Kapitel vom 07.10.1891: Über die Gute Mutter
Heute haben wir alle für die Gute Mutter gebetet, denn heute vor 16 Jahren hat sie uns verlassen. Bitten wir den lieben Gott, dass sie bald selig gesprochen werde. Das lässt sich leichter bewerkstelligen, solange Menschen leben und ihre Tugenden bezeugen, die sie gekannt und mit ihr zusammengelebt haben. Sie bieten größeren Eifer auf, eine so schwierige Sache zu einem guten Abschluss zu bringen.
Das wird für uns Oblaten zu einer großen Ermutigung und zu einer Bestätigung aller Verheißungen werden, die uns zuteilwurden. Es wird auch mächtig zur Ausbreitung ihrer Werke beitragen. Jeder möge sie im Besonderen darum bitten, dass sie uns den echten Geist und die authentische Denkart erwirke. Es ergeht uns ja wie allen anderen Orden: Wir kommen in die Welt zu der uns bestimmten Stunde, in dem Augenblick, in dem man uns und unseren Geist braucht.
Alle, die die Gute Mutter kennengelernt, ihr Leben gelesen haben und zu würdigen wissen, stellen ihr das Zeugnis aus, dass sich ihre Urteile und Gedanken durch große Treffsicherheit auszeichneten. Ihre Heiligkeit lässt keine Zweifel zu. Was man an ihr aber besonders bewundert, ist ihr gesundes Urteil, die auffallende Vernünftigkeit, die sie jederzeit bewies, ist die Summe dessen, was man ihre Lehre nennt. Alle, die ihre Liebe und mächtige Fürbitte bei Gott erfahren durften, legen davon ein begeistertes Zeugnis ab. Nehmen wir also unsere ganze Zuflucht zu ihr. Warum sollten wir uns auch nicht an sie wenden, wenn wir etwas besonders Mühsames und Schwieriges zu erledigen haben? Während ihres ganzen Lebens wusste ich überhaupt nicht, was Schwierigkeiten waren. Die Gute Mutter ist ja da, sagte ich mir beständig… und die Gute Mutter brachte alles ins Lot. Rufen wir sie also an, sie ist unsere Nothelferin, unser Eigentum. Jeder Orden erblickt in seinem Gründer seinen Beschützer und Lenker. Für uns ist das die Gute Mutter. Nehmen wir sie zu uns in jeder Lebenslage, bei jedem Zwischenfall. Sie soll mit uns und für uns handeln und sprechen, soll uns aus jeder Verlegenheit befreien, vor dieser oder jener Schwierigkeit bewahren. Eilen wir zu ihr in aller Gefahr und Trübsal. Wie könnte der Himmel ihre Macht und Liebe zu den Oblaten, ihren Kindern, beschneiden? Betrachten wir sie als unsere spezielle Schutzpatronin. Richten wir uns auf an ihrem guten Beispiel. Ihre Regeltreue und ihr Gehorsam, was ja den Kern ihres Lebens ausmachte, fielen bei ihr gar nicht sonderlich auf. Was an ihr auffiel, waren die besonderen Gaben, die außerordentlichen Gnaden, die wirksamen Hilfen, die sie den Menschen zuteilwerden ließ. Der innerste Kern ihres Wesens wurde kaum anders sichtbar als in einer bedingungslosen Treue zur hl. Regel, zu den Gelübden und zur Liebe, die sie zu ihrem obersten Lebensgesetz erhob. Die Liebe war die Basis ihres ganzen Lebens, ihres materiellen, natürlichen, wie übernatürlichen Tuns. Sie wurde uns somit zu einem Vorbild vollkommener Regeltreue, und in diesem Anliegen wollen wir sie anrufen. Sie möge uns den authentischen Geist verbürgen und bewahren, auslegen und vertiefen. In allem soll sie uns als Modell dienen, in allem, was uns zu tun obliegt, in unserem