Kapitel vom 18.02.1891: Über das Leben im Verein mit Gott
Wir nehmen heute die unterbrochene Erklärung unseres Direktoriums wieder auf.
Die Satzungen bilden den Rahmen und die Schale unseres Ordenslebens, das Direktorium aber seinen Kern, seine Seele. Lernt man das Direktorium zum ersten Mal kennen, hat man den Eindruck, es sei etwas völlig Unbedeutendes. Noch einen anderen Einwand kann man dagegen hören: Dieses Büchlein könne uns wohl als Stütze und Hilfe nutzen, sei aber in keiner Weise verpflichtend.
Dagegen möchte ich in aller Klarheit feststellen: Das Direktorium verpflichtet die Oblaten sogar sehr, weil es ihnen den Oblatenstempel aufprägt. Ohne Direktorium kein Oblate! Um zum Kern des Oblatenlebens vorzustoßen, muss man das Direktorium üben. Über die Verstöße gegen dieses Büchlein müssen wir uns in der Beichte anklagen. Sagen wir nicht, das Direktorium biete keinen sonderlichen Lehrinhalt. Überlegen wir doch, wie selbst die größten Dinge sich äußerlich oft unansehnlich und nichtig ausnehmen. Was gibt es nach unserem Herrn größeres als die seligste Jungfrau Maria? Und doch: welche Bücher hat sie geschrieben, welche Leistungen vollbracht? In den Augen der Menschen keine. Es gibt da fromme Frauen, die das Leben der allerseligsten Jungfrau mit zahlreichen Wundern und Großtaten ausgeschmückt haben. Solchen Privatoffenbarungen sollen wir nur einen beschränkten Glauben beimessen. Nach dem Text des Evangeliums wie nach der Meinung der hl. Kirche hat die seligste Jungfrau eine durchaus gewöhnliche Lebensweise geführt. Doch in diesem unauffälligen Rahmen war ihr Leben geprägt und gezeichnet von einer solchen Gottesliebe, die es hoch über alle Kreatur hinaushob. Dass ihr Leben voll außerordentlicher und wundersamer Begebenheiten steckte, können wir nicht annehmen, mögen auch die selige Katharina Emmerich und andere das Gegenteil behaupten. Dass aber ihr Leben ein ununterbrochener und vollkommener Akt reinster Gottesliebe war, steht außer Zweifel. Und gerade darin liegt die Größe und Verdienstlichkeit ihres Lebens. Gewiss ist das Direktorium nur ein kleines Büchlein. Aber was ist schon das Evangelium? Ist es nicht eins der kleinsten Bücher und schließt doch das ganze Christentum ein und all seine Großtaten, alles, was die Welt umgestaltet und gerettet hat. Nichts Größeres und Ungewöhnlicheres hat Gott auf Erden vollbracht als dieses.
Auch das Direktorium hat in der Welt trotz seines unscheinbaren Äußeren eine gewaltige und unvergleichliche Wirkung hervorgebracht und bringt sie noch ständig hervor. Wir sollen darum die Boten und Künder dieses Leitfadens für die täglichen Handlungen werden, sollen ihn erst selbst praktizieren, um ihn dann auch anderen zu lehren. Andere Heiligungsmittel mögen vortrefflich sein, wie auch unser hl. Gründer zugibt, dieses aber ist das wirksamste und bekömmlichste für uns.
Das Direktorium ist in Wahrheit unser Eigengut. Wie eifrig wurde es doch in den Gründerjahren der Heimsuchung, zu Lebzeiten der hl. Mutter Chantal, geübt. Danach geriet es in nicht wenigen Klöstern in Vergessenheit. Auch in Troyes wurde es vor der Ankunft der Guten Mutter Maria Salesia Chappuis nicht mehr beobachtet. Als ich den Dienst in der Heimsuchung antrat, machte ich H. Chevalier gegenüber die Bemerkung: „Welche Haltung ist dem Direktorium gegenüber einzunehmen? Die Meinungen gehen auseinander… Die einen halten es für verpflichtend, die andern nicht…“ Zu guter Letzt dachten aber alle wie die Gute Mutter, und die Früchte zeigten sich bald: die Heiligkeit der ganzen Gemeinde erblühte auf diesem Fundament. Wie viele heiligmäßige Seelen habe ich aus dieser Kommunität hervor wachsen sehen! Und allerorten kommt dank der Guten Mutter und der Oblaten dieses Büchlein wieder zu Ehren. Wir dürfen es also zu Recht als unser Sondergut betrachten, weil wir es wieder in Übung gebracht haben.
