Kapitelvorträge für die Oblaten 1873-1899

      

Kapitel vom 11.06.1891: Über das Kapitel, die brüderliche Zurechtweisung und die Pflicht zur Rechenschaft

Die monatlichen Verpflichtungen. „Jeden Monat muss der Obere alle Oblaten wegen vorgefallener Verstöße… brüderlich zurechtweisen.“

Im Noviziat überwacht man sich ein bisschen besser. Nachdem man Profess abgelegt hat, kommt man sich gern wie ein Schüler in Ferien vor und gewöhnt sich daran, sich gehen zu lassen. Hat das einen äußeren oder inneren Grund? Ich meine, einen inneren, weil man nämlich noch nicht ganz den Geist der Innerlichkeit erworben hat und es einem noch an starker Nächstenliebe, Sanftmut, Hingabe und am Opfergeist gebricht. Man gibt sich nicht mehr hin und wird damit zum Gegenteil dessen, was man sein sollte. Seht nur unsere alten Patres an: was immer man von ihnen verlangte, sie opferten sich. Sie waren nicht von jenem Geist des Eigennutzes besessen, der bewirkt, dass man sich um sich selbst dreht: „Rührt mich nicht an, lass mich in Ruh!“

Nimmt der Vorgesetzte derlei Verstöße wahr, dann muss er zurechtweisen und zum Leben der Innerlichkeit zurückführen. Die äußeren Verstöße kommen ja aus einer inneren Seelenhaltung. Hält man sich gut mit dem lieben Gott, folgt man treu den Weisungen des Direktoriums, unterlässt man keine vorgeschriebene Übung, vergisst man sich selbst, ist man demütig, dann spiegelt unser Äußeres dieses innere Gesinnung wider. Diogenes suchte einen Menschen mithilfe einer Laterne. Wir dagegen suchen zuerst eine gut leuchtende Laterne: Wo das Direktorium beobachtet wird, die Liebe geübt wird, da ist die Seele erleuchtet und erhellt die ganze Umgebung: dein ganzer Leib ist hell. Im anderen Fall dagegen: der ganze Leib ist dunkel.

Ich verstieße gegen meine sämtlichen Pflichten, würde ich nicht im angegebenen Sinne tadeln. Es ist gar nicht schwierig zu erkennen, wie es um euch steht… Ich schaue einfach durchs Fenster und sehe dann, wie die Lampe brennt…

Natürlich bietet es Schwierigkeiten, diesen inneren Geist stets treu zu pflegen. Dazu bedarf es eines beständigen Verzichtes und großer Wachsamkeit. Kein Regelpunkt darf übersehen werden, und vor aller falscher Freiheit und Unabhängigkeit heißt es sich hüten. Verweilen wir gern in unserem eigenen Inneren, sonst liegt der Leib im Dunkeln. Das Licht erlischt oder qualmt oder gibt nur einen schwachen Schein von sich. Und wir brauchen doch so dringend  hellleuchtende Lampen, damit die Kongregation ihrer hohen Berufung gerecht wird, dass wir an Zahl wachsen und immer dort stehen, wo der liebe Gott uns hin ruft.

Laufen wir aber dem lieben Ich nach, fehlen wir gegen die Liebe, suchen wir uns selber, und fassen wir andere hart an, so herrscht Finsternis in uns, das Licht verlöscht. Das mag vielleicht kein Dauerzustand, mag nicht einmal eine Todsünde sein – es hapert aber am nötigen Öl-Vorrat und an der nötigen Wartung.

Ich weiß, dass ich nicht genug tadle. Ich empfinde einen solchen Widerwillen dagegen, dass ich seiner kaum Herr werde. Wie ich noch als kleiner Junge die Schulbank drückte, fehlte dem alten Schulmeister Vater Simard mitunter die nötige Stimme, um zu schreien. Darum wappnete er sich mit einer Rute von ungewöhnlichen Ausmaßen, womit er die äußersten Ecken des Klassenzimmers abtasten konnte. Eines Tages spürte ich etwas auf mich niedersausen… Was war es? Es war Meister Simards Erziehungslatte, die meinen Redefluss zu meinem Nachbarn hin jäh stoppte. Oh, hätte ich doch eine geistige Rute, um alles abzustellen, was nicht in Ordnung ist! Denn auch ich bin, wie Vater Simard selig, zu alt, um zu schreien…

Statt der langen Zuchtrute in meinen Händen suche jeder in sich selbst jenen Stimulus, jenen Ansporn, um seinen Mut zu beleben und sein Licht zu entfachen. Jeder halte eine gründliche Gewissenserforschung, um festzustellen, ob es nicht mit ihm abwärts geht. Der liebe Gott fehlt uns nie, er ist uns ganz nahe, wenn man ihm die Treue halten will.

„Jedes Mitglied der Genossenschaft kann seinem Oberen außerhalb der Beichte Rechenschaft ablegen über die äußeren Fehler.“

Die römische Kurie hat vor kurzem ein Dekret erlassen über diese Rechenschaft. Es richtet sich an Frauen- und Brüderkongregationen und sieht strenge Maßnahmen vor gegen Versuche, die Offenbarung des Gewissenszustandes außerhalb der Beichte zu erzwingen. Dieses Dekret betrifft uns also nicht, da wir eine Priestergenossenschaft sind. Im Übrigen beruht sie bei uns ohnehin auf freiwilliger Basis. Wenn ich euch aber meine Ansicht sagen darf: Ich halte die Rechenschaft für sehr nützlich, wenn nicht notwendig für die Aufrechterhaltung unseres religiösen Eifers. Gewiss sind wir frei, sie vorzunehmen. Tun wir es aber, so wird uns das sehr wohl bekommen.

„Alle Monate lese man die Satzungen durch, die allgemeinen wie die jedem Amt besonderen.“

All diese kleinen Mittel helfen uns, gute Ordensleute zu werden, unbesiegliche Menschen und echte Heilige. Ohne das wären wir nichts. Wer gegen den letztgenannten Punkt verstoßen hat, klage sich in der Beichte darüber an.

D.s.b.