Kapitelvorträge für die Oblaten 1873-1899

      

Kapitel vom 25.06.1890: Die Bruderliebe

„Man hüte sich vor dem leisesten Angriff auf den guten Ruf der Oblaten, besonders der Oberen.“

Wir dürfen uns nicht gegenseitig zerreißen. Unter gut erzogenen Kindern sagt keines etwas Schlechtes über seine Geschwister. Auch wir wollen nie Nachteiliges über Mitbrüder, ja nicht einmal über Weltleute sprechen. Manchen scheint dies wie angeboren, andere eignen sich diese Tugend nur um den Preis großer Anstrengungen an. Ihr Verdienst wird dadurch nur umso größer. Erkennen wir aber ruhig an, dass eine angeborene Klugheit und Diskretion von unschätzbarem Wert im Leben ist.

Diese kluge Zurückhaltung ist das große Mittel, in einer Ordensgemeinde Frieden und Liebe zu erhalten. Seht nur, wie beliebt die Gute Mutter bei allen Menschen war. Auch Bischof Mermillod besitzt diese Gabe. Er ist von äußerster Liebenswürdigkeit gegen jedermann, gütig und dienstbereit gegen alle seine Freunde. Nie ergreift er Partei des einen gegen den anderen.

Ich erinnere mich, wie skandalisiert ich einmal war, als ein sehr origineller Ordensmann vor mir über seinen alten Novizenmeister Übles redete. „Wie“, fragte er mich, „der und der Pater weilt in Troyes? Dem war ich immer gram. Er ist ein brutaler Mensch. Er packte und schüttelte mich und stieß zu. Von ihm habe ich kein gutes Andenken bewahrt. Darum suche ich ihn auch nicht auf.“ Zur Entschuldigung des Novizenmeisters kann ich sagen, dass dieser Ordensmann ein großes Original war und gewiss einige Rüffel verdiente. Sogar ich bin ihm böse, weil er ein Buch über die Ablegung der Rechenschaft in Ordensgemeinschaften geschrieben hat. Jetzt ist er gestorben. Er besaß großes Ansehen bei seinen Mitbrüdern. Im Übrigen könnt ihr die Erfahrung machen: ein Mann mit guten Fähigkeiten und obendrein mit einigen verkehrten Ideen behaftet, wird immer einen starken Einfluss auf andere ausüben.

Hat man ein gesundes Urteil, so wird man nie zu einem Sektierer. Ahmen wir also nie dieses Original nach. Im Übrigen wäre ein Oblate, der auf seinen Novizenmeister böse wäre, ein merkwürdiger Zeitgenosse. Er müsste schon mehr Glück als Verstand haben, wenn er nicht beizeiten aus dem Haus gewiesen würde. Darum wird man gut daran tun, „dieses Dokument für spätere Zeiten aufzubewahren“, wie unser Stifter sich ausdrücken würde, um in der Zukunft davon zu profitieren. Gar nicht nötig, dass wir füreinander schwärmen, einander übermäßig loben oder uns selber herausstreichen. Loben wir, was zu loben ist, und überschätzen wir nichts und niemanden. Der liebe Gott hat alles nach Maß und Gewicht geordnet. Er hat alle mit seinem Maßband, Meterstab, und Elle geschätzt. Messen wir also sogar seinen eigenen Orden ein bisschen zu viel, do kann man sich leicht ein strenges Urteil zuziehen. Man wird dann von uns sagen: Den darf man nicht sehr ernst nehmen, er nimmt es mit der Wahrheit nicht recht genau.

Wahren wir immer eine gewisse Würde. Wir bleiben auch schön an unserem Platze und halten da tapfer aus. Klagen und Sich-Beschweren ist Sklavenart: er muss tun, was ihm nicht passt, denn er entbehrt der Freiheit. Denkt an das Wort des hl. Bernhard: „Zu Beginn meines Ordenslebens habe ich alle Dornen zu Füßen des Kreuzes aufgelesen. Daraus habe ich einen Strauß geflochten, ihn umarme und küsse ich und drücke ihn an mein Herz, zugleich mit dem Kreuz meines Herrn. Ihm will ich die Treue halten und ihn nie verlassen.“

Machen wir es alle in Etwa so wie er. Er litt an einer Magenentzündung. Der Bischof von Châlons-sur-Marne, Wilhelm von Champeaux, der ihn geweiht hatte, gab ihm den Befehl, den Weisungen eines Arztes zu folgen, dem er ihn anvertraut hatte. Dieser Arzt pflegte ihn aber ganz verkehrt. Brauchte der hl. Bernhard Nahrung, so gab er ihm statt etwas Essbarem Pillen zu schlucken. Eines Tages besuchte ihn der Abt von Montieramey und fand ihn erschöpft und traurig in seiner Zelle. „Sie sagen ja gar nichts, wie geht es denn?“ fragte  er ihn. Da konnte sich der Heilige nicht enthalten, tief zu seufzen: „Bisher habe ich Menschen Befehle erteilt, jetzt muss ich einer Bestie gehorchen“, war seine Antwort.

Hütet euch also vor dem Murren. Das gehört zu unseren geistlichen Bußübungen. Es ist eine Gnade, die uns Gott anbietet. Legt diese Abtötung wie einen Blumenstrauß zusammen mit eurem Professkreuz auf euer Herz.

