Kapitelvorträge für die Oblaten 1873-1899

      

Kapitel vom 12.11.1890: Das große Mittel der Heiligung

Wir stehen am Ende unseres Kommentares zu den Satzungen. Gern will ich noch ein weiteres Kapitel anfügen, damit jeder dieselbe Lebens- und Heiligungsweise annehme. Ich messe dem eine ganz große Bedeutung zu. Dafür spricht – von den vielen übernatürlichen Motiven abgesehen – noch ein ganz materieller Grund.

Welcher Umstand hat die Juden vor dem Untergang bewahrt und worin liegt die Stärke der türkischen Nation begründet? Die Türken existieren heute noch, weil sie Fatalisten sind. Sie glauben, dass Gott alles vorausgesehen hat und dass darum alles, was eintrifft, gar nicht anders geschehen kann.

Das Dogma von der göttlichen Vorsehung wenden sie also ganz falsch an. Aber dieser Fatalismus hat ihnen ihre ungewöhnliche Vitalität erhalten, hat die türkischen Soldaten unbesieglich gemacht. Die Juden dagegen haben eine andere Lehre. Sie vertrauen auf ihre Vorfahren, auf ihre von Gott unmittelbar geoffenbarte Religion, und dieser Glaube, dieses Vertrauen auf Gottes Wort verleiht ihnen diese Stärke, und macht sie zu dieser zählebigen Nation, selbst nach der Verwerfung durch Gott. P. Lacordaire hat einmal gesagt: Die Juden sind eine Nation aus Granit. Auch wir Oblaten haben in unserer Lehre etwas, was uns große Kraft verleihen kann, nämlich: erstens, dass wir jeden Augenblick mit dem Willen Gottes verbunden sind, zweitens, dass wir in dieser Vereinigung mit dem göttlichen Willen das Mittel für unsere Heiligung haben und drittens, dass wir darin das Mittel besitzen, die uns übertragenen Werke zu einem guten Ende zu führen. In jedem einzelnen Akt unseres Tagewerkes müssen wir also dahin gelangen, dem Willen Gottes gemäß zu handeln, und zwar aus Liebe zu eben diesem Willen. „Weil du, mein Gott, es so gewollt hast, will ich es auch.“

Auf diese Weise vermeiden wir alle Entmutigung, und den rein menschlichen Erwägungen gelingt es dann nicht, unsere Absichten für sich in Beschlag zu legen. Für uns selbst werden wir darin das große Mittel unserer Heiligung finden: „Dein Wille geschehe.“ Dies ist ein viel stärkeres Mittel, um Gott anzuhangen als bloßes Beten oder sogar als die Betrachtung. Es ist der sicherste und leichteste Weg. So findet man in jeder Zufälligkeit unseres inneren wie äußeren Lebens, in jeder Seelsorgearbeit eine unvergleichliche Kraft: Mit Freuden werdet ihr aus den Quellen des Erlösers schöpfen.

„In jeder Lage habe ich einen Erlöser“, pflegte die Gute Mutter zu sagen. „Jetzt fehlt mir etwas. Er wird dafür aufkommen und Abhilfe schaffen. So bleibt die Seele beständig in Frieden und Gleichmut. Nie vermag der Sturm der Versuchung den Seelengrund zu erschüttern, er erregt höchstens ihre Oberfläche. Dieser Seelenzustand, dieser Friede ist nicht dasselbe wie Gleichgültigkeit, nicht dasselbe wie mangelndes Mitgefühl für Mitmenschen. Ganz im Gegenteil: es ist ein Leben, das fern aller Finsternis ganz in Licht getaucht ist, in dem sich klar erkennen lässt, was man ist und was man tut. Man belässt Gott an seinem Platz und bleibt selbst, wo man hingehört.

