Kapitel vom 25.02.1891: Über die „besonderen Wünsche“
„1. Wunsch: Das Band der Liebe sei der demütige Ruhm der Oblaten des hl. Franz von Sales.“
Franz von Sales setzte diese Zeilen an den Anfang seines Direktoriums, um den grundlegenden Charakter aufzuzeigen, den die Liebe in unseren Absichten einnehmen soll, und die hohe Wertschätzung, die wir ihr entgegenbringen sollen. Als er diesen Artikel schrieb, hatte er seine Schwestern noch nicht zu den drei Gelübden verpflichtet. Die Grundidee, die ihn dabei leitete, war, eine Kongregation zu gründen ohne Gelübde, nur mit dem einfachen Versprechen der schwesterlichen Liebe. Er war ein großer Neuerer und hat die Kirche mit einer Doktrin bereichert, die von seinem genialen Geist Zeugnis ablegt und darüber hinaus weite Horizonte eröffnet. Warum traf er auf so viele Widersprüche und Schwierigkeiten? Weil man spürte, dass er nicht in den gewohnten, alten Geleisen dahin schritt, und er selbst versichert, seine Gedanken seien nicht seinem eigenen Kopf entsprungen, sondern würden ihm vom Hl. Geist eingegeben.
Indem der hl. Stifter seinen Orden auf dem Fundament der Liebe aufbaute, zog er den Schluss, man gelange zur klösterlichen Vollkommenheit eben auf dem Weg zur brüderlichen Liebe. Die Liebe deckt eine Menge von Sünden zu. Bringt die Nächstenliebe aber weniger Früchte hervor als die Gottesliebe? Was man aus Liebe zu Gott tut, zieht uns unfehlbar die Verzeihung unserer Sünden zu. Denn Gottesliebe bedeutet radikale Vernichtung der Sünde. Aber auch der Nächstenliebe vermag die Sünde nicht zu widerstehen. Gerade die brüderliche Liebe macht den Glanz und die Schönheit des Ordensstandes aus, bildet sein Glück und seine Seligkeit. Die Opfer und Mühen, die aus der Liebe wachsen, werden reichlich aufgewogen durch die Freuden, die sie uns schenkt, aufgewogen auch durch die Verdrießlichkeit, die sie uns erspart. Hält man das Gebot der Liebe vollkommen, so gibt uns Gott in vollem Umfang alles, wessen wir bedürfen, um unseren sämtlichen Verpflichtungen gerecht zu werden.
Wie schön wäre es, wenn wir alle in dieser Fastenzeit das Gelübde der Nächstenliebe ablegten! Die Erfüllung dieses Gebotes ist allerdings in erster Linie eine Übung der Abtötung. Es heißt da, seinen Geschmack, seine Neigungen und Ideen zum Opfer zu bringen.
Wenn ihr fastet, tötet ihr bloß euren Magen und eure Gaumenlust ab. Seid ihr aber rücksichtsvoll und zuvorkommend gegen die Mitbrüder, dann tötet ihr euer ganzes Ich ab. Es ist das ununterbrochene Opfer, zugleich das Brandopfer, das uns ganz Gott ausliefert.
Bemühen wir uns also in dieser Fastenzeit mit Vorzug um die brüderliche Liebe. Ihre guten Auswirkungen beschränken sich nicht nur auf unser eigenes Seelenleben, sondern kommen auch den anderen zugute. „Seht nur, wie sie einander lieben!“ Was man den ersten Christen nachrühmte, muss auch zu unserem unterscheidenden Merkmal werden: ein Herz und Seele! Die Liebe muss uns dahin bringen, dass wir alle in gleicher Weise sehen und urteilen, denn darin liegt unsere größte Stärke. Auf diesem Weg wird es uns keine Mühe machen, in jedem Augenblick der Stimme der Vernunft zu folgen. Unsere Grundsätze sind dann nicht auf „Gut Glück“ gefasst. Wir bauen nicht auf flüchtigen Sand. Unser ganzes Wesen wird Geradheit, Einfachheit und Ordnung atmen.
Jene, die nach dem Rat des Direktoriums in der Tugend voranschreiten wollen, mögen also in diesen Fastenwochen mit Nachdruck die Liebe üben. Jeder kleine Akt der Rücksichtnahme und Zuvorkommenheit bringt uns ein gutes Stück voran. Die brüderliche Liebe ist zweifellos der beste Weg zu Gott, insofern er keinerlei Selbsttäuschung zulässt, während man sogar in der Gottesliebe Illusionen erliegen kann. Außerdem hat sie der Herr sein „Hauptgebot“ genannt.
