ihre Hilfe, und auch wir werden sie siegreich bestehen.

Beten wir innig für den Kardinal Simeoni, den Präfekten der Propaganda, der soeben gestorben ist. Er bewies uns jederzeit ein ganz besonderes Wohlwollen. Darum möge jeder Pater eine hl. Messe für seine Seelenruhe aufopfern.