Kapitel vom 06.05.1891: Über die hl. Tagzeiten – die Aufgaben des Paters
Die hl. Tagzeiten.
Unser Breviergebet sollen wir in frommer Gesinnung und mit Einsicht und Verständnis in den Sinn der hl. Worte beten. In frommer Gesinnung nehmen wir den geistigen Kontakt mit Gott auf und bitten ihn um seine Gnade. Beachten wir wohl die Empfehlungen unseres Direktoriums für das hl. Offizium. Wir opfern dieses Gebet auf für die hl. Kirche, für unsere Ordensgemeinschaft, für unsere Jugendwerke. Betet das Stundengebet aber auch mit Einsicht in seinen tiefen Sinn. Bemüht euch um ein immer tieferes Verständnis seines Inhaltes. Die Psalmen, die Lesungen der hl. Schrift und der Väter, die Lektionen der Heiligen bilden eine wahre Fundgrube guter Gedanken, die wir, sobald wir Zeit haben, in unsere Stoffsammlung aufnehmen wollen.
Von neuem und immer wieder empfehle ich euch die Gewohnheit solch einer Stoffsammlung in Form von losen Blättern in alphabetischer Ordnung. Auf diese überträgt man die kostbaren Gedanken, die man gehört und gelesen hat und die man aufbewahren möchte. Damit haben wir fast keine Zeit verloren und wir erwerben doch einen köstlichen Schatz, ein reiches Archiv von bleibendem Wert. Unter diesem Gesichtspunkt sollten wir die hl. Schrift, die Kirchengeschichte und die Heiligenlegende studieren. Notiert euch die schönen Gedanken, Erleuchtungen und Anmutungen, die euch bei der Lektüre aufsteigen. Im Bedarfsfall brauchen wir dann nur darauf zurückzugreifen. So werdet ihr interessant und nützlich in euren Unterweisungen. Aus der Fülle des eigenen Herzens zu sprechen, führt doch nicht recht weit. Wir brauchen solide Doktrin, feste Substanz. Gründliche Lehre findet sich aber gerade in der Hl. Schrift, in den Werken der Kirchenväter, in der Gotteswissenschaft und in der Kirchengeschichte. Vielleicht ist es auch nicht möglich, ein Spezialstudium dieser Fächer zu betreiben. Betet darum aufmerksam euer Stundengebet, notiert, was euch dabei auffällt und erschließt euch diese reichen Hilfsquellen. Die Benediktiner verwenden große Achtsamkeit auf die Feier des hl. Offiziums. Seht nur, wie bewundernswert alles ist, was sie sagen und schreiben! Viele Ordensleute leben allein von der hl. Liturgie. Selbst die Frauen, die Benediktinerinnen, sagen und schreiben ausgezeichnete Dinge. Ich erlebte da höchst beachtliche Leistungen. Das göttliche Offizium weitet das Herz, erschließt neue Horizonte, ist eine reiche Goldader, die wir leider nicht immer entsprechend auswerten.
Ich will damit nicht sagen, wir sollten aus dem Breviergebet und der hl. Messe ein regelrechtes Studium machen. Es genügt, dass wir auf eine einfache und gottesfürchtige Weise auf die Worte achten, die Erkenntnisse, Erleuchtungen und fromme Empfindungen sammeln, die Gott uns bei diesem oder jenem Wort eingibt. Und das schreiben wir uns dann auf. Es behält so seinen Wert und kann uns und anderen viel nützen.
Bedienen wir uns dafür aber nicht eines festen Heftes, damit euch nicht das gleiche passiert wie mir. Zehnmal habe ich versucht, meine Gedanken in ein Heft zu schreiben, zehnmal habe ich es zerrissen und verbrannt. Diese Gefahr wird vermieden bei losen Blättern. Da finden sich eure guten Gedanken in Gesellschaft gleichgesinnter, und diese Umgebung rettet sie vor dem Untergang. Ohne alle Notizen seid ihr, „arme Gelehrte“, und dreht euch immer im gleichen Gedankenkreis, euch und anderen zum Überdruss. Man kann nicht ständig dasselbe Gericht essen.
Geht es euch nicht ähnlich beim Unterricht? Etwas, was euren Geist überrascht und gefesselt hat, das tragt ihr auch packend euren Schülern vor. Alle hören euch gespannt zu. Den tiefen Eindruck, den ihr selbst empfangen habt, könnt ihr auch andern vermitteln. Liegt hier nicht das Geheimnis jeglicher Beredsamkeit? Dann trägt man auch Wahrheiten auf eine packende, lebendige Weise vor.
Hier ein Beispiel für Erleuchtungen, die uns die Lektüre der hl. Schrift schenken kann: Msgr. de Prilly, Bischof von Chalons, schrieb ein Buch über den Psalm „Beati Immaculati in via“. Hundert bis hundertzwanzig Verse drücken darin ständig den gleichen Gedanken aus. Sein Kommentar ist ein köstliches und reizvolles Betrachtungsbuch. Fromme Pfarrer seiner Epoche benutzten es ihrem größten Nutzen als Betrachtungsstoff. Ein guter Grundsatz lautet: Man soll sich nicht unnötig die Arbeit schwer machen. Die Kirche legt uns das Brevier in die Hand, damit wir daraus Nutzen ziehen: machen wir daraus unsere Rüstkammer, unseren Schatz, aus dem wir jederzeit schöpfen können.
