Kapitel vom 27.10.1891: Über die Moral und den Wohlstand unserer Werke
Schon das letzte Mal kam ich auf die ersten Kapitel des Direktoriums zu sprechen, indem ich von den ersten Prüfungen sprach, die jede Kongregation und Kommunität durchzustehen hat. Ich nehme noch einmal das Wort auf, das ich neulich erklärt habe: „Söhne himmlischer Unterredungen, ich bitte euch, ja ich beschwöre euch, seid alle beseelt von der gleichen Liebe.“
Das Ordensleben ist ein Leben im Diesseits. Gewiss muss es auf einer übernatürlichen Basis ruhen, und seine wichtigsten Pflichten erstrecken sich aufs übernatürliche Leben. Aber die äußere Beobachtung der Satzungen ist notwendigerweise vorausgesetzt. Derselbe Geist der Liebe muss alle Herzen umschließen. Die Einheit des Geistes, die nach dem Willen unseres hl. Stifters unser Leben prägen soll, muss sich zwar auf die übernatürlichen Bereiche des Geistes und Willens erstrecken, darf aber auch die äußeren Bezirke unseres Daseins nicht ausschließen. Wir verstünden wahrlich unseren Lebensstand schlecht, wollten wir nur seine geistliche Seite ins Auge fassen.
Wir beten: „Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Hl. Geistes.“ Der Vater ist Gott, der Sohn und der Hl. Geist sind es ebenfalls. Wir haben demnach allen dreien gegenüber dieselben Verpflichtungen. Der Vater aber ist der Schöpfer: Alles, was mit der materiellen Schöpfung zusammenhängt, verdankt ihm Leben und Odem. Er hat folglich einen Anspruch auf unsere Ehrfurcht, Achtung und Hingabe. Eines der wirksamsten Machtmittel des Teufels besteht darin, die materielle Schöpfung von Gott abzuziehen und gegen ihn einzusetzen. Da muss gerade das Ordensleben und besonders das Oblatenleben es als sein Hauptziel betrachten, die rechte Ordnung wieder herzustellen. Der böse Geist möchte sich an die Stelle Gottes, des Schöpfers und Herrn, setzen. Und die Freimaurerei ist nichts anderes als dieser Aufstand gegen Gott, als die Vereinigung des göttlichen Ursprungs der Schöpfung, als die Leugnung der Allmacht Gottes über seine Kreatur. Jedes Mitglied unserer Kongregation pflege darum mit ganzer Hingabe die Verehrung Gottes in den materiellen Dingen.
Ich möchte heute von unseren Kollegien sprechen. Wir alle, ob Pater oder Bruder, müssen um das materielle Wohl unserer Häuser besorgt sein. Ja, jeder von euch sei am materiellen Gemeingut des Kollegs interessiert, mag er auch nicht Direktor, Ökonom oder sonst wie mit den Ausgaben des Hauses betraut sein. Das materielle Wohlergehen unserer Schule darf uns nicht weniger am Herzen liegen als ihr geistiges.
Die geistig-sittliche Wohlfahrt eines Hauses hängt in erster Linie von der Liebe und dem Vertrauen ab, das uns die Familien unserer Schüler entgegenbringen. Viele Häuser leben allein von diesem Vertrauen. Damit arbeiten insbesondere die Jesuiten. Auch Pontevoy macht davon keine Ausnahme, sondern wird getragen vom Zutrauen und der Sympathie seiner ehemaligen Schüler. Es ist darum auch für uns von dringender Notwendigkeit, dass wir uns dieses Vertrauens der Familien vergewissern. Ohne das wird jedes Erziehungsinstitut zerfallen. Gewiss bedeutet es für christliche Eltern keine Kleinigkeit, mit Ordensleuten zu tun haben. Finden sie aber andernorts dieselben Garantien einer guten Erziehung, werden sie nicht zögern, sich dorthin zu wenden, wo man ihr Vertrauen errungen hat.
Auf welche Weise gewinnt man nun dieses Vertrauen? Durch die Kinder. Das ist eine heikle Frage. Eines müssen wir uns merken: Wir werden in der Welt draußen nie ergebenere Verteidiger und Beschützer finden als in unseren früheren schlechten Schülern, als in jene, die uns am meisten schaffen machten, die uns als die dümmsten und schwierigsten erschienen. Vergesst das nie, und ihr werdet eines Tages dieselbe Erfahrungen machen, wenn ihr sie noch nicht gemacht habt. Professoren wie Präfekten mögen es sich darum etwas kosten lassen, die Anhänglichkeit unserer Schüler zu erwerben, besonders der schlechten Schüler.
