Kapitel vom 27.05.1891: Über die römische Theologie
Heute wollen wir uns ein bisschen vorstellen, wir seien zu einem Generalkapitel versammelt, denn wir wollen eine wichtige und wesentliche Frage behandeln. Man wirft uns nämlich vor, wir betrieben nicht genug Theologie und seien infolgedessen nicht hinreichend unterrichtet. Ich weiß nicht, inwieweit dieser Vorwurf zutrifft. Mir will indes scheinen: mag auch nicht jeder Pater alle Fragen der Theologie wie im Seminar Schritt für Schritt und systematische durchstudiert haben, so besitzt doch jeder die Gesamtheit aller notwendigen theologischen Kenntnisse.
Mir wäre es jedenfalls nicht recht, würde man mir persönlich diesen Vorwurf machen. Ich hätte mich enorm zur Wehr gesetzt, wenn man mir im Seminar gesagt hätte, ich sei kein Theologe. Nein, das blieb mir erspart, da ich bereits mit 23 ½ Jahren zur Priesterweihe zugelassen und mein Theologieprofessor schon 5-6 Tage später zu mir gesagt hatte: „Ich überlasse Ihnen meinen theologischen Lehrstuhl. Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen, ich bleibe hier und stehe Ihnen zur Seite.“ Ich lehnte das Angebot ab. Es beweist aber, dass ich wenigstens das Zeug zur Theologie besaß. Jedenfalls werde ich nie dulden, dass ein Priester unserer Kongregation sein theologisches Rüstzeug nicht oder nur ungenügend beherrscht. Dass aber die Genossenschaft als Ganzes in den Ruf kommt, in der Gotteswissenschaft nicht bewandert zu sein, werde ich auf keinen Fall dulden. Das wäre auch höchst ungehörig.
Es beweist sich somit als unumgänglich, einen Weg zu finden, dass jeder von uns seine Theologie kennen lerne und sie gut beherrsche. Schon einmal warf man uns in früherer Zeit vor, wir betrieben keine Theologie. Nun haben aber sämtliche Studenten, die wir zu Examen ins Ordinariat geschickt haben, glänzend abgeschnitten. Es gab einen, den ich nicht zur Weihe zulassen wollte, weil er meiner Ansicht nach in der Theologie nicht zur Genüge bewandert war. Der Bischof jedoch, dem ich die Sache vortrug, meinte: „Warum wollen Sie ihn denn nicht weihen lassen? Er kennt seine Theologie besser als meine großen Seminaristen.“ Pater Rollin legte seine Examina in Troyes vor H. Vosley ab, desgleichen Pater Rolland. Noch dieser Tage erwähnte H. Vosley diese Prüfungen, die einen tiefen Eindruck auf ihn gemacht hatten, mit den Worten: „Das waren wahrlich keine schlechten Prüfungen. Solche wird man in absehbarer Zeit nicht überall ablegen…“ Das waren seine eigenen Ausdrücke.
Bleiben wir also bei dieser Tradition. Es besteht kein Zweifel, dass man seine theologischen Studien nicht während acht oder neun Monate Noviziatszeit ebenso gründlich bewältigen kann wie es im Seminar geschieht. Dazu fehlen die Zeit und die Möglichkeiten. Wir haben kein eigentliches Scholastikat mit Rücksicht darauf, dass ein Oblatenleben ein Leben der Hingabe, der Gottvereinigung und der Regeltreue im Geist des hl. Franz v. Sales sein soll. Ein eigenes Scholastikat ist gut, um Gelehrte heranzubilden, nicht aber, um Oblaten zu formen. Das ausschließliche und systematische Studium der Theologie führt vielmehr zu einem persönlich gefärbten, selbstständigen Geist, zu festen Lehrmeinungen in dieser oder jener Frage. Ein Ordensmann, der Theologie berufsmäßig betreibt, ist oft ein Ordensmann, dem etwas abgeht. Wir haben eine andere Methode. Wer bei uns eintritt, beginnt sofort mit dem Studium der Theologie, falls er damit noch nicht begonnen hat, und setzt es fort alle Tage seines Lebens. So wird man darin sattelfest. Das halte ich bei uns für die beste Methode.
Ein Oblatenleben ist ein Leben, das alle Einzelheiten ernst nimmt. Es ist fürderhin ein Leben täglichen Trainings, ein Leben, das auf Vernunft und Treue zum Direktorium gründet. Ein Oblate muss allen Aufgaben und Aufträgen gewachsen sein. Er muss alles übernehmen können und imstande sein, alles auszuführen. Er kommt also nicht aus ohne eine reiche Fülle von Tugenden und Kenntnissen. Darum will ich die Mittel an die Hand geben, zu all diesen Kenntnissen zu gelangen, euch in all diesen Tugenden zu vervollkommnen und die hl. Theologie gründlichst zu erlernen.
Bei unserem Eintritt ins Kloster nehmen wir die theologischen Studien auf und hören damit nicht mehr auf, solange wir leben. Für die Brüder wollen wir ebenfalls einen ins Einzelne gehenden Katechismus vorlegen, worin sie täglich eine Lesung machen werden. Denkt nur an den Bruder Leo vom Oranjefluss, wie er Männern, Frauen und Kindern Katechesen hält. Auch die anderen Brüder können zu ähnlichen Diensten herangezogen werden. Darum müssen sich alle mit Theologie befassen, wie es ihrer Fassungskraft entspricht. Und sie werden es schaffen, weil wir Schritt für Schritt vorangehen.
