Kapitelvorträge für die Oblaten 1873-1899

      

Kapitel vom 15.07.1891: Über den Eifer für das Heil der Seelen

Heute will ich meine Erklärung des Direktoriums unterbrechen, um euch einige Ratschläge zu geben und zur Erfüllung gewisser Pflichten zu ermuntern, die nicht immer recht verstanden werden. Ich meine da besonders den Eifer für das Heil der Seelen.

Zunächst müssen wir auf das Heil unserer eigenen Seele bedacht sein. Das geschieht, wenn wir unsere hl. Regel ernst nehmen. Aber auch die Rettung der anderen muss uns am Herzen liegen, zunächst jene unserer unmittelbaren Umgebung. Erinnert euch an das Gebot Gottes: Jeden machte er für seinen Nächsten verantwortlich. Wir sind alle für die Menschen unserer Umgebung Seelsorger und dürfen ihnen keinen Grund zum Ärgernis geben. Ermuntern wir sie vielmehr durch unser gutes Beispiel, dann und wann auch durch ein gutes Wort. Wir müssen die Seelen unserer Mitbrüder lieben, für sie sorgen und beten. Davon dürfen wir uns durch keinerlei Rücksichten ablenken lassen, weder durch Rücksichten auf unsere Neigungen und Mühen, noch auf Beschwerden von Seiten unserer Mitbrüder, und auch nicht durch Rücksicht auf unsere eigenes Urteil.

Ist unsere Liebe groß und stark, dann fallen uns diese Pflichten um die anderen leicht. Diesen Seeleneifer heißt es gut begreifen und bestätigen. Dazu lernen wir ja in einer Gemeinschaft. Was nützte es sonst zusammenzuleben, wenn nicht jeder davon Nutzen hätte und von dieser Verpflichtung für die Seelen der Mitbrüder tief durchdrungen wäre? Eine liebende Sorge um die Heiligung eines jeden Mitbruders muss uns auf der Seele brennen. Daran sollten wir jeden Augenblick durch Beispiel, Gebet und herzliche Liebe arbeiten, damit das Reich Gottes komme und sich ausbreite, angefangen bei den Glaubensbrüdern.

Kümmern wir uns auch ernsthaft um die Seelen unserer Schüler und Novizen. Helfen wir ihnen durch unser treues Gebet und Wohlwollen. Nichts Gutes wird gewirkt, es sei denn durch die Liebe, denn Gott ist die Liebe. Nichts Bleibendes können wir schaffen außer durch die Liebe, alles andere hat keinen Bestand.

Mühen wir uns um die Heiligung unserer Mitbrüder, bevor wir an der Besserung von Fremden oder Hottentotten arbeiten. Das ist eine Pflicht, für Ordensleute sogar eine schwerwiegende Pflicht. Eine auf solchem Fundament ruhende Gemeinschaft ist kein frommes Hirngespinst. Jeder echte Ordensmann sieht darin eine heilige Verpflichtung. Der Ordensmann ist ja nicht dazu berufen, für sich selbst zu leben. Die Liebe zu den Mitbrüdern muss vielmehr Grundlage und wesentliche Verpflichtung seines Lebens sein.

Unsere Genossenschaft wächst an Zahl. Darum müssen wir in zunehmendem Maße Ordensleute nach dem Plan unseres hl. Gründers werden und müssen zu allen Mitbrüdern herzliche Beziehungen unterhalten, mehr noch als die Heimsuchungsschwestern es tun. Wir bilden ja keine getrennten Ordensgemeinschaften wie sie, sondern eine einzige.

Gewiss haben wir alle unsere persönlichen Ansichten. Jeder urteilt gemäß seinem Charakter und Temperament. Nur wenige haben ein völlig objektives Urteil. Wir dürfen darum nicht auf uns Rücksicht nehmen, sonst streben wir zwangsläufig aufgrund unserer Veranlagung auseinander. Immer muss die Liebe die Oberhand behalten. Ob Bruder oder Pater, beurteilen und behandeln wir jeden nicht auf Grund der Stimmer unserer Natur, sondern gemäß dem Willen Gottes. Helfen wir ihm durch Gebet, durch Wohlwollen und liebende Tat. Das umso mehr, als wir ja kein anderes Band als das der Liebe haben. Wir kennen nicht jenen Korpsgeist gewisser anderer Orden. Unser einziges Band ist die Ehrfurcht und Liebe für jedes Mitglied der Kongregation. Möge es uns am stärksten binden und am teuersten sein. Es passt ausgezeichnet für alle.

Beachtet, wie genau die Lehre unseres hl. Gründers sich mit der unseres Herrn und des Evangeliums deckt. Franz v. Sales baut keine frommen Luftschlösser oder künstliche Systeme auf. Er sagt nicht: Da hab ich euch ein großartiges Gebäude erstellt: Tretet ein! Er baut keinen Schafstall, bevor er die Schafe gesehen hat. Wie wüsste er sonst, welche Ausmaße er ihm geben soll? Hat er nicht die Tür zu eng gebaut, käme ein fettes Schaf mit dichtem Fell nicht durch. Er versammelt vielmehr erst die Herzen und Seelen und Willen und formt daraus und für all das etwas, was allen frommt. Seht nur, wie auch in der Kirche sich alles organisch zusammenfügt. Wie wurden denn die Sakramente eingesetzt? Sicherlich nicht aufgrund eines a priori festgelegten Systems. Wie wurden die Dogmen definiert? Eins nach dem anderen, wie es die einzelnen Epochen erforderten.

