Kapitelvorträge für die Oblaten 1873-1899

      

Kapitel vom 22.04.1891: Über die Gute Meinung

3. Artikel: Die gute Meinung. „Der Oblate, der im Guten zunehmen und auf dem Weg unseres Herrn vorankommen will, muss zu Beginn all seiner Handlungen… um die Gnade Gottes bitten…“

Dieser Artikel ist die Substanz des Evangeliums. Er lehrt uns auf ganz praktische Weise, unseren Verstand und Willen mit Gott zu vereinigen, nicht nur in allgemeinen und vagen Ausdrücken, sondern bei den ganz konkreten Gelegenheiten des Alltags. So machen wir das Wort des Apostels wahr: „Ihr möget essen oder trinken oder sonst etwas tun, tut alles zur Ehre Gottes!“ Verbindet euch also bei jeder Handlung mit unserem Herrn Jesus Christus. Ihr könnt feststellen, wie alles in unserer Regel darauf abzielt, diesen Zustand herbeizuführen, ihn zu einer festen Gewohnheit zu machen. Nichts in unserem geistlichen Leben bleibt davon ausgeschlossen. Alle Bedingungen und Umstände unseres Alltags, jede Lebenslage muss einbezogen werden in diesen Heiligungsprozess, der darin besteht, dass wir unseren Willen unablässig mit dem göttlichen verbinden, indem wir in jedem Leid, bei jeder Prüfung alle Tugendakte vollbringen, die Gott von uns fordert. Die Art und Weise, wie wir die Vereinigung vollziehen, ist zweitrangig. Entscheidend ist, dass es durch das Kreuz, durch den Verzicht auf unseren eigenen Willen und unser eigenes Denken geschieht, und wir an deren Stelle den Willen und den Gedanken Gottes setzen. Darauf kommt es an.

Mit Recht sagt unser hl. Gründer: Wenn wir im Guten zunehmen und auf dem Weg unseres Herrn vorankommen wollen, müssen wir uns in all unseren Handlungen, den inneren wie den äußeren, mit Gott vereinigen: in unseren Gedanken und Gebeten, Studien wie Betrachtungen, körperlichen wie geistigen Arbeiten. Erweisen wir uns hierin besonders dann treu, wenn wir von einer Arbeit zur anderen, von einem Gedankenkreis zum anderen übergehen. Das muss uns eine feste Gewohnheit werden. Macht man sich mit ehrlichem Willen ans Werk, kommt es ganz von selbst zu dieser Gewohnheit. Suchen wir dafür nicht lange anderswo: Unser Herr steht ganz nahe bei uns. Bitten wir ihn ganz einfach um die Gnade, das, was wir mit unserem Verstand oder unserer Muskelkraft gerade zu tun haben, wie es sich gehört zu vollbringen. Dann vermeiden wir alle Selbsttäuschungen des Eigenwillens und führen auch die anderen auf sicheren und festen Pfad. Erbitten wir von Gott eine geschickte Hand für unsere Unternehmungen, um unseren Auftrag zum erwünschten Ziel zu führen, und schenken wir dann alle diese Handlungen dem lieben Gott. Tun wir grundsätzlich nichts für uns selbst, sondern alles für ihn und nehmen wir im Voraus das Kreuz an, das mit jeder Arbeit verbunden ist.

Gefällt uns eine Arbeit, dann lässt Gott sicherlich eine Verdrießlichkeit zu, die der Arbeit entweder selbst innewohnt oder von einer äußeren Tatsache herrührt. Gerade das verleiht aber unserem Tun den Segen, das Verdienst und die Würde. Denn Gott lässt nicht zu, dass unser Leben fade und charakterlos verläuft. Sagen wir darum nie: „Jetzt reicht es mir!“ und noch weniger: „Das ist mir zu viel!“ Denn wüsste Gott etwas anderes, was uns größeren Nutzen einbrächte, er gäbe es uns. Starkmütig und ergeben sollen wir zu seinen Anordnungen und Zulassungen ja sagen. Nie werden uns seine Hilfe und Gnade fehlen, um die mit unseren Arbeiten verbundenen Mühen und Abtötungen auch tragen zu können. „So bereitet er sich vor, alle Mühe und Abtötung, die seiner warten, anzunehmen“, sagt das Direktorium. Die Mühe drückt uns nieder, die Abtötung noch mehr. Denn Abtötung heißt Demütigung, heißt Kränkung. Tragen wir diese Mühen und Abtötungen aus der Hand des himmlischen Vaters als Beweis seiner Liebe entgegen.