Also unser hl. Gründer seine Schwestern durch das Band der gleichen Liebe vereint sah, stimmte er vor Freude einen Dankeshymnus an: „Wer wird mir, o Gott, so viel Gnade erwirken, dass der Allmächtige auf mein Flehen höre und selbst dieses Buch schreibt?“
„Dieses Buch“ ist das Namensverzeichnis der Patres und der Brüder. „Mit jedem Aufschwung meines Geistes zu dir will ich wie ein Freudenlied und einen Lobgesang die Namen derer nennen, die in dieses Buch eingetragen sind.“
Das ist eine formelle Verheißung unseres hl. Gründers, die sich auf uns erstreckt, wenn wir treu erfunden werden. Schwester Maria-Genofeva sagte, sie sehe den hl. Stifter vor dem Thron Gottes eifrig beschäftigt, die Sendung zu erfüllen, die ihm von Gott für die ganze Welt übertragen hat. Haben wir also Vertrauen! Wenn wir trachten, ihm die Treue zu halten, wird er uns auch nicht vor dem Throne Gottes vergessen.
„Und wie einen duftenden Blumenstrauß werde ich diese Buchrolle deiner göttlichen Vorsehung anbieten.“
Mit „Rolle“ meint er natürlich die Papierrolle oder Namensliste der Oblaten. Ich lege, liebe Freunde, besonderen Nachdruck auf die einzigartige Gnade, dass wir gerade auf diesem Weg zu Gott gehen dürfen. Der hl. Gründer verlangt Beharrlichkeit, und wir brauchen in der Tat Mut, viel Mut, (Anm.: „d.h. auch: Begeisterung, Leidenschaft.“). Er empfiehlt uns ein Mittel, um zu dieser Beharrlichkeit zu gelangen: Jeden Tag von vorne beginnen. Ihr habt einen Fehler begangen: „Verzeih mir, Herr, ich will einen neuen Anlauf nehmen, will es besser machen. Vergangen ist vergangen. Wir übergeben es der Barmherzigkeit Gottes und geben uns nicht mehr damit ab. Das ist ein vortreffliches Mittel, um sich vor Verzagtheit zu bewahren und ständig voranzuschreiten.
„Meine lieben Brüder, meine teuren und vielgeliebten Söhne, meine Freude und Krone, so steht denn fest im Herrn! Söhne himmlischer Unterredungen, ich bitte euch, ja ich beschwöre euch: Seid alle beseelt von der einen gleichen Liebe und seid einig untereinander – gemäß eurer gemeinsamen Berufung in Jesus Christus, unserem Herrn und seiner Mutter, unserer Lieben Frau. Amen.“
Unser hl. Gründer verlangt hier mit der ganzen Glut seines Herzens, die Seelen seiner Söhne möchten unablässig in der Einheit der Herzen, in der Regeltreue, in der Beharrlichkeit ihres guten Willens aushalten. Wir tun gut daran, diese Worte tief in uns aufzunehmen und sie oft zu betrachten. Sie drücken alles aus, was unsere Berufung an Gutem, Auszeichnendem, an Glück und Sicherheit umschließt. Für uns liegt darin alles, denn Gott ist die Liebe. Wenn wir uns gegenseitig lieben, dann lieben wir auch unseren Beruf, unsere Standespflichten, unsere Aufträge, und nähren uns, wie der hl. Johannes sich ausdrückt, vom Leben der Liebe: Wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm.
Beten wir um die Nächstenliebe! Beten wir darum, dass wir in Gott verbleiben und er in uns. Darin liegt unsere Doktrin, der Glaube, der uns nähren soll. Ob wir gehen oder kommen, bei jedem Zwischenfall und jeder Gelegenheit sagen wir dem lieben Gott ein kleines Wort. Dann werden wir in jedem Augenblick die nötige Hilfe bekommen. Jeder braucht diese Hilfe, besonders während der Fastenzeit, der Zeit größerer Versuchungen. Während dieser Gnadenzeit kommen jedes Jahr besondere Schwierigkeiten über uns, da haben wir mehr zu leiden und zu ertragen. Bitten wir den lieben Gott, der da etwas mehr Dornen auf unseren Weg streut, er möge uns wappnen und stärken gegen all diese Prüfungen.
Mir scheint es ratsam, auf diese Schwierigkeiten und Versuchungen der Fastenzeit öfter zurückzukommen. Unser lieber Herr hat uns selbst die Versuchung in großen Zügen vorgezeichnet, als er sich in der Wüste selber ihnen aussetzte. Er ließ sie ja vor allem zu unserer Belehrung zu.