Da sind z.B. schwierige Kinder, mit denen in der Schule nichts anzufangen ist. Sie arbeiten nicht und haben einen schlechten Geist. Das ist gewiss recht bedauerlich. Gehen wir aber von der Wirklichkeit des Satzes aus: Aus nichts wird nichts. Geht also von der eindeutigen Gegebenheit aus: Wir haben es mit faulen und bösartigen Schülern zu tun. Da dem so ist und ihr nichts dafür könnt, so nehmt es einfach hin, weil Gott es so zugelassen hat, und macht euch frisch an die Arbeit. Auf diese Weise zieht ihr auf euch selbst wie auf eure Schutzbefohlenen größte Gnaden herab. Wenn überhaupt etwas zu erreichen ist, dann allein durch dieses Mittel. Werdet ihr damit stets Erfolg haben? Sicher nicht. Ihr könnt gewiss die Ordnung der Vorsehung nicht ändern. Auf jeden Fall aber habt ihr diesem schwierigen Schüler jedes erdenkliche Gute erwiesen. – Oder es wird euch eine Sache übertragen, die euch viel Verlegenheit und Verdruss bereitet. Zunächst einmal, lasst euch durch nichts von der Arbeit abschrecken. Bevor man sät, muss man pflügen und das Ackerfeld von Steinen säubern. Die Schwierigkeit ist nun einmal da – nehmt die Sachlage als gegeben hin. Gebraucht jetzt das Mittel des Gehorsams und bringt euren Willen in Einklang mit dem Willen Gottes. Er hat in seiner Vorsehung alles vorausgeschaut, nichts geschieht also ohne seinen ausdrücklichen Willen oder seine Zulassung. Richtet euch danach und nehmt es hin!

Auf diese Weise wird euch große Kraft zuteil. Die Gute Mutter sagt: „Wenn alles um euch herum zusammenstürzt, vertraut einzig und allein auf Gott!“ Das ist das besondere Kennzeichen, das die Oblaten ihrem Wollen aufprägen sollen: dein Willen geschehe! Das Einswerden und Verschmelzen mit dem Willen Gottes wird dann zum großen Mittel unserer Heiligung und Vervollkommnung.

Ich wiederhole: Schon im menschlich-natürlichen Bereich ist das Mittel, zu etwas zu kommen. Wer einen beständigen und festen Willen hat, kommt immer ans Ziel. Er verliert nicht schon beim ersten Zwischenfall, bei der ersten Schwierigkeit den Mut. Der Mutlose gelangt nie ans Ziel. Wenn ihr eine Seele dahin bringt, sich eng mit dem Willen Gottes zu verbinden – das sind im Allgemeinen keine Durchschnittsmenschen – bei zehn oder zwanzig Gelegenheiten ihres Tagewerkes diese Verbindung zu erneuern, hat sie dann nicht ebenso viele Akte vollkommener Liebe vollbracht? Ihr wisst selbst, was ein Akt vollkommener Liebe für ein Gewicht hat.

Unser lieber Herr ist Mensch geworden und hat unter uns gewohnt, ist also einer von unser geworden. Er wohnt im Sakrament der hl. Eucharistie – und zwar ohne Unterbrechung – in unserer Mitte, als Beschützer und Führer, der ständig zu unserer Verfügung steht. Wir nehmen also alles in seiner Gesellschaft und aus seiner Hand entgegen und ziehen Nutzen aus allem, was uns begegnet.

Dieses Kapitel, meine Freunde, ist von äußerster Wichtigkeit für euch. Es ist die Quintessenz unserer ganzen Regel und aller Satzungen. Ist man alt geworden und hat viele Erfahrungen gesammelt, so weiß man, dass drei Viertel unseres Lebens in einem völlig nutzlosen Kampf gegen Schwierigkeiten vergeudet werden. Hätten wir die Schwierigkeiten so hingenommen, wie Gott sie uns zugedacht hat, so hätten wir den größten Nutzen und Gewinn daraus gezogen.

Wir hätten die Kräfte und Fähigkeiten unserer Seele vermehrt gefestigt, wogegen unser unablässiger Kampf (gegen Schwierigkeiten) uns sehr teuer zu stehen kommt, uns entkräftet und vieler Verdienste vor Gott beraubt.

Noch einmal: diese Seelenhaltung (unseren Willen im Willen Gottes aufgehen zu lassen) macht uns keineswegs indifferent, geistig, träge und matt. Im Gegenteil, gerade darin gründet unsere Kraft unsere Hochherzigkeit. Es bedarf zweifellos viel größerer Energie, während 24 Stunden ununterbrochen auf Wache zu stehen als dies nur zwei Stunden lang zu tun. Wenn wir in unablässiger Übereinstimmung mit dem Willen Gottes leben, stehen wir gleichsam unser ganzes Leben auf der Wache.

Das ist tiefe Lebensweisheit, die uns die Gute Mutter da vermittelt: Ich halte mich so eng wie möglich an alles, was Gott sagt und tut. Denn dann wird gleichsam die Kraft des Riesen Antäus mein Anteil, der immer, wenn er die Erde, seine Mutter, berührte, neue Kräfte schöpfte. Wenn wir den lieben Gott in jedem Vorfall berühren, finden auch wir in dieser Berührung mit seinem Willen Kraft, Friede, Ruhe des Geistes und Herzens.

D.s.b.