Verhältnis zu den Seelen, zum Nächsten. Ahmen wir auch ihre Losschälung nach, um dem Mitmenschen gefällig zu sein, ihre Klugheit und Einfachheit, ihre Art vorzugehen, ihren Geist und ihre Seele. Niemand kann an ihrer Vorzugsliebe für uns Oblaten zweifeln. Bringen wir ihr als unserer Mutter kindliches Vertrauen und Hingabe entgegen, dann werden wir ihrer Hilfe sicher sein. Eilen wir zu ihr in Gesundheit und Krankheit, in unseren Sorgen um die uns Anvertrauten wie um die Außenstehenden, ja um jede Art von Menschen. Sie wird euch beraten und leiten, wird eurem Leben, euren Handlungen und Unternehmungen die Seele einhauchen! Vor allem seit einiger Zeit gewinne ich den Eindruck, dass sich Mutter Maria Salesia intensiver, hilfreicher, aufmerksamer und liebevoller kümmert als bisher. Um dieses neue Schuljahr gut zu beginnen, lasst uns den Vorsatz fassen, uns genau in den Schranken zu halten, die uns durch den Gehorsam gesetzt sind. Erhalten wir uns einen hohen Mut. Die Gute Mutter ist unser Gut und Eigentum. Vergeuden und vernachlässigen wir dieses hohe Erbgut nicht. Es ist uns eine unerschöpfliche Quelle. Sie liebt uns als ihre Kinder mehr als alle andern.
Ich wollte euch heute Morgen nur diese wenigen Worte sagen. Eröffnen wir dieses Schuljahr unter ihrem mütterlichen Schutz und ihrer Leitung. Die Aufseher möge sie um die beste Art bitte, das Studium gut zu überwachen, die Professoren um die Gnade eines tüchtigen Unterrichts, jene, die Handarbeit leisten, um das Geheimnis, ihre Arbeiten zu einem guten Erfolg zu führen. Sie wird beglückt und gerührt sein, wenn sie feststellt, wie vertrauensvoll man zu ihr kommt, verlangt sie doch nach nichts mehr als ihre mütterliche Obsorge zur Entfaltung zur Entfaltung zu bringen: „Erzeige dich als Mutter!“ gilt auch für sie. Der Einfluss einer Heiligen, meine Freunde, kann gar nicht hoch genug geschätzt werden. Das habe ich 40 Jahre lang beobachtet. Ich hatte ständig dieses einzigartige Schauspiel vor Augen: die vollkommene Regeltreue einer ganzen Kommunität. Ich möchte nicht behaupten, es habe nicht ab und zu einen Querkopf gegeben, einen etwas verschrobenen Geist, der den Anderen Gelegenheit zur Überwindung gab. Aber das Gesamtschauspiel war einfach bewundernswert. Die Tage, die man da verbringen konnte, waren himmlisch. Man sah klar, was der liebe Gott wollte, es gab keine Selbsttäuschungen. Die lautere Wahrheit herrschte da. Die Schwestern übten einen vollkommenen Gehorsam. Murren hätte man vergeblich gesucht. Jede suchte Gott und tat es mit voller Hingabe. Sprach man zu mir von Reliquien und Wallfahrten, z.B. nach Salette oder Arnsie hätte ich mich dazu entschlossen, weil ich einfach kein Verlangen danach verspürte. „Was könnte ich schon anderswo finden“, dachte ich mir, „was ich nicht auch hier besäße?“
Auch wir haben Mutter Salesia unter uns. Heiligen wir uns also durch die gleiche Regeltreue, durch die Anhänglichkeit an unsere Ordensschriften und an den Gehorsam, mag uns dieser nach rechts oder nach links schicken, wir dürfen uns nicht von ihm entfernen. Strecken wir die Hand nach Mutter Salesia aus, rufen wir als echte Kinder ihres Mutterherzens ihre Hilfe an. Sie wird uns nicht enttäuschen.
D.s.b.