Das gilt es wohl zu begreifen. Es ist der Geist des Evangeliums wie der unseres hl. Gründers. Fügen wir also zuerst unsere Herzen und Seelen zu einer echten Einheit und Gemeinschaft zusammen, dann kommt alles Übrige von selbst. Legen wir erst den Grund, das tragende Fundament. Jeder bringe den guten Willen auf, zum Seelenheil des Nächsten hilfsbereit seinen Teil beizutragen.

Lassen wir uns auch und in besonderer Weise das Heil der Seelen unserer Schüler ein Anliegen sein. Gewiss sind wir überladen mit materiellen und geistigen Sorgen, mit Schwierigkeiten und Widersprüchen. Legen wir aber neben all das und als Fundament von all dem den Seeleneifer. Wenn ein Lehrer unterrichtet und im Herzen für die Seelen seiner Schüler betet, für diesen oder jenen im Besonderen – glaubt ihr nicht, er täte damit sehr viel? Meint ihr, er erwirke diesem Schüler nicht die Gnade, die ihm nottut? Er vermehre nicht seine Einsicht und seinen Mut? Sorgen wir uns also um die Seelen unserer Schüler.

Als ich noch Lehrer im großen Seminar war, unterließ ich es nie, nach diesem Grundsatz zu handeln, und ich konnte den Segen meines Betens wohl verspüren. Ist nicht Gott der Herr und Meister? Er prüft die Gebete, die man ihm fürs materielle wie geistige Wohl vorträgt. So üben wir einen unsichtbaren Einfluss aus auf die unserer Obhut Anvertrauten. Vielleicht werden sich nicht alle unseren Wünschen entsprechend entwickeln. Aber hat nicht unser Herr gesagt: Der Segen, den ihr vom Himmel über die Menschen erfleht, wird, wenn er Hindernisse findet, wieder zu euch zurückkehren? Auch unsere Brüder mögen auf diese Anregungen eingehen. Sie mögen die Novizen wie unsere Schüler, die ihnen bei der Arbeit helfen, erbauen. Während sie Hand in Hand arbeiten, sollen sie für sie beten und schaffen.

Nehmen wir einmal an, in eurer Umgebung leben drei oder vier Taugenichtse. Ihr betet nun für sie, und Gottes Gnade berührt ihr Herz. Der liebe Gott gibt denen die Seelen, die sich um sie sorgen. Wer Aufseher ist im Studium oder während der Freizeit – auch er soll seine Schutzbefohlene im Gebet Gott anempfehlen. Denn unser ganzes Leben gehört den Seelen. Gott freut sich, wenn wir für uns selber um alles Nötige bitten. Zehnmal mehr aber, wenn wir über andere seine Gnaden herabflehen. Das ist mein Gebot, dass ihr einander liebt. Wir werden Großes leisten und in wachsendem Maße Gutes wirken, wenn wir die Gedanken des Glaubens, wie ich sie euch da erläutere, zum Ausgangspunkt nehmen.

Ich gehe noch weiter. Pater Boney hat soeben eine Volksmission erhalten. Hört, was er mir darüber geschrieben und was ganz typisch ist: Nichts hat mir so viele neue Erkenntnisse eingebracht und so viele Gaben Gottes wie diese Volksmission. Das erste Mal standen nur acht Personen unter meiner Kanzel. Ich begann zu beten. Am Ende des Herz-Jesu-Monats war die Kapelle nicht groß genug, um alle zu fassen. Nie spürte ich wie hier die Unfehlbarkeit dieses Mittels, um Seelen zu retten, nämlich des Gebetes für die Seelen… P. Boney begann in Nizza mit der Gründung des Franz-von-Sales-Bundes, der, wie erzählt, den Segen des Pariser Kardinals erhalten hat. Dieser hat selbst das Vorhaben vervollkommnet und ihm den Namen gegeben. P. Boney fand dort eine gewisse Zahl von Gläubigen, die über den neuen Weg sehr erfreut waren, auf den man sie da führte. Der liebe Gott wird seine Bemühungen segnen. Darin liegt das Geheimnis, meine Freunde, und in diesem Sinne möge jeder in seiner Umgebung arbeiten. Es sollte uns eine Herzenssache sein. Baut also nicht den Schafstall vor der Herde und ohne sie. Ihr möchtet gern, dass eure Schüler – dasselbe gilt auch für Novizen – zu euch bereits gut bereitet und gebildet kämen. O nein, das müsst, ihr tun und sie an Ort und Stelle formen und meißeln. Die Steine kommen roh und unbehauen aus dem Steinbruch. Bearbeitet sie, dafür seid ihr da… Arbeitet, und noch mehr: betet!

Warum übte die Gute Mutter einen so ungeheuren Einfluss auf alle Schwestern aus? Weil sie immer für sie betete. Ist das nicht ein Wunder, dessen ich Zeuge war, dass da während dreißig Jahren keine einzige Handlung, ja nicht einmal ein Gedanke in dieser Kommunität außerhalb der Regel und des Gehorsams vorkam? Woran lag es? An den Gebeten, die Mutter Maria Salesia zum Himmel schickte, für ihre Schwestern, für die Zöglinge und sogar für die Weltleute, die mit dem Kloster verkehrten. Gewöhnt euch von Beginn eures Ordenslebens daran, die Dinge so zu sehen und so auszuführen: Übung macht den Meister.

D.s.b.