Nehmt euch Zeit, wenn ihr das Brevier und die hl. Messe lest. Dann wird euch klar werden, welch tiefer Lehrgehalt in ihnen steckt. Habt ihr ein paar Worte oder eine kurze Ansprache während der hl. Messe an die Anwesenden zu richten und fehlt euch die Zeit zur Vorbereitung, so wählt einen Gedanken, der euch bei der hl. Messe kommt, z.B. über das Opfer Christi oder über die Heiligen, deren Fest gefeiert wird. Im „Communicantes“ finden sich herrliche Gedanken, wenn man nur ein wenig darüber nachsinnt. Nichts erhebt und ermutigt die Seelen mehr als die schönen und tiefen Gedanken der Gemeinschaft der Heiligen. Wir sprechen Tag für Tag diese Worte aus und achten nicht mehr darauf. Die hl. Messe und das kirchliche Stundengebet sollten uns alles bedeuten. Hier müssen wir unsere Anregungen schöpfen. Beachtet wohl, was unser Hl. Vater, der Papst, tut: Er führt alles auf dieses Grundprinzip zurück. Nach jeder hl. Messe lässt er uns drei „Ave Maria“ und ein „Salve Regina“ beten, nicht um seine persönliche Andacht zur seligen Jungfrau der ganzen Kirche aufzuzwingen, sondern es geht ihm darum, die Werke Satans zunichte zu machen. Dabei bedient er sich ganz einfach dessen, was jeder versteht, kennt und liebt, um die Anstrengungen der Gesamtkirche gegen den Teufel zu mobilisieren. Er nimmt also, was er in Händen hat und was in der Macht eines jeden liegt. So müssen auch wir es machen.
Ich wiederhole: Was uns während des mündlichen oder inneren Gebetes, während des Stundengebetes oder der hl. Messe in den Sinn kommt, sind Erleuchtungen, die es zu sammeln gilt: flüssiges Gold, das Wärme und Leben ausstrahlt und alle jene bereichert, denen wir es weitergeben.
Unsere Brüder beten stattdessen ihre Vater Unser und Ave Maria. Auch sie mögen treu die Gedanken des Direktoriums benutzen, die uns der hl. Franz v. Sales empfiehlt. Ihre Vaterunser sollen sie in der Gemeinschaft ihrer hl. Schutzengel und Schutzpatrone sowie der Guten Mutter beten. Dann fühlt man sich gestützt, und es stellen sich sicher schöne und heilige Gedanken ein. Auch sie mögen ihre Stoffsammlung anlegen, in die sie das Wort Gottes eintragen, das sie innerlich berührt hat. Das kann ihnen nur Nutzen bringen. Man sieht diese Gedanken später wieder durch und gewinnt neue Anregungen. Denn unsere Brüder sind beileibe nicht nur für die Handarbeit geschaffen. Es ist durchaus möglich, dass auch sie Katechismusunterricht erteilen wie unsere Brüder in Süd-Afrika, die fast ebenso viel Einfluss ausüben wie die Patres. Mögen sie vielleicht über weniger theologisches Fachwissen verfügen. Dafür lassen sie sich leichter auf das geistige Niveau mancher Menschen herab, sprechen besser ihre Sprache, verstehen und widerlegen treffender ihre Einwände.
Wir dürfen darum die Gaben Gottes nicht gering achten. Denkt an das Vater Unser des frommen Fuhrmanns und an alles, was Gott ihm dafür geschenkt hat. Gottes inneres Licht kommt zu uns durch das Gebet und die Sakramente. Die Sakramente können wir nicht täglich und den ganzen Tag über empfangen. Da bleibt uns als gewöhnliches und häufigstes Mittel, mit Gott in Kontakt zu treten, nur das Gebet. Die Eingebungen des Hl. Geistes werden uns also durch das Gebet zuteil.
Lieben wir also unser Breviergebet und beten wir es mit wachen und frommen Herzen. Es wird zu unserer Seele sprechen, unseren Geist nähren und uns neue Erkenntnisse vermitteln. Lieben wir aber auch das Offizium der Vater Unser und Ave Maria, das uns der hl. Stifter geschenkt hat. Verbreiten und lehren wir es auch andere. Es soll übrigens auch das Pflichtgebet der Mitglieder des Franz-v.-Sales-Bundes werden.
Wir sind dermaßen mit Arbeit überhäuft, zerstreut und hin- und hergerissen, dass wir, wenn wir nicht sehr Acht geben, fast nichts mehr haben, worauf wir uns stützen können. Lieben wir darum herzlich unser Breviergebet und verrichten wir es im Geist des Direktoriums mit Gottesfurcht und Glaubensgeist. Es soll unsere Stütze und unser Trost sein. In ihm schöpfen wir frohen Mut und geistige Erhebung. Unser Leben wird nicht ausgetrocknet, vereinsamt und losgelöst von unserem Herrn verlaufen. Er wird uns nicht als Waisen zurücklassen.
D.s.b.
