Kapitel vom 18.06.1890: Verhaltensregeln innerhalb der klösterlichen Gemeinschaft
Das Verhalten zu den Mitbrüdern: „Das Stillschweigen wird stets beobachtet, ausgenommen während der Erholungszeit.“
Ein Ordensmann ist ohne Stillschweigen nicht denkbar. Das Stillschweigen ist die Seele des Ordenslebens. Eine Inschrift, die ich über dem Tor der Großen Kartause las, besagt, dass dieser Orden seinen ersten Eifer mit Hilfe von drei Mitteln bewahrt hat: mit Hilfe der Einsamkeit, des Schweigens, und der Besuche, d.h. der Besuche des Oberen in den einzelnen Zellen, damit nichts Regelwidriges dort einreiße. So bedurften die Kartäuser nie einer Reform. Sie leben heute wie zu Zeiten des hl. Bruno, haben denselben Habit, dieselbe Regel, denselben Geist.
Das Schweigen schützt die Seele wie ein Wall, vermehrt die Ehrfurcht vor sich wie vor den anderen, und macht hellhörig auf die Stimme Gottes in uns. Schweigen verlangt auch der hl. Ort, die Kirche, damit man das Wort Gottes höre und seine Gegenwart ehre. Diese Ehrfurcht und Aufmerksamkeit ist überall angezeigt, wo Gott ist und wo er spricht. Alle Geisteslehrer haben wunderschöne Gedanken über das Stillschweigen und jene Abtötung der Zunge geäußert, die die Andacht erhält und die Sammlung begünstigt.
„Wenn es eines Dienstes wegen nötig ist, ein Wort zu sagen, wird man es kurz und leise tun, besonders in der Kirche, in der Sakristei, im Schlafsaal und im Speisesaal.“
Diese Ausnahmen vom Gebot des Schweigens soll man nicht über das unbedingt notwendige Maß hinaus ausdehnen. Und auch dann spreche man nur kurz und leise, wie es unser hl. Gründer wünscht, um die Sammlung der anderen nicht zu stören. Halten wir uns stets innerhalb der hier aufgezeigten Grenzen, besonders in der Kirche. Auch in der Sakristei darf man nur das unumgänglich Notwendige sagen, und nur leise. Die Kirche verbietet ausdrücklich, dass man sich in der Sakristei der Unterhaltung hingibt. Unsere hl. Regel dehnt diese Vorschrift auch auf das Refektorium aus, das für uns ein regulärer Ort ist. Ihr könnt folgende Beobachtung machen: haltet aus religiösen Motiven das Stillschweigen im Speisesaal, und ihr werdet staunen, wie viele Gnaden der liebe Gott euch an diesem Ort schenken wird. Ebenso im Schlafsaal, wenn ihr auch dort das Stillschweigen haltet. Gott erweist sich ungemein freigebig an beiden Orten, wenn er sieht, dass ein Ordensmann nicht gedankenlos, sondern aus echter Sammlung schweigt.
Das soll überall und in all unseren Häusern beachtet werden, in Foicy, im „Kleinen Kolleg“ und allerorten. Auch im „Kommunitätszimmer“ möge man schweigen. Dieser Artikel des Stillschweigens ist so entscheidend, dass man ohne es überhaupt kein Ordensmann wäre.
Ich erinnere mich, einmal die Beichte eines Sterbenden gehört zu haben, der über achtzig Jahre alt war und vor der französischen Revolution Novize gewesen war. Er hatte sein ganzes Noviziat zu Ende führen können, aber mit welchem Erfolg! Vermutlich ohne jeden Ernst, denn ich traf nie einen Menschen, der so wenig von Gott, von den einfachsten Geboten der Moral und Ehrbarkeit wusste wie er. Er mag kein schlechter Mensch gewesen sein, aber von seinem Ordensleben hatte er auch nicht den leisesten Schimmer im Gedächtnis behalten. Und warum wohl? Sicher hatte er sich nicht durch Treue in den keinen Vorschriften der Regel, im Stillschweigen im Schlafsaal und Speisesaal ausgezeichnet. Hätte er das getan, wäre ihm sicher ein Rest von moralischem und religiösen Sinn haften geblieben.
