Kapitel vom 05.11.1890: Die Verpflichtungen gegenüber den Satzungen
Beobachtung der Satzungen im Allgemeinen: „Die erste Pflicht, die alle anderen in sich schließt, ist die Treue zu den Verpflichtungen, die sie bei der Gelübdeablegung übernommen haben.“
Das Versprechen, das wir bei der Profess abgelegt haben, verpflichtet uns nicht nur bei unserer Ehre, sondern im Gewissen. Gelübde binden: man kann ihnen nicht ohne Sünde zuwiderhandeln. Die Verletzung entspränge einem tadelnswerten und schuldbaren Verhalten. Geschieht es gar aus Verachtung der Satzungen, so ist das ein irreligiöser und schwer schuldhafter Akt. Erfolgt es aus Nachlässigkeit, denn liegt immer eine gewisse Schuld vor. Jeder gute Ordensmann lässt es sich etwas kosten, um eine gute Observanz bemüht zu sein, weil er nur so seinem Daseinszweck entspricht und Ordensmann genannt zu werden verdient. Ansonsten wäre er ein unnützer, ja, gefährlicher Mensch.
„Alle werden deshalb die Satzungen hoch in Ehren halten und als Ausdruck des göttlichen Willens ansehen. Sie werden sich hüten, sie jemals untereinander oder gar vor Fremden herabzusetzen oder zu benörgeln.“
Ohne Zweifel hegt ein guter Ordensmann große Hochachtung vor seiner Ordensregel. Seht nur, wie die Jesuiten zu allen Zeiten und an allen Orten und vor allen Menschen ihre Ordensregel als etwas Hochheiliges und Unverletzliches, als das Beste vom Besten ansehen. Es entspringt das ihrer innersten Überzeugung, von der sie dann auch vor anderen Zeugnis ablegen. In jeder achtbaren Familie ehrt jedes Mitglied seine eigene Familie. Erinnert euch an das Wort des hl. Franz v. Sales, dass jedes Kind seine eigene Mutter allen anderen Müttern vorzieht, weil sie eben seine Mutter ist. Diese Liebe ist berechtigt und völlig in Ordnung.
Wie können wir nun diese Liebe zu unserer Kongregation bezeugen? Nun, die beweiskräftige Art und Weise, dies zu tun, ist die Treue zu den Satzungen und die religiöse Beobachtung des Direktoriums. Damit bescheinigen wir unsere Liebe und Anhänglichkeit am eindrucksvollsten und heiligen uns obendrein. Wir lieben dann unser Institut, wenn wir seine Verpflichtungen erfüllen. Anderenfalls würde es uns ja mehr und mehr fremd werden. Man liebt immer das, was man gern und gut tut. Würde ein Ordensmann sich über seine Ordensregel abfällig äußern, so verdiene er sicherlich Tadel. Bewiese er damit doch, dass er schwächlich der Versuchung nachgegeben hat. Vergäße er sich aber so weit, selbst vor Fremden Kritik an seiner Ordensregel zu üben, so würde er den Eindruck eines erbarmungswürdigen Ordensmannes machen.
„Die Satzungen verpflichten an sich nicht unter Sünde. Jedoch ist ihre Übertretung, sofern sie nach außen in Erscheinung tritt, ein Disziplinarfehler, der seiner Natur nach eine Zurechtweisung nach sich ziehen kann.“
Das wird jedermann verstehen. Das Stillschweigen brechen, das Zimmer eines anderen betreten, um sich zu unterhalten, ist an sich noch keine Sünde. Was es zu einer solchen macht, ist die innere Gesinnung, der diese Handlung entspringt: Stolz, Trägheit, Ungehorsam. Und weil das Gehorsamsgelübde ja unter Sünde verpflichtet, haben wir einen Fehler begangen. Eine Gelegenheit zur Sünde schließt noch keine Sünde ein. Insofern sie aber unmittelbarer Anlass zur Sünde wird, liegt in ihrem Aufsuchen selber schon eine Sünde. Im Ordensleben haben die verbotenen Dinge für sich genommen noch nicht den Charakter einer Verfehlung. Wären wir nicht Ordensleute, so wären die meisten Dinge erlaubt. Doch das Motiv, aus dem der Regelverstoß erfolgt, macht in der Praxis meist eine Sünde daraus, die wir dann am besten beichten.