Wir alle werden uns also Schritt für Schritt die Gesamtheit der Tugenden und Kenntnisse aneignen, die wir nötig haben. Wir stürmen nicht mit Siebenmeilenstiefeln voran. Aus dem Grund machen wir auch keine Dreißigtageexerzitien. Das könnte bei der derzeitigen Körper- und Geistesverfassung der Menschen gefährlich werden. Allzu straff gespannt zerspringt der Bogen. Mit dieser Methode würden wir vielleicht eher Phantasie und Verstand anregen als Herz und Lebenswandel beeinflussen. Unsere Lebensweise hingegen ist ein weiser, maßvoller und vernünftiger Mittelweg.
Unter solchen Bedingungen werden sich die Berufe, die zu uns stoßen, leichter vervollkommnen. Sie werden nicht überreizt und überlastet, machen nur kleine Schritte und ganz allmähliche Fortschritte. Bald aber werden sie über alles Nötige verfügen und mehr noch als das.
In Rom erhielt ich diesbezüglich genaue Anweisungen. Als ich der Propaganda-Kongregation unsere Regeln vorlegte, fragte man uns: „Was sind eure Absichten? Was wollt ihr Neues in Angriff nehmen?“ – „Wir wollen uns ganz und gar auf den Geist und die Lehre des hl. Franz v. Sales stützen.“ – „Ihr werdet uns doch nicht die Lehre des hl. Franz v. Sales zur Approbation vorlegen wollen?! Was wollt ihr mit euren Oblaten?! Haltet uns bloß nicht die Autorität des hl. Franz vor Augen! Wir wollen euch und nicht ihn examinieren. Sagt also, was ihr vorhabt. Erscheint uns dies angemessen, werden wir es billigen, andernfalls nicht.“
Ich unterhielt mich lange mit dem Präfekten der Propaganda-Kongregation. Er war sehr gütig zu mir und sagte mir höchst vernünftige und lichtvolle Dinge. Leider ist er inzwischen gestorben. Für Mutter M. Salesia hegte er eine ungewöhnliche Verehrung. „Lieber Pater“, sagte er mir noch das letzte Mal, wo wir uns trafen, „Sie ahnen gar nicht, welch tiefen Einfluss die Gute Mutter auf die Kirche ausüben wird. Die Ausmaße dieses Einflusses sind gar nicht abzusehen…“
Wir sind keine Dominikaner, Kapuziner oder Jesuiten, sondern Oblaten. Darum müssen auch unsere Kenntnisse auf eine besondere Art und Weise erworben werden. Das Mittel hierzu habe ich soeben genannt. Wir erledigen unser Studium nicht in gedrängter, absolut zusammenhängender Folge. Das würden uns die Umstände gar nicht erlauben, und folglich dürfen wir es auch nicht. Wir gehen stufenweise und ganz allmählich vor und durchsetzen unser ganzes Leben mit Studium. Darum können wir auch nie sagen: Zu diesem oder jenem Zeitpunkt hört mein Studium auf, dann gehe ich zu etwas anderem über. Das also vorausgesetzt, lasst uns keine Zeit verlieren, machen wir uns alle ohne Ausnahme an die Arbeit. Eine gründliche Kenntnis der Theologie ist durch nichts zu ersetzen.
Unser Elementarkurs für Theologie dauert drei Jahre für die Patres. Während dieser Zeitspanne befassen wir uns mit der scholastischen Grundausbildung und werden es so einrichten, dass jeder ohne große Mühe diesem Kurs und diesen Vorlesungen folgen kann. Anschließend wenden wir uns theologischen Spezialstudien zu, der Homiletik, der Seelenführung, und das also während unseres ganzen Lebens.
Der Leiter des theologischen Kurses wird Themen und Fragen vorlegen, die jeder schriftlich zu beantworten hat. Auf diese Weise wird die ganze Genossenschaft an den gleichen Abhandlungen arbeiten, die einen so, die andere so. Während die einen die Grundbegriffe sich aneignen, wenden die anderen diese Prinzipien und Lehren bereits auf die Erfordernisse der Seelsorge oder sonst ein Spezialgebiet an.
Diese Themen werden also von allen bearbeitet. Jeder wird zu diesem Zweck sein eigenes Theologie-Heft führen. Auch unsere Missionare tun das. Hier gilt keine Ausnahme. Wer nicht über die nötige Zeit zu ausführlichen Abhandlungen verfügt, macht es eben kürzer. Auf jeden Fall studiert jeder Theologie und sein Leben lang. Wie viel Zeit soll man diesem Studium widmen? Das muss jeder selber wissen und durch Gehorsam entscheiden lassen. Jeder soll sein Möglichstes tun. Auch ich will keine Ausnahme machen und mein theologisches Heft führen.
Unsere Satzungen schreiben außerdem für jede Woche eine theologische Konferenz vor, bestehen also im Kern auf theologischen Studien. Da sich zurzeit solche Konferenzen bei uns kaum durchführen lassen, ersetzen wir sie durch persönliche theologische Arbeit.
Warum aber schriftliche Arbeiten? Weil ich in Punkto Studien nur an das glaube, was man schwarz auf weiß ausarbeitet. Wir brauchen diesen materiellen Arbeitsnachweis. Jeder führt gewissenhaft sein Studienheft, der Novizenmeister nicht weniger als ich selbst, obwohl ich für die Schulbank wahrlich reichlich alt bin.
D.s.b.
