Kapitel vom 16.12.1891: Über die Gewissensprüfung
Die Gewissenserforschung hat eine enorme Wichtigkeit im Leben eines jeden Christen, aber noch mehr im Leben eines Ordensmannes. Alle Moraltheologen und Kenner des geistlichen Lebens stimmen darin überein. Die Erde ist verwüstet, klagt der Prophet Jeremias, weil keiner in seinem Herzen über sein Tun nachdenkt. Der Großteil der Sünden und schlechten Gewohnheiten geht auf das Konto der vernachlässigten Gewissenserforschung. Wenn ein Bankier seine Kontobücher schlecht führt, geht er dem Bankrott entgegen. Auch ein Ordensmann, der nicht mehr sein Gewissen erforscht, bringt seine Bücher durcheinander, verliert die Übersicht über Soll und Haben und eilt der Katastrophe zu. Der Priester und Ordensmann, der sein Inneres nicht unter Kontrolle hält, weiß bald nicht mehr, woran er ist, ob er richtig oder falsch handelt. Die Fehler nehmen an Zahl und Größe zu, nichts mehr hält die Gewalt der Leidenschaft auf, seine Seele mit sich fortzureißen. Darum kommt der Gewissenserforschung solch eine Dringlichkeit zu, dass der hl. Stifter uns sogar zwei pro Tag vorschreibt. Er möchte, dass die Kontrolle unseres Gewissens gleichsam in Permanenz geschehe, dass wir bei jedem Versagen sofort fragen, aus welchem Beweggrund es geschah und dass wir es den früher begangenen Fehlern für die nächste Beichte hinzufügen. Halten wir unser Gewissen nicht in dieser Form ständig unter Kontrolle, so ist an einen Fortschritt nicht zu denken. Um also ein guter Priester und Ordensmann zu werden – man kann dies nicht genug betonen – muss der Zustand unseres Gewissens ständig vor unseren Augen stehen und unsere Fehler müssen uns in allen Einzelheiten bekannt sein. Wir dürfen nicht im Unklaren darüber bleiben, worin wir versagen, ob im Stillschweigen oder in sonst einem Punkt der hl. Regel. Wer das Stillschweigen nicht hält, ist kein Ordensmann. Wer eine kleine Vorschrift für nichtig hält, kann sich nicht für einen echten Ordensmann halten. Das steht zwar in krassem Gegensatz zu unserem Zeitgeist, zum Urteil der Welt. In den Augen sehr vieler Menschen zählt einzig die Sünde, während religiöse Untreuen ihnen als belanglos gelten. Es ist eine allgemeine Tendenz bei einem Teil des Weltklerus, das Ordensleben unter diesem Blickwinkel zu beurteilen, der ganz und gar nicht derjenige der Kirche ist. Ihr habt gegen eine klösterliche Vorschrift gefehlt, was heißt das? Es ist doch keine Todsünde, auch keine lässliche, also gar nichts? Oh doch, es ist sehr viel, es bedeutet nichts weniger als den Ruin des Ordenslebens und der göttlichen Gnade. Ferner: Fehlt es dir an der nötigen Gottesliebe, um solche Fehler zu vermeiden, unterlässt du nur Verstöße, wenn und weil sie Todsünde sind, sage mir dann: Wie und womit dienst du dann noch Gott? Die Juden trugen das Gesetz Gottes auf Spruchbändern an ihren Kleidern, um es beständig vor Augen zu haben. Das waren Pharisäer: das Gesetz Gottes stand auf ihren Kleidern, statt in ihren Herzen. Machen wir es nicht wie sie! Seht da einen frommen Christen oder Ordensmann: Was tut er schon Böses, wodurch übertritt er Gottes Gebot? Nun, er lässt sich zur Ungeduld hinreißen, verstößt gegen einige Punkte seiner Regel oder des Gehorsams. Er ist Lehrer und bereitet seinen Unterricht schlampig vor. Nun, dann ist eben kein frommer Mann und vor allem kein heiligmäßiger Ordensmann. Alles Große setzt sich aus vielen kleinen Dingen zusammen. Die Elemente der größten Massen und schwersten Körper, derer, die am meisten Aktivität und Wirkung entfalten, entziehen sich wegen ihrer Winzigkeit unseren Blicken.