Nur der darf sich einen echten Christen nennen, der alle Christenpflichten erfüllt. Die Ordenspflichten lassen sich aber mit Christenpflichten vergleichen, insofern sie dieselben erweitern und vervollständigen. Ein vom Stamm gelöster Zweig kann weder Leben noch Kraft in sich tragen. So kann ein Ordensmann nur dann Tugend besitzen, wenn sein Wille in Harmonie mit seiner Ordensregel steht.
Alle Handlungen des klösterlichen Alltags, die an sich nicht unter Sünde verpflichten, tragen etwas in sich, dessen Vernachlässigung eine Sünde darstellt. Ich gebrauche einen Vergleich: ein Buchstabe hat für sich allein genommen keinen Sinngehalt und keine Folgen. Steht der betreffende Buchstabe aber in einem Aufsatz am richtigen Fleck, so bekommt er einen Sinn und darf nicht fehlen, wenn der Zusammenhang nicht durch einen Druckfehler leiden und zum Unsinn werden soll. So darf keine Einzelhandlung unsere Gottverbundenheit unterbrechen.
Geht also immer im Verein mit dem lieben Gott und im Einklang mit eurer Pflicht voran und arbeitet nie zugunsten eures eigenen Kontos. Treibt Theologie nur im Interesse der anderen. Für sie wendet die Grundsätze des hl. Alfons von Ligouri und die Gesetze des Probabilismus an! Für euren eigenen Gebrauch hingegen schützt euch nicht auf allzu theologischen Schlussfolgerungen. Wer das tut, hat für gewöhnlich einen verkehrten Geist, der leicht in Irrtum geführt wird. Ihr habt eure Ordensregel: haltet sie mit ganzem Herzen. Die einzige Gotteswissenschaft, die ihr anwenden sollt, laute: Ich bin der Herr, dein Gott. Mich allein sollst du anbeten und lieben! Man macht in der Seelsorge die Erfahrung, dass die Menschen, die gern diskutieren und ihr theologisches Wissen auf ihr Inneres anwenden, zu nichts Gutem kommen.
Und die praktische Nutzanwendung: Nehmen wir unsere Regel und unsere Satzungen ernst und halten wir uns eng an sie, so wie sie sind. Fürchten wir mehr, gegen die Regel zu verstoßen, als eine Sünde zu begehen… Ich sage euch heute vielleicht komische Dinge, aber sie sind dennoch wahr: Eine Lüge ist eine Lüge. Man verdemütigt sich, klagt sich darüber im Beichtstuhl an und erhält die Lossprechung. Ein Verstoß gegen die hl. Regel ist schlimmer als eine Sünde, die Gott uns nachlässt. Denn ein Regelverstoß, im Ernst und gewohnheitsmäßig begangen, verzeiht euch Gott nicht. Vergesst also nicht, euch darüber anzuklagen und legt euch selbst eine Buße auf, da solche Verstöße ernstere Folgen haben als Sünden. Behandeln wir uns also in aller Ehrlichkeit, so wie wir es verdienen. Ich will das Jerusalem meiner Seele mit der Lampe bis in den letzten Winkel hinein ableuchten.
Ich bin heute Morgen streng gegen euch, weil ich bemerke, dass jeder, in welcher Lage und Stellung er auch sein mag, nichts Gutes leistet, wenn er nicht gegen sich und gegen Gott restlos ehrlich verfährt. Wenn man aber mit Gott diskutiert, ob das Begangene etwa eine Sünde war oder vielleicht doch keine richtige, kann man nichts Gutes erwarten. Stehen wir also zu den Satzungen in der Einfachheit und Einfalt unseres Herzens ohne Abstriche, ganz so, wie sie sind.
Was uns außerdem ermuntern kann, sie treu zu halten und uns eng an unsere Kongregation anzuschließen, ist die allgemeine Überzeugung derer, die mit uns in Verbindung stehen und die das Leben der Guten Mutter (von Brisson selbst verfasst!) lesen. Ich erhalte ständig höchst aufschlussreiche Zeugnisse dieses hl. Verlangens vieler, im Geist der Guten Mutter zu wandeln, uns Oblaten kennen zu lernen und unsere Lehre zur ihrigen zu machen. Lassen wir in uns also Gottes Gabe nicht verderben. Lassen wir das Licht des hl. Geistes nicht erlöschen!
D.s.b.