Dabei denke ich keineswegs an irgendwelche Bevorzugungen oder was sonst Ärgernis erregen könnte, indem man etwa Unordnung durchgehen ließe. Ich wünsche lediglich, dass wir uns so verhalten, dass unsere Schüler und ihre Familien für uns einnehmen. Das mache ich euch zur Gewissenspflicht. Es gehört einfach zu einer guten Leitung, zu einer guten Verwaltung. Ihr werdet diesen Menschen später wieder begegnen, sie werden euch zugetan bleiben, werden spüren und begreifen, was ihr für sie getan habt, sie werden euch Dank dafür wissen. Nehmt darum diese Anregung sehr, sehr ernst.
Es ist bekannt, dass die Familien, die am besten versehen sind mit materiellen Glücksgütern, nicht immer reich an Gütern des Geistes sind. Gerade die jungen Leute, die schwer erziehbar waren, werden später bereit sein, eure guten Unternehmungen (finanziell bzw. fiskalisch) zu unterstützen. Erzeigt man ihnen aber übermäßige Strenge und lasst ihr es an der nötigen Geduld fehlen, so werdet ihr euch mit einem „Niemandsland“ umgeben. Und wenn schon die gutartigen Schüler euch aus dem Weg gehen, wie viel mehr die bösartigen!
So möge also jeder den Kopf sich zerbrechen, wie er das geistige Wohl des Hauses sicherstellen kann, da es ja vom Eifer eines jeden abhängt. Wir dürfen nicht sagen: Ich führe die Befehle meines Vorgesetzten aus, ich tue meine Pflicht und damit basta. Ich bin Lehrer, Präfekt, daran halte ich mich, darüber gehe ich nicht hinaus. Nein, meine Freunde, darüber müssen wir wohl hinausgehen, oder besser gesagt: Wir müssen unser Amt und unsere Pflichten in dem Sinne auffassen, den ich oben erläutert habe, mit aller Intelligenz, Geschicklichkeit, Klugheit und Selbstlosigkeit, deren wir fähig sind. Immer solltet ihr auf neue Mittel sinnen, die Herzen eurer Schutzbefohlenen zu gewinnen, jeder in seinem Bereich, und das mit Klugheit und Umsicht, sodass man niemandem nachsagen kann: der Pater sieht diesem etwas nach, weil er reich, seine Eltern vornehm und einflussreich sind. Im Umgang mit den Familien heißt es viel Takt und Fingerspitzengefühl aufwenden. Man kann den Eltern durchaus mit Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit begegnen, ohne ihnen die Dinge auf schockierende Weise an den Kopf zu werfen, dass sie beschämt und mutlos werden. Übrigens ist man ja nicht immer verpflichtet, jedem alles zu sagen.
Seid also jederzeit darauf bedacht, mit unseren Familien gute Beziehungen zu unterhalten. Mir ist ein trauriges Beispiel bekannt, das gerade dem Umstand entsprang, dass man mit den Eltern nicht klug und selbstbeherrscht umging… Es war nicht in Troyes, sondern anderswo. Das zog uns die größten Unannehmlichkeiten zu, und nun heißt es alle möglichen Anstrengungen machen, um gegen die widrige Strömung zu schwimmen. Wir sind ja nicht bloß Leiter von Kollegien, Lehrbetrieben und Verwaltungen. Wir sind an erster Stelle eine Gemeinschaft von Ordensleuten. Da muss alles, Ordnung, Disziplin, Verwaltung, persönlicher Einsatz, guter Geist, selbstlose Hingabe und Arbeit – all das muss auf dasselbe Ziel hinsteuern. Und unser Ziel besteht gerade darin, die größtmögliche Zahl von Seelen zu erreichen und sie so tief wie möglich zu beeinflussen. Es geht darum, all diese Seelen in dem Geist zu erhalten, von dem wir selber leben, sie so weit wie möglich an dem Erbgut und dem Reichtum, den wir besitzen, am Geist des hl. Franz v. Sales, teilnehmen zu lassen.
Ich empfehle eindringlich diese Art des Vorgehens. Lassen wir dies außer Acht, so werden wir uns bald wie Familien, die uns zuerst zugetan waren, entfremden, ja sie uns schließlich zu Feinden machen. Beachtet noch einmal, dass das Verhalten, das ich da empfehle, in keiner Weise exaktes Studium und vorbildliche Disziplin beeinträchtigen wird. Was ich von euch will, ist das persönliche Opfer, und das ist jederzeit des göttlichen Lohnes gewiss.