Gerade durch diesen kleinen Artikel hat sich die Gute Mutter am meisten geheiligt. Welches Ereignis, welche Heimsuchung auch immer sie oder ihre Gemeinde traf, immer wahrte sie den Frieden der Seele und die Sanftmut des Geistes. Darin gründete ihre große Heiligkeit. Sie nahm alles ohne Ausnahme mit Danksagung und Erkenntlichkeit an. Das war ihr Geheimnis. Damit kann man auf alles Suchen nach anderen und außerordentlichen Dingen verzichten. Das allein liefert uns das nötige Material, um unser geistliches Gebäude aufzubauen, die Wertpapiere, um unseren (geistlichen) Handel zu betreiben. In unseren Händen liegen damit alle Bausteine der Heiligkeit, ja der höchsten Heiligkeit, jener die Gott selbst für uns ausgesucht hat. Wenn wir diesen Weg gut verstehen und gehen, zeichnet sich unser Leben und Voranschreiten durch Weisheit, Stärke und Sicherheit aus. Der himmlische Vater wird uns nichts versagen, sondern alles Nötige als Beweis seiner besonderen Zuneigung mitteilen. Diese unsere willige Annahme der göttlichen Anordnungen ist aber in sich bereits Zeichen und Beweis, dass wir mit Gott vereinigt sind. Handeln wir in diesem Sinn, dann gibt es keinen Zweifel, dass wir unser Lebensschiff sicher dem Hafen der Heiligkeit zusteuern.

Gott belohnt durch das Geschenk seiner Liebe jene, die sich in dieser Übung treu erweisen. Er teilt ihnen so reichlich mit, dass sie auch an andere austeilen können. Es vollzieht sich dann so etwas wie eine „Kommunion“, in der Gott mit uns gleichsam zu einem einzigen Wesen verschmilzt. Darin liegt unsere geheimnisvolle Stärke. Nach diesem Maß muss man uns Oblaten messen. Darum sollten wir gerade diesen Artikel zu unserer Vorzugsübung machen.

Der Artikel von der guten Meinung wird uns sehr erleichtert, wenn wir – ohne dass wir aufhören, Gott angenehm zu sein – aus seiner Hand nicht nur das Unangenehme, die Kreuze und Leiden annehmen, sondern auch alles Angenehme, Essen und Trinken, Erholung und Festefeiern. Freuen wir uns auch darüber, und sehen wir in diesen kleinen Befriedigungen den Willen Gottes, dem wir ohne Einschränkung zustimmen und auf dessen Absichten wir eingehen.
Da fällt mir ein Brief ein, den mir einst Graf Mallet ins Seminar schrieb: „Verrichten Sie nicht alle möglichen Übungen“, riet er mir darin. „Eine einzige genügt: Sagen Sie ja zu allem, was Gott von Ihnen verlangt. Dann werden Sie ein Priester nach seinem Herzen.“

In der Tat, diese Vereinigung unseres Willens mit dem göttlichen Willen gibt uns unablässig Gelegenheit, alle Tugenden zu betätigen. Da erübrigt sich alles eigene Herumsuchen und Erfinden. Denn hier finden wir Gott in den unbedeutendsten Dingen. Gibt es etwas, was uns schneller heiligen könnte? Jeder möge diese Gnade für sich wie für die anderen erbitten! Wir stehen in der österlichen Zeit. Das ist die hohe Zeit der religiösen Menschen. Immer wieder erscheint hier unser Herr den Aposteln und Jüngern. Es sind Besuche der Liebe, Besuche des Herzens, die in ihren Seelen die heilsamsten Wirkungen hervorbringen. Der hl. Thomas wird im Glauben bestärkt, die Apostel außerordentlich getröstet. Unser Herr erteilt ihnen jetzt die Vollmacht, die Fesseln der Sünde zu lösen und zu binden. Er sagt ihnen die Schicksale der Kirche voraus, hält ihnen alles mit größerer Deutlichkeit und Liebe als je zuvor. Er isst mit ihnen, und während vorher nur von Broten und Fischen die Rede war, die er in der Wüste mit ihnen teilte, verschmäht er jetzt nicht leckere Honigwabe am Ufer des Sees Genezareth. Nutzen darum auch wir die österliche Gnadenzeit und üben wir uns noch intensiver in diesem Einklang unseres Willens und Planens mit dem göttlichen durch die gute Meinung.

Gewiss, alles, was äußerlich messbar und sichtbar ist, hat seinen Wert: Eifer, Apostolat, Opfer, Blutzeugnis. Die gute Meinung aber ist noch umfassender und umschließt alles eben Genannte. Hier schöpfen wir die Kraft, alles zu tragen, alles zu vollbringen und den Grad von Heiligkeit zu erreichen, den Gott uns zugedacht hat. Heiligen wir uns also hienieden diese Weise, damit wir drüben einmal verherrlicht werden.

D.s.b.