Geben wir also gut acht. Nicht gedankenlos wollen wir den Schlafsaal, das Refektorium und die anderen regulären Orte betreten. Ich bestehe darauf: dort warten große Gnaden auf uns.
„Bei der Erholung vermeide man zu lautes und zänkisches Reden, woran Mitbrüder oder Fremde Anstoß nehmen könnten!“
Vermeiden wir den autoritären und scharfen Ton. Er ist nicht nur in der Gesellschaft verpönt, sondern überhaupt im eigenen Kreise und vor allem vor Fremden heißt es also, sich zu beobachten. Bleiben wir selbst in unserem Gehen im Hause oder im Zimmer Ordensleute und meiden wir jeden Lärm. Damit erbauen wir unsere Mitbrüder. Der Lärm vertreibt die guten Engel, sagen die Geisteslehrer. Das äußere Schweigen wird zur Quelle innerer Sammlung und lädt die anderen zur Nachahmung ein.
Ihr wisst, was unser hl. Stifter der Schwester Simpliziana geantwortet hat auf ihre Frage, wie er sich als Heimsuchungsschwester benehmen würde. „Ich wäre dermaßen achtsam, die kleinen und unscheinbaren Gebräuche zu befolgen, dass ich dadurch das Herz des lieben Gottes für mich einnehmen würde… Ich würde treu das Stillschweigen beobachten… würde recht leise sprechen… würde Türen sachte öffnen und schließen, weil unsere Würdige Mutter das so wünscht. Meine Blicke würde ich nicht überall umherschweifen lassen und selbst in meinem Gehen würde ich keinen Lärm verursachen, weil Gott und seine hl. Engel uns allezeit schauen und jene lieben, die alles recht gut machen…“
„Scherze, Wortspiele und Unterhaltungen, die die Liebe verletzen könnten, sind zu unterlassen…Gewöhnlich sollen nicht weniger als drei beisammen sein.“
Das heißt also, wir sollen nicht zu zweit sein und uns nicht von der Gemeinschaft absondern. Das entspräche nicht dem klösterlichen Geist. Hüten wir uns davor, unter allen Mitbrüdern einen Partikularfreund zu haben, dem wir all unsere Empfindungen, Freuden und Leiden anvertrauen. Gewiss ist nichts dagegen einzuwenden, einen Mitbruder lieber zu haben als einen anderen und ihm mehr zu vertrauen. Doch sollte unser Zusammensein nicht häufig sein, damit die Liebe nicht darunter leide. Sonderfreundschaften, bei denen man sich selber sucht, sind verwerflich. Unser Herz soll weit und umfassend bleiben. Deine Vorliebe für diesen oder jenen darf also nie auf Kosten der allgemeinen Bruderliebe gehen.
„Jeder trage durch erbauliche Gespräche und freundliches Benehmen zur Erholung bei.“
Die Liebe muss darauf bedacht sein, angenehm und gefällig zu wirken. Die Unterhaltung während der Rekreation sollte Entspannung bringen, nicht aber neue Belastung. Jeder hat das Recht auf Erholung. Unsere Satzungen verbieten verletzende Scherze. Gegen ein kleines, spaßiges Wort, das dem nicht weh tut, auf den es gemünzt ist, kann man nichts einwenden. Sobald es der andere aber ernst nimmt, und er sich ärgert, heißt es gleich abbrechen. Wir dürfen grundsätzlich niemand verletzen, weder durch Scherze über seine natürlichen Gebrechen noch über sonst etwas.
„Man darf also nichts sagen, was die anderen beleidigen könnte, soll sich aber auch selbst nicht durch ihre Worte und Handlungen verletzt zeigen.“
Wenn wir spüren, dass uns etwas kränkt, suchen wir dieses Gefühl zu überwinden, machen gute Miene zum bösen Spiel, schlucken den Brocken herunter, den der liebe Gott uns da reicht und lassen uns nicht anmerken, was uns erregt hat.