„Aber andere halten sich doch auch nicht an solche Genauigkeiten“, mag einer einwenden. „Sehr richtig!“ – Aber: alle sind eben nicht zu unserer Lebensweise verpflichtet! Für uns aber ist diese Verhaltensweise entscheidend. Wir können gar nicht anders handeln. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass man ein christliches und klösterliches Leben führen kann, ohne sein Gewissen ständig zu überwachen. Was da unser hl. Stifter nach jedem Fehler von uns verlangt, dürfen wir nicht in einem Geist langer Erörterung vollziehen, sondern im Geist der Demut. Es gilt, uns über unsere Beweggründe klar zu werden: geschah es aus Bequemlichkeit, Übermüdung oder Dummheit? Aus einer Verschrobenheit des Charakters oder aus Schwäche? Und das sollen wir dann dem Beichtvater offenbaren. Machen wir es zu keiner Sünde, wenn es im theologischen Sinne keine war, sondern klagen wir es eben als Untreue oder Schwäche an, um so wieder an Kraft und Reinheit zu erlangen. Halten wir uns also den Spiegel unseres Inneren unablässig vor Augen! Sehen wir unseren Fehlern mutig ins Auge, um jede Selbsttäuschung zu vermeiden. Haben wir einen Fehler begangen, sollen wir auf der Stelle die Beweggründe suchen, ob Stolz, Sinnlichkeit, Naschhaftigkeit oder sonst etwas im Spiele war. Das muss freilich hurtig erfolgen, da wir nicht unsere Zeit mit Selbstzergliederungen vergeuden wollen. Fegen wir schnell unser Haus durch, damit wir auch die Zeit haben, es auszuschmücken und zu bereichern.
„Sobald sie sich tagsüber bei irgendeinem Fehler überraschen, wird es ihnen nützlich sein, sich sofort zu prüfen, welcher Regung er entsprang.“
Das sind keine leeren Phrasen, sondern ein Versprechen, das in Erfüllung geht. Diese sofortige Prüfung kann nur zu unserem Vorteil ausschlagen. Wer auf einem Stuhle sitzt, braucht nicht so achtzugeben wie einer, der auf einem Rad dahinfährt oder gar auf einem Seil tanzt. Auch wir werden nicht fallen, wenn wir achtsam vorangehen, mögen die Gefahren auch noch so groß sein.
„Die Gewissenserforschung am Mittag ist einfacher.“
Sie dauert nicht länger als zwei Minuten, mehr braucht es nicht. Man kann sich die Handlungen des Vormittags ja leicht vor Augen führen, in denen man sich nicht treu erwies: Aufstehen, Betrachtung, Messe, Brevier, Arbeit, Umgang mit dem Mitmenschen, eventuelle Versuchungen. In einem Augenblick kann man sich darüber Klarheit verschaffen, was nicht in Ordnung war. Breitet euer Gewissen ohne Falten und Winkel vor euch aus. Es sollte zart reagieren, nicht aber skrupulös, sondern großmütig und gewissenhaft zugleich. So werden wir jeden Fall vermeiden.
Beurteilen wir hochgemut und illusionslos, was wir sind und taugen. Hohe Pflichten warten auf uns, die das Priester- und Ordensstandes. Wer sich aufs Priestertum vorbereitet, tue es mit Furcht und Zittern. Ich möchte euch hier nicht die Predigt wiederholen, die ich am Tag meiner Priesterweihe in Chalons zu hören bekam. Es herrschte eine Kälte von 22 Grad Celsius. Die Nacht davor schliefen wir in gefrorenen Betttüchern, nachdem wir einen Imbiss aus Gartenkresse vorgesetzt bekommen hatten. Am Morgen des Weihetages hielt uns der Regens folgende Ansprache: „Ihr geht jetzt zur Weihe. Seid ihr dessen würdig? Was drängt euch zur Weihe? Erforscht euch wohl und hütet euch vor Selbsttäuschung! Rät euch der Beichtvater dazu? Auch er kann sich täuschen…“ Und er führte Beispiele dafür an. Neben mir saß ein Weihekandidat, der leider in der Folgezeit sich nicht gut entwickelte. Er raunte mir so: „Was soll ich tun?“ Ich war versucht, ihm zu raten: „Geh fort!“ Nun, ich werde zu meinen Weihekandidaten nicht in diesem Ton sprechen wie dieser gute Obere und werde nicht so viel Tamtam machen. In diesem Augenblick war sein Eifer sicher etwas unangebracht. Gleichwohl werde auch ich zu ihnen sagen: Bereitet euch mit heiliger Furcht vor! Was ihr da eingeht, ist eine äußerst ernste Verpflichtung. Der Priester lebt nicht mehr für sich, sondern nur noch für die Seelen. Alles kommt auf seinen inneren Wert an. Für sich allein genommen ist der Mensch nichts. Er wird nur etwas sein und leisten können in dem Maße seiner Treue und seiner Verbundenheit mit Gott. Gott deckt ihn mit seiner Allmacht, wenn der Mensch sich an ihn hält. Er vermehrt das Gewicht seines Priestertums in dem Maße seiner Treue und unwandelbaren Verbundenheit mit ihm. Habt ihr euch nicht genügend auf die Priesterweihe vorbereitet, so geht jetzt an die Arbeit. Verbringt Tage und Stunden der Treue, Tage der Gewissenhaftigkeit! Was Schönes, Vornehmes und Ehrwürdiges ist es doch um die Gewissenhaftigkeit: Man erkennt den Willen Gottes, umfängt ihn mit Liebe, achtet ihn über alles, hält kraftvoll an ihm fest, will sich um nichts in der Welt von ihm trennen, weiht ihm sein Leben und sein Herz. Das heißt Priester sein und darauf beruht die Würde seiner Sendung.