„Man vermeide jede Nörgelei und jeden Tadel über das, was in der Genossenschaft geschieht, und beachte diese Vorschrift auch anderen religiösen Gemeinschaften gegenüber.“

Wir enthalten uns allen kritischen Äußerungen über jene, die einen anderen Geist und eine von der unseren verschiedene Denk- und Handlungsweise haben. Vielleicht taten wir diesbezüglich am Anfang etwas unrecht, indem wir uns gegen all die Steine wehrten, die man uns in den Garten warf. Jetzt, wo wir größer geworden sind, wollen wir nicht mehr klagen. Unsere Verhältnisse haben sich ansehnlich entwickelt und wir werden von allen akzeptiert. Gewiss ist es nicht verwehrt, zu fühlen und zu denken, was man will. Nur sollten wir das für uns behalten.

„Man kümmere sich nicht neugierig um die Verwaltung des Hauses und spreche nicht miteinander darüber. Auch rede man nicht über Nahrung, Kleidung und Schlafstätte.“

In jeder ernstzunehmenden Verwaltung muss man sich vernünftigerweise so verhalten. Ordensleute sind Ordensleute: sie retten ihre Seelen durch Gehorsam. Gibt ein Oberer schlechte Befehle, was verschlägt’s schon? Blicken wir höher, der liebe Gott regiert und leitet doch alles. Wir sind recht unwichtig mit unseren menschlichen Urteilen und Ansichten. Gott durchschaut die Dinge ganz anders, vertrauen wir uns ihm an. Verachten wir das Geschwätz der Krämerseelen…
Es entspricht viel mehr unserer Würde, uns nicht in Dinge zu mischen, die nicht zu unserer Kompetenz gehören, anstatt uns darin einzulassen, um dann lediglich zu sagen: Hier stimmt etwas nicht. Der liebe Gott wird immer auf unserer Seite stehen, wen  wir uns treu an diesen Artikel halten. Er schickt uns aufgrund des Gehorsams so viel Kraft und Hilfe, dass für menschliche Raffinesse kein Platz bleibt. Lassen wir nur eines unsere Sorge sein: gut den Gehorsam üben. „Wenn ihr Richtern ausgeliefert werdet, sorget nicht, was ihr antworten sollt“, sagt der Heiland, „der liebe Gott wird euch selbst die Worte in den Mund legen, denen niemand widerstehen kann.“ Dasselbe gilt vom Gehorsam. Geht uns beim Essen oder Nachtlager etwas ab, dann sagen wir es dem Ökonom. Aber sprechen wir nicht darüber unter uns. Wendet euch immer an den, der mit der Sache beauftragt ist, damit eure Beziehungen untereinander von all dem unberührt bleiben. Viele Frauenorden sind auf diese Weise untergegangen, und nicht wenige Männerorden dazu, vor allem während der Französischen Revolution.

„Aufregende Fragen der Politik, Auseinandersetzungen über die verschiedenen Völker und Stämme sollen vermieden werden.“

Zeitungen lesen wir keine. In jedem Haus genügt es, wenn der Obere über die wichtigeren Fragen Bescheid weiß. Doch hole auch er sein Wissen nicht aus einem scharf ausgeprägten Blatt. Je unscheinbarer die Zeitung, umso besser. Wie leicht wird man doch Sklave seines Leibblattes. Unsere Sendungsaufgabe liegt himmelhoch über diesen Dingen.
Das soll nicht heißen, was in der Welt geschieht, solle uns gleichgültig sein, oder wir dürften das Schlechte wie das Gute nicht beim rechten Namen nennen. Wir sollten uns lediglich davor hüten, was man „politisieren“ nennt. Am Anfang seines Pontifikates von Papst Leo XIII. war man in Rom über die Journalisten, auch über die guten unter ihnen, verärgert, weil sie gar so sehr polemisierten. Gute Zeitungen sind notwendig. Wir aber, die wir nicht einmal gute Zeitungen lesen sollen, geben uns noch weniger mit schlechten ab.

Unsere Philosophie ist die Allmacht Gottes. Das hindert nicht, dass wir in kluger Weise Anteil nehmen an allem, was gut ist und uns vom Schlechten fernhalten. Ganz ohne Zweifel herrscht im Augenblick die Macht der Finsternis. Die Freimaurerei schreibt gegenwärtig allen das Gesetz des Handelns vor, sie regiert die Welt. Und das Hauptprinzip dieses Gesetzes gleicht dem der Juden vor Pilatus: Wir haben ein Gesetz, dass jeder, der sich zum Sohn Gottes erklärt, sterben muss. Auch heute muss alles verschwinden, was an Gott erinnert.

Bekämpfen wir dieses Übel mit den Waffen, die uns zur Verfügung stehen: mit dem Direktorium, mit dem Gebet, mit einem klugen und weisen Vorgehen. Der liebe Gott wird dann das Seinige nach seinem hl. Willen dazutun. Innerhalb dieser Grenzen wollen wir uns halten. Damit gewinnen wir den Frieden für uns wie für die anderen.

Ständig gehen mir Briefe zu, die von der Macht der Guten Mutter zeugen. Selten vergeht ein Tag, ohne dass mir solches begegnet, ohne dass mir von dieser oder jener Gnade berichtet wird, die auf ihre Fürbitte erfolgte. Das Vertrauen zu ihr nimmt ständig zu. Tun wir also wie sie alle es tun oder besser noch: mehr als alle, und empfehlen wir uns ihr von ganzem Herzen.

D.s.b.