Gewiss nimmt es sich sehr unscheinbar aus. Ist es mit der Regel des hl. Augustinus etwas anders? Betrachtet aber deren tiefe Lehrweisheit, ihre weitgespannte Gesetzgebung, die keine starren Grenzen kennt und stärkste Wirkungen hervorzubringen vermag – und sie hat solche tatsächlich hervorgebracht. So vielen und so verschiedenartigen Orden hat sie als Gesetzesgrundlage gedient! Pater von Mayerhoffen hat in Paris eine fromme Vereinigung von Christen gegründet, die das Direktorium üben. Pater Bony schreibt mir, wie sehr ihn diese Gemeinschaft beeindruckt und erbaut hat und zu welchen Hoffnungen sie für die Zukunft berechtigt.
1. Art.: Ziel und Streben der Oblaten. „Das Ziel seines ganzen Lebens und all seines Tuns sei die Vereinigung mit Gott.“
Unser ganzes Leben mit all seinen Akten und Übungen, ja selbst unser Atemholen, unsere Arbeiten, Gebete und Mühen müssen vom Gedanken an dieses Einswerden mit Gott geleitet werden. Er muss wie eine feste Gewohnheit unser ganzes Tun und Lassen erleuchten. Wie die Gute Mutter nichts tat und sagte, ohne zuerst den lieben Gott zu befragen, so sollen auch wir bei jedem Akt des Gehorsams, eines Regelpunktes, oder einer Amtspflicht Gott zu Rate ziehen. Und Gott wird uns klar und deutlich antworten.
Machen wir es also zum Ziel unseres Lebens und unseres ganzen Tuns, in ständiger Verbindung mit Gott zu verharren, um durch Gebet, Arbeit und gutes Beispiel der Kirche zu nützen und den Nächsten zu retten.
Beten sollen wir für das Heil des Nächsten, für jene, die Gott treu dienen, für alle, die unserer Sorge anvertraut sind, für unsere Schüler, unsere Kinder, die Seelen, deren Seelenführer wir sind und die auf dem guten Weg voranschreiten. Beten müssen wir schließlich auch für die Sünder.
Das gute Beispiel darf dabei natürlich nicht fehlen. Sobald wir in einer Gemeinschaft leben, haben wir Lasten und Mühsale zu tragen. Soll uns daraus gar kein Vorteil, keine Wohltat zukommen? Einer der kostbarsten Vorteile des Gemeinschaftslebens ist gerade das gute Beispiel der Mitbrüder. Ging es unserem hl. Stifter im Tiefsten nicht darum, das Reich Gottes weiter auszubreiten und ihm unablässig neue Seele zuzuführen? Durch unser ganzes Leben, durch die Erfüllung unserer Berufspflichten und der klösterlichen Tugenden sollen wir also für Gott und die hl. Kirche gläubige Menschen gewinnen und sie in der Erfüllung der allgemeinen Christenpflichten bestärken.
In dieser Fastenzeit möge es unser Hauptanliegen sein, diesen kleinen Abschnitt des Direktoriums in die Tat umsetzen. Er ist so kurz, aber weitgespannt und tief. Geben wir acht auf uns, dass wir uns treu erweisen in den guten Gedanken des Stillschweigens, treu beim Stundenschlag und den Gedanken an den Tod, treu also gegenüber dem Direktorium. Wer studiert, kann natürlich nicht so oft seine Arbeit unterbrechen, um Stoßgebete zu erwecken, wie jene, die mit ihren Händen arbeiten. Das ist der große Vorteil der Handarbeit.
Während der Fastenzeit wird man gewöhnlich von mehr Versuchungen geplagt als zu den anderen Zeiten. Denken wir da an die Versuchungen unseres Herrn. Wir sind seine Jünger und treten in seine Fußstapfen. Nehmen wir da gleich zum Gebet unsere Zuflucht und sagen wir dem Herrgott so recht aus dem Herzen: „Ich will dir treu bleiben. Alles Schlechte, das ich in mir trage, übergebe ich dir.“ Versenken wir so unsere ganze Seele in Gott, dass er sich unser erbarme. Die Augenblicke, die wir in solch inneren Kämpfen verbringen, werden uns viel größeren Nutzen einbringen als wenn Friede und Ruhe darin herrschten.
D.s.b.