„Ihrem Widerwillen oder ihren Schwierigkeiten in der Übung der hl. Regel oder bezüglich der Leitung werden sie nie Ausdruck geben.“
Unsere eigenen Gefühle würden sich sonst auch den anderen mitteilen und wir würden ihnen das Übel weitergeben, das uns im eigenen Herzen brennt. Das wäre ein sicheres Mittel, den lieben Gott zu vertreiben und jeder Gnade des Berufes verlustig gehen.
„Es besteht strenge Schweigepflicht auch untereinander über alles, was im Kapitel gesagt wird und was die Oberen anordnen, wenn es sich nicht um erbauliche Dinge handelt.“
Ich höre, dass im Noviziat eine merkwürdige Art, über andere zu urteilen, einreißt: Man schwätzt über alles Mögliche, man weist diesem hier seinen Platz zu, dem anderen dort. Man diskutiert, ordnet, teilt Rollen zu… Ich muss gestehen, diese Manieren missfallen mir im höchsten Grade und müssen der ganzen Gemeinde zuwider sein… Man könnte als Entschuldigung höchstens zu Felde führen: man würde nicht so viel Eifer aufwenden, empfände man nicht ein bisschen Lust und Liebe für seine Sache. Das erinnert stark an die Gepflogenheit schlechter Seminaristen, wenn der Augenblick der Priesterweihe herannaht. Diese Art steht im genauen Widerspruch zum Geist, der uns beseelen sollte.
Lasst alten Weibern das Tratschen über Dinge, mit denen wir nicht beauftragt wurden. Das müsste tief unter eurer Würde sein. Auf diese Weise geht der Ordensgeist verloren und die moralische Würde, ohne die ein Ordensmann nicht sein kann.
„Jedes Murren gegen die Mitbrüder und besonders gegen die Oberen ist untersagt.“
Man macht sich keine Vorstellung, welch schlechten Eindruck murrende Ordensleute auf die Weltleute machen. Es erscheint ihnen wie eine Ungeheuerlichkeit. Passiert es uns aber selbst, einen Ordensmann über jemanden aus seiner Kommunität klagen zu hören, so haben wir von ihm unwillkürlich einen negativen Eindruck. Man möchte seiner Eigenliebe damit eine kleine Befriedigung verschaffen, eine kleine Rache nehmen, sich für einen kleinen Verdruss schadlos halten. All das ist erbärmlich und zieht üble Folgen nach sich.
Was uns Oblaten bei anderen so beliebt und geachtet macht, ist gerade der Umstand, dass uns derlei Schwatzereien und Klatschereien unbekannt sind. Oblaten sind nicht Menschen mit fixen oder schrulligen Ideen, sie hängen vielmehr mit Leib und Seele an ihrer Ordensgemeinde und treten da, wo sie hinkommen, nicht herrisch auf. So ziehen sie sich das Vertrauen aller zu und wirken sehr viel Gutes. In der Zeit, in der wir leben, scheint sich alles aufzulösen und aus den Fugen zu geraten. Alle schauen sich erst prüfend an, bevor sie sich anreden. Wenn wir gütig, einfach und gerade sind, wenn wir suchen, die Seelen nicht zu beherrschen, sondern sie anleiten, den lieben Gott zu suchen und auf ihn einzugehen, dann gewinnen wir das Vertrauen aller. Darum verlangt man überall nach Oblaten. Wären wir zweihundert Oblaten in dieser Stunde – morgen Früh schon hätte ich fast alle untergebracht.
Unsere Art vorzugehen, weckt überall das Verlangen nach uns. Bemühen wir uns, auf der Höhe unseres Berufs zu stehen, dann enttäuschen wir nicht die Erwartungen. Andernfalls – wozu wären wir schon nütze? Wir glichen einem Paket in goldenem Packpapier: der Inhalt wäre den schönen Umschlag nicht wert.
D.s.b.