Habt ihr all das noch nicht vollbracht – und wer dürfte je dies von sich behaupten – dann demütigt euch nach der Gewissenserforschung und bittet um Verzeihung: Ich verspreche dir, lieber Gott, dass ich wieder von vorne anfangen will. Es geht darum, Gott den tiefsten Grund seines Herzens zu schenken. Ein Fehler aus Gebrechlichkeit ist nicht tragisch zu nehmen und bleibt immer im Bereich der Möglichkeit. Wir sind nicht unfehlbar. Jeder bleibt vieler Niederträchtigkeit unterworfen und kleiner wie großer Erbärmlichkeiten fähig. Solange wir aber wachsam bleiben, solange wir kämpfen, solange wir uns stets von neuem Gott zuwenden, werden wir es schaffen. Wenn ihr Ordensleute beichtzuhören habt, dann erinnert euch an das, was ich hier sage: es ist der Geist der Kirche. Haltet alle klösterlichen Übungen, die sie billigt, in hohen Ehren.
„Außerdem kann sich der Oblate auch noch über diese oder jene Tugend im Besonderen erforschen, die ihm vor allem nottut.“
Dieses Sonderexamen lässt sich vornehmen, indem man sich an die Weisungen seines Seelenführers hält oder aber hier ein bisschen eigenen Seelenführer spielt. Ich fühle mich z.B. zur Sinnlichkeit hingezogen. Nun, dann gehe ich eben gegen diesen Hang meiner Natur an und suche täglich einen kleinen Sieg darüber zu erringen. Am Schluss solch eines Partikularexamens oder zu einem anderen Zeitpunkt des Tagewerkes stelle ich mir die Frage: Wo stehe ich, wie weit habe ich es in meinem Sondervorsatz gebracht?
„Er kann diese Art Gewissenserforschung nicht bloß für sich allein üben, sondern um die Zeit hoher Feste oder auch sonst kann die ganze Gemeinde…im Streben nach einer bestimmten Tugend wetteifern.“
Dieser gemeinsame Wetteifer in einer bestimmten Tugend steht in der Heimsuchung in hohen Ehren. Auch in anderen Orden, z.B. bei den Jesuiten, kennt man diese Übung. Es kann ein wirksames Mittel sein, sich gegenseitig in Eifer anzustacheln. Gegenüber allen Einwänden, die erhoben werden gegen die Beichte der Ordensleute über Regelverstöße, darf ich euch die Meinung eines Mannes vortragen, der in der Kirche Gottes wahrlich etwas gilt: unseres glorreich regierenden Hl. Vaters, des Papstes Leo XIII.: „Seid gute Ordensleute!“ hat er uns aufgefordert. „Denn wir brauchen Ordensleute, um die Welt zu bekehren.“ Ordensleute haben also ihre Daseinsberechtigung und sind keine müßigen Spaziergänger. Um aber gute Ordensleute zu sein, müssen wir unsere geistlichen Rechnungsbücher in Ordnung halten.
Ich empfehle euren Gebeten in dieser Weihnachtszeit unsere ganze Ordensgemeinschaft. Betet auch für unsere Missionen und Jugendwerke. Möge der Herr allezeit mit uns sein! Wählen wir als Stoßgebet gern das letzte Wort der Geheimen Offenbarung: „Komm, Herr Jesus!“ Ja, möge er auch zu uns kommen, wie er jene aufsuchte, die mühselig und beladen waren und in deren Mitte er seine Erdentage verbracht hat, um sie zum Himmel zu führen. Komm, Herr Jesus! Das sei der Schrei unserer Seele, das Beten unseres Herzens vor dem hl. Sakrament, bei der hl. Messe und Kommunion!
D.s.b.