Mit diesem Eifer für das geistige Wohlergehen unserer Kollegien müssen wir stets die liebende Sorge um ihr materielles Gedeihen verbinden. Alles, was wir an materiellen Gütern besitzen, trägt irgendwie, wie ich oben betont habe, den Charakter von etwas Heiligem an sich. Aus Gottes Hand gingen sie hervor, und „er sah, dass es gut war.“ Das Lächeln seines göttlichen Wohlgefallens liegt über ihnen und wir werden Gott in ihnen entdecken, wenn wir nur zu suchen verstehen.
Jeder möge also sich auch um das materielle Wohl des Hauses kümmern, so als wäre er selbst der Hausökonom. Jede unnötige Ausgabe wollen wir vermeiden. Und jeder sinne nach, wie er dem Haus einen kleinen Vorteil verschaffen, eine kleine Hilfsquelle erschließen kann. Dieser Eifer, diese fromme Fürsorge hat etwas Rührendes an sich. In der Kartause von Bosserville sah ich einen Prinzen, den Vetter der spanischen Königin, in der Küche damit beschäftigt, mit einem Stöckchen die Linsenkörner zu sammeln, die in die Spalten des Bodenbelages gerollt waren. Und dabei war er doch ein hoher Edelmann! Sein Vater war reich genug, ihm viele Scheffel dieses Gemüses zu besorgen. Warum also diese Mühe? Eben aus der Überzeugung heraus, dass es hier um das Eigentum Gottes geht, das nicht verderben darf. Das ist hohe Theologie, eine sehr hohe und sehr treffende sogar. Machen wir uns die gleiche Gesinnung zu Eigen. Was immer in unserer Macht steht, einen Verlust zu verhindern, eine Hilfsquelle zu erschließen, mit unseren Geistes- und Körperkräften dem Haus einen Vorteil zu verschaffen, das sollten wir auch großmütig tun. Heiligt euer Tun und Mühen, eben durch diese Gesinnung. Dieser Gedanke möge eurem Geist stets gegenwärtig sein und eurem Handeln als Triebfeder zugrunde liegen.
Wo ich auch war, sah ich gerade die besten Ordensleute diese unvergleichliche Hochschätzung für das allgemeine Wohl hegen. „Aber das ist doch alles so belanglos!“ mag einer einwenden. „Was sind schon drei kleine Worte? Gar nichts!“ Nun, ich ehre euch aus ganzem Herzen, wenn ihr diese drei Worte aus dem Grunde eures Herzens sprecht. Sie können euch die Verzeihung aller Sünden eures Lebens erwirken, können euch den Himmel einbringen. Die gleiche Wirkung kann aber auch von drei Linsenkörnern ausgehen.
Als der hl. Bernhard in Clairvaux lebte, widmete er seine ganze Aufmerksamkeit den kleinsten Einzelheiten der Organisation, besonders der Klostermühle. Das wird genau geschildert in dem Bericht, der aus den ersten Klosterjahren stammt. Neben der Mühle von Clairvaux gab es im Besitz der Ordensleute noch viele andere Mühlen, Scheunen und Kelten. Warum spürte man aber beim Lesen dieser Einzelheiten im Schreiber so eine tiefe Bewegung, eine Erregung, die sich auch dem Leser mitteilt? Es ist eben die Ergriffenheit, die Ehrfurcht, die der hl. Bernhard allem Geschaffenem, allen Werken Gottes entgegenbrachte. Die Liebe zu Gott drängte den Heiligen zu diesem Erschauern vor dem Göttlichen in den Dingen, und sie sprang auch auf jene über, die seine Tugenden beschrieben. Genau das gleiche finden wir bei der Guten Mutter. Auch sie brachte den materiellen Dingen eine unbeschreibliche Ehrfurcht entgegen, nicht weniger als sie es den Fragen der Gnade und des geistlichen Lebens gegenüber getan hat. Sie fand es ganz einfach und natürlich, dass man die drei göttlichen Personen in gleichem Maße verehrte und sich durch die geschöpflichen Werke des Vaters ebenso heiligte wie durch die geistlichen Werke des Sohnes und des Hl. Geistes.
Beachtet übrigens, wie ehrfürchtig alle religiösen Orden auf alle Einzelheiten der materiellen Existenz eingehen. Leben wir also alle in Harmonie und Einheit des Geistes und des Herzens untereinander wie mit unserem Herrn!
D.s.b.