Die Versuchung kann jede beliebige Gestalt annehmen: Man kann zum Stolz, zur Unkeuschheit, zur Mutlosigkeit, zur Liebe oder zum Hass versucht werden. Jeder hat seine individuelle Versuchung, die gerade während der Fastenzeit an Intensität zunimmt. Außer eigentlichen Versuchungen peinigen uns da mit Gottes Erlaubnis noch andere Zufälligkeiten. Der Dämon der großen Versuchungen denkt da mit Wonne an die Stunde zurück, wo er unseren Herrn selbst versuchen durfte. Da schlägt für ihn wieder die große Stunde. Er verdoppelt seine Anstrengungen. Wundern wir uns nicht, wenn die klösterliche Treue uns jetzt schwerer fällt als zu anderer Zeit. Zwingen wir uns darum jetzt mehr als sonst zu großer Treue, damit die Versuchung nicht die Oberhand gewinne über uns. Wir Ordensleute sind da in einer schlimmeren Lage als die Weltleute, die weniger versucht werden als wir. Um uns gegen die Versuchungen der Fastenzeit zu stärken, hat die Kirche Fasten und Abstinenz vorgeschrieben. Nehmen wir darum die Buße ernst und tun wir in dieser Hinsicht, was wir vermögen. Wachen wir strenger über uns und beobachten unsere Worte, unsere Gaumenlust, und unseren Schlaf…
Ich empfehle besonders die Treue in der Abtötung bei Tisch während dieser vierzig Tage. Der liebe Gott schickt uns sicher während dieser Wochen etwas Schwereres, vielleicht einen Zwischenfall, der uns arg zu schaffen macht. Windet daraus einen geistlichen Blumenstrauß, wie der hl. Bernhard zu sagen pflegte, einen Myrrhenbüschel, das ihr auf euer Herz legt: Das sind dann Kreuz, Dornen, Lanze und Nägel unseres Herrn, die er für uns bestimmt. Wir alle müssen diesen Weg gehen, anderenfalls bliebe unser Mühen ohne Frucht, wir blieben Nullen.
Ich empfehle den Gebeten der Kommunität herzlich den Herrn Cardot, den ein plötzlicher Tod hinwegraffte. Er war einer unserer großen Freunde und ein heiligmäßiger Priester. Für uns und die ganze Diözese bedeutet sein Hingang einen herben Verlust. Er hatte einen Glauben, der Berge versetzt, und einen hohen Mut. Ich fragte ihn einmal, warum er so stark an uns Oblaten hänge. Seine Antwort: „Weil Sie, Herr Pater, Schuld sind an allem, was ich unternommen habe, und insbesondere an meiner großen Andacht zum hl. Josef. Als junger Priester wollte ich einmal Exerzitien machen und fragte Sie, wo ich sie machen solle, in Paris, bei den Dominikanern oder Jesuiten. Sie rieten mir: Gehen Sie nicht dorthin, im Augenblick brauchen Sie keine großen Anleitungen zum Betrachten. Gehen Sie zur Chartreuse, zu Pater Retournat. Teilen Sie ihm meinen Wunsch mit, er möge sich Ihrer Seele annehmen. Das wird Ihnen guttun. Ich ging also zur Kartause von Bosserville. P. Retournat erwies mir große Freundlichkeit. Am Schluss der Exerzitien sagt er zu mir: ‚Ich habe für Sie gebetet und über Sie nachgedacht, und kann Ihnen nun versichern, dass Sie etwas zur Förderung der Andacht zum hl. Josef tun müssen, wenn Sie etwas Gutes in Ihrer Pfarrei wirken wollen. Tun Sie alles, was der hl. Josef Ihnen eingeben wird, und Sie werden Erfolge zu verzeichnen haben. Sie werden sich selbst und Ihre Pfarrkinder heiligen.‘ – Ich folgte seinem Rat, errichtete einen Wallfahrtsort zu Ehren des hl. Nährvaters, will eine Kapelle in dieser Absicht bauen und habe den Turm bereits fertig. Sehen Sie nun, warum ich aus dankbarer Liebe so innigen Anteil an Ihren Jugendwerken nehme?“ Ich erinnere mich einer Pfarrversammlung, in der man ihn mit Vorwürfen überhäufte, weil er ohne hinreichende Garantien einfach zu bauen beginne. Man hielt es für notwendig, ihn deswegen heftig zu tadeln. „Herr Pfarrer“, sagte man, „Sie stürzen sich in Unternehmungen, ohne zu wissen, wie es weitergehen soll?“ – „Ihr seid ganz und gar nicht im Bilde“, entgegnete er. „Ich verfüge durchaus über die nötigen Bürgschaften. Ich las im Leben der Heiligen, im Leben des hl. Kolumban z.B., dass er manchmal danebengriff, weil er kein glückliches Urteil hatte. Und weil er sich deshalb selber sehr misstraute, habe er ständig zu Gott gesagt: ‚Lieber Gott, wenn ich mich selber mit meinem Urteil in diese Sache mische, geht es bestimmt schief.‘ Darum hatte er es sich zur Gewohnheit gemacht, bei allen Unternehmungen zwei bis drei Kinder beten zu lassen, dass er Gottes Willen in dieser Sache erkenne, und ist immer erhört worden. Ich habe das Gleiche getan. Ich hatte zwei sehr fromme Messdiener von sechs und sieben Jahren. Die nahm ich bei der Hand, führte sie zum Muttergottesaltar und sagte ihnen, sie sollten den lieben Gott fragen, ob dies sein Wille sei. Während sie beteten, glaubte ich zu spüren, dass ich erhört bin. Und tatsächlich trafen nach einigen Tagen die Geldsummen ein, die ich benötigte, und noch einiges Geld dazu, mit dem ich gar nicht gerechnet hatte. Diese Art, zu Gott zu beten, und der Erfolg haben mich ermutigt, und immer, wenn ich etwas Schwieriges plane, lasse ich meine Messdiener beten.“
Für diesen guten Pfarrer von Villeneuve wollen wir also beten. Jeder Pater lese eine hl. Messe für seine Seelenruhe und alle opfern die hl. Kommunion auf.
Entschuldigt, liebe Freunde, wenn ich so häufig auf die gleichen Gedanken zurückkomme. Aber wir leben tatsächlich in Zeitumständen, dass nur noch Heilige etwas erreichen können. Der Teufel ist Herr der Zeit und herrscht über die Welt. Sehr, wie der hl. Vater selbst uns täglich nach der Messe zum hl. Erzengel Michael beten lässt. Gott möge den Satan und die anderen bösen Geister, die in der Welt umherschweifen, in den Abgrund der Hölle stürzen. Wir wollen uns also nichts weismachen. Die Aktivität des Teufels ist stärker denn je. Der Minister de Fallieres scheut sich nicht, offen zu verkünden, er werde vor nichts zurückschrecken, Kirche und Staat zu trennen. Man weiß, was das in seinem Mund bedeutet. Nie mehr werden sie das Militärgesetz, dass Kleriker Waffendienst leisten müssen, nie mehr das Schulgesetz, d.h. Schule ohne Religionsunterricht abschaffen. Die menschliche Vernunft wollen sie von allen Banden und jeder Unterwerfung befreien. Darum wollen wir umso mehr unseren Verstand und unseren Willen vorbehaltlos und liebend unter das Joch Gottes beugen. Der liebe Gott muss sich unser bedienen können, so wie der Teufel über diesen Minister und seine Helfershelfer verfügt. Jeder gebe sich darum ganz seinen Pflichten hin und möge auf jene Punkte achthaben, in denen wir gehorchen sollen. Unsere Ämter wollen wir mit Demut und Schlichtheit versehen.
Seien wir sehr zurückhaltend in unseren Reden. Sprechen wir nicht über Politik und lesen wir keine Zeitungen. Wenn ich hin und wieder darüber ein Wort sagen, so geschieht es nicht, um Politik zu betreiben, sondern um euch zu bestärken gegen das Böse, das uns verschlingen möchte. Diskretion also, Vorsicht und Schicklichkeit in euren Unterhaltungen! Vermeidet jede Unhöflichkeit, alle Grobheiten und alles, was dem Ordensstand widerspricht. Meidet die Neugier und kümmert euch nicht um alles Mögliche.
Die Oberin der Oblatinnen und ich (Anm.: „als Oberer der Oblaten“) haben den Schwestern verboten, über Oblaten je etwas anderes als Erbauliches zu sagen. Ich wünsche, dass ihr ihnen gegenüber in gleicher Weise verfahrt. Den Schwestern willen wir jene Ehrfurcht entgegenbringen, die jeder wohlerzogene Mann den Frauen erweist. Ich empfehle den Oberen der verschiedenen Häuser auf diesen Punkt wohl zu achten und Zuwiderhandelnden strenge Bußen aufzuerlegen. Es sind vielleicht nur Dummejungenstreiche, Unüberlegtheiten und ein Sichgehenlassen – umso strenger müssen wir dagegen vorgehen. Ich lege allen diese Diskretion ans Herz… Welche Klugheit verrät doch diese Weisung! Sie hält alles von uns fern, was Gedanken und Sitten verdirbt. Das ist echte Erziehung. Das vereinigt uns mit Gott. Und darin bestehe unsere Fastenabtötung. Dann sind wir würdig, in der Nähe Gottes zu weilen. Der Teufel wird von uns weichen und Engel werden kommen, uns zu trösten und mit Mut und hl. Eifer zu erfüllen. D.s